Lektüren: Hans-Ulrich Gumbrecht, »Der neue Notstands-Staat«

Hans-Ulrich Gumbrecht schreibt über den Staat im Ausnahmezustand.
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»Jeder Tag des verordneten Stillstands mag also nicht nur ein Tag auf dem Weg der Überwindung der Pandemie, sondern auch ein Tag auf dem Weg zum Ende der Menschheit sein«, sagt Hans-Ulrich Gumbrecht in der NZZ vom 25. März 2020.

In einer eigentümlichen Situation von Unter- und Überversorgung von Informationen (man weiß zu wenig über ein mögliches Ende, aber man informiert sich dennoch am Laufmeter) werden drei Aspekte sehr wenig beachtet:

Erstens fehlen bisher religiös getönte Einlassungen: Obwohl die Wissenschaft noch keine allzu aussagekräftigen Orientierungen liefern kann, genießt sie das Vertrauen breiter Kreise. Es gibt für sie keine Alternative, auch nicht durch die Religion. Zweitens fehlen substanzielle Stellungnahmen von Intellektuellen: Fehlendes Wissen und fehlende Fakten machen es den Intellektuellen schwer, »mit alternativen Versionen und skeptischen Fragen öffentliche Debatten in Gang zu bringen« (Vgl. Rolle der Literatur). Aber drittens ist ein Revival des Staates zu beobachten: Die Leere an Wissen und Orientierung wird durch den Notstands-Staat durch Verordnungen mit Verhaltensvorschriften gefüllt.

Gumbrecht findet das Verhalten der Staaten legitim, in Ausnahmefällen darf die Exekutive die Geschicke für einen bestimmten Zeitraum alleine übernehmen. Gerade die Linken hätten es schon immer begrüsst, wenn der Staat durch sein Handeln Recht schafft. Damit habe aber die »neue politische Konfiguration gewiss nichts zu tun.« Solange noch kein Ende (und nicht nur eine Abschwächung) der Pandemie in Sicht ist, solange soll vermieden werden, dass die Gesundheitssysteme zusammenbrechen. Dabei geht es um die Wahrung des Gleichheitsprinzips, Linke würden sagen Solidarität. Alle Menschen, auch die besonders Betroffenen, sollen geschützt werden.

Gleichwohl hätten Intellektuelle die Aufgabe, auf bedenkenswerte Dinge hinzuweisen. Das Solidaritätsprinzip ist nicht sehr alt. Seit es Bürger-Heere gibt (um 1800), gehörte es zum Konsens einer Gesellschaft, dass ein großer Teil der jungen, männlichen Bevölkerung den Zielen von »Macht und Ehre« geopfert werden. Das ist heute nicht mehr so, was ein Fortschritt ist, die Solidarität zahlt dafür aber einen hohen Preis. Heute geht es darum, Versorgungssicherheit zu bewahren und dafür zu sorgen, dass der Stillstand gewährleistet, dass sich hinterher die Wirtschaft möglichst rasch erholen kann. Hierfür gibt es jedoch keine historischen Belege, ob das wirklich auch gelingen wird. Der Preis des solidarischen Aktes der Aufrechterhaltung des Gleichheitsprinzips, also die ältere Generation zu schützen, ist noch sehr ungewiss. Die Notstands-Regierungen müssen sich hierzu möglichst bald äußern. Gumbrecht fragt, ob die Zukunft der Menschheit oder mindestens der jungen Generation mit dem durchgesetzten Stillstand eventuell aufs Spiel gesetzt wird. »Jeder Tag des verordneten Stillstands mag also nicht nur ein Tag auf dem Weg der Überwindung der Pandemie, sondern auch ein Tag auf dem Weg zum Ende der Menschheit sein.« Sollte die Rechnung für den Notstands-Staat aufgehen, umso besser (Düstere Absichten).

Aber Gumbrecht fragt sich, ob der Notstands-Staat nicht auch andere Bedrohungen ökologischer, demographischer oder wirtschaftlicher Art entschärfen kann, also Klimaerwärmung (Vgl. Wissenschaft im Dienst des Klimas), Bevölkerungszuwachs, wirtschaftliche Depression. Im Umkehrschluss stellt sich sodann die grundsätzliche Frage, ob die Ausrichtung unserer Demokratie auf den Mehrheitswillen den politischen Anforderungen noch genügen kann. »Verantwortungsvolles Regieren wird mehr denn je von der Umsicht und Bereitschaft abhängen, den Mehrheitswillen mit von ihm abweichenden Auskünften der Kompetenz zu konfrontieren.« Ist also der Mehrheitswillen mit den Anforderungen an Kompetenz vereinbar? Wird die Handlungsmacht des Notstands-Staats langfristig nicht mit dem ihm zugesprochenen Vorschuss an Kompetenz gefüllt, bekommt er ein Problem. »Hier liegt ein mögliches Post-Corona-Dilemma, das die Corona-Situation zum ersten Mal sichtbar macht.«

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)