Lektüren: Andreas Kley, »Pandemie und exekutive Selbstbemächtigung«

Der Staatsrechtler Andreas Kley schreibt über das Problem der bundesrätlichen Selbstermächtigung
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Andreas Kley in der NZZ vom 17. Mai 2020: »Es ist einer Erwähnung wert, dass die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ausgerechnet den gefährlichsten Weg eingeschlagen hat. Vielleicht wählt sie die Versuchung, weil sei sich das leisten kann – oder aber sie hat zu wenig darüber nachgedacht.«

Der Zürcher Rechtsprofessor Andreas Kley weist in der NZZ auf drei verschiedene rechtsstaatliche Vorgehensweisen hin, die die Regierungen in der Phase der Pandemie angewendet haben.

Im ersten Modell haben die Staaten den parlamentarischen Normalbetrieb aufrechterhalten. Oftmals wurden aber Sonderregeln der Beschlussfassung erlassen, die Hygienevorschriften und Präventionsmaßnahmen berücksichtigen. Die Parlamente blieben jedoch handlungsfähig. So etwa jene in Deutschland und in Großbritannien.

Im zweiten Modell haben die Parlamente der Exekutive zeitlich befristet umfassende Vollmachten übertragen (Kley nennt das »exekutive Handlungsfähigkeit«). Das gilt für Norwegen, Belgien, Spanien, Frankreich, Österreich und Ungarn. Es ist nicht so, dass zwingend der Parlamentsbetrieb eingestellt beziehungsweise aufgehoben wurde, aber die Legislative hat ein Stück weit sich selbst entmachtet und den Regierungen mehr Handlungsspielraum zugesprochen (Der neue Notstands-Staat).

Das dritte Modell stellt – einmal mehr – der schweizerische Sonderweg dar. Die Frühjahressession im März wurde von den eidgenössischen Räten wegen der Coronakrise überstürzt abgebrochen. Es gab keine parlamentarische Debatte darüber, wie die Regierung in der sich anbahnenden Krise zu agieren und zu handeln habe. Es entstand also quasi ein Entscheidungsloch: Das Parlament konnte und wollte nicht mehr legiferieren, obwohl sie dies müssten, der Bundesrat dürfte das verfassungsmässig eigentlich gar nicht. Und der Begriff Notrecht kommt in der Verfassung nicht vor. Dennoch mussten die Regierung und Verwaltung handlungsfähig bleiben. Also hat der Bundesrat sich sozusagen selbst ermächtigt, so zu handeln, wie er es für richtig hält. Es gab also keine staatsrechtliche, aber eine politische Begründung, die verfassungsrechtlichen und formellen Gegenargumente nicht so stark zu gewichten. Statt auf das nicht-existierende Notrecht wurde vom Bundesrat und der Verwaltung auf die sogenannten Verordnungen zurückgegriffen. Gestützt auf das Epidemiengesetz, in dem steht, dass der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen kann, hat er die Initiative übernommen. Seither erlässt der Bundesrat diese Maßnahmen über Not- oder Covid-Verordnungen, ohne dass das Parlament mitreden könnte. Diese Notverordnungen ändern Bundesgesetze ab und starten sozial- und wirtschaftspolitische Programme, wie sie sonst nur von der Bundesversammlung abgesegnet werden können. Sie mimen eine rechtliche Grundlage. Letztlich war es aber die Bundesversammlung selbst, die es ermöglicht hat, sich selbst zu suspendieren und damit auch »eine Austrittstür im Verfassungsgebäude« herauszubrechen. Die Exekutive sah sich dazu gedrängt, dieses Loch mit einer Selbstermächtigungsklausel zu füllen und hat damit eine neue Welt betreten, in der »zwar immer noch eine Ordnung (herrscht), aber es ist keine Rechtordnung mehr.«

Kley bewertet diesen Vorgang kritisch, auch wenn er sieht, dass die Schweiz noch weit davon entfernt ist von dem, wohin solche Vorgänge führen könnten, nämlich in Anarchie und Despotie. Für die politische Ideenentwicklung sei der Schweizer Weg hinsichtlich Freiheitsbegriff und Demokratie aber bedenklich. Das Parlament hat es sich aber selbst zuzuschreiben, dass es auf die Mitsprache bei den Beratungs- und Entscheidungsverfahren verzichtet hat. Es ist nun Aufgabe der Legislative, rechtliche Instrumente für künftige Notlagen zu entwickeln. »Es ist einer Erwähnung wert, dass die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ausgerechnet den gefährlichsten Weg eingeschlagen hat. Vielleicht wählt sie die Versuchung, weil sei sich das leisten kann – oder aber sie hat zu wenig darüber nachgedacht.« (Düstere Absichten)

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)