Ukraine, 24. Februar 2022
Ein grauer Schleier hat sich über weite Teile der Erde gelegt – auch über die Schweiz. Diesmal ist es nicht die Vulkanasche des Tambora, diesmal verdüstert ein Krieg die Stimmung. Der Staatschef der Atommacht Russland, ein Multimilliardär, hat mit fragwürdigen Begründungen, verwegenen Geschichtsdeutungen und zynischem Gebaren beschlossen, einen Landkrieg vom Zaun zu brechen. Am 24. Februar 2022 ist die russische Armee von Norden und Osten her in die Ukraine einmarschiert. Ziel war es, den bereits 2014 begonnenen, die Besetzung russisch und russischfreundlicher Truppen von Teilen der Ostukraine und der Krim betreffenden Krieg auf das ganze Land auszudehnen. Es ist hier nicht der Ort, darüber zu berichten, wie der Krieg verläuft. Einerseits ist er noch im Gange und das Resultat ungewiss, andererseits gibt es dafür berufenere Geister. Im Windschatten der vielzitierten Zeitenwende, die nach der unerwarteten Rückkehr von Panzerschlachten und Grabenkämpfen ausgerufen wurde, haben die Diskussionen über die Rolle der Schweizer Neutralität befeuert. Das vorläufige Resultat dieser Auseinandersetzungen lautet: Die Schweiz liefert keinerlei Kriegsmaterial. Auch die Wiederausfuhr von Munition und Waffen, die einst von der Schweiz nach Deutschland exportiert worden sind und nun von dort in die Ukraine verschoben werden sollen, sowie Ringgeschäfte bleiben (vielleicht nur vorerst) untersagt. Eine legalistische Politik hat sich durchgesetzt. Das ist irritierend. Denn mit den gleichen neutralitäts- und kriegsmaterialrechtlichen Grundlagen war es erlaubt, Ersatzteile für Flugabwehrsysteme und Sturmgewehre ins kriegsführende Saudi-Arabien zu liefern. Im Jahre 2016 gab es eine Neuauslegung der Regelung, »wonach das Verbot, Waffen in Staaten zu liefern, die in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind, nur dann gelten soll, wenn im Empfängerland selbst ein interner bewaffneter Konflikt herrscht. Waffenlieferungen etwa nach Saudi-Arabien wurden damit wieder möglich«, schreibt humanrights.ch. In der Ukraine herrscht ein solcher bewaffneter Konflikt, also gilt das Verbot. Aber handelt es sich in der Ukraine um einen internen Konflikt? Nein. Und: Ist diese Fokussierung der Neutralitätspolitik auf Waffenlieferungen und die entsprechende Kriegsmaterialverordnung noch adäquat? Auch für Organisationen wie humanrights.ch und andere stellt sich die Frage, ob eine Erweiterung des Horizonts bei der Beurteilung der Neutralität im gegenwärtigen Ukrainekrieg nicht angezeigt ist.
In den laufenden Diskussionen geht es nicht zuletzt um das Selbstverständnis des Landes. Das Schweizerische Kriegsmaterialrecht basiert auf dem Haager Abkommen von 1907. Damals galt das Kriegeführen noch als legitimes Instrument internationaler Interessendurchsetzung. Erst mit dem Briand-Kellogg-Pakt 1928, der zuerst von elf Nationen unterzeichnet wurde, wurde der Krieg als Mittel der Politik- und Rechtsdurchsetzung geächtet. 1945 wurde mit der Charta der Vereinten Nationen der Einsatz von Gewalt völkerrechtlich geregelt. Ein Angriffskrieg, wie ihn Russland gegen die Ukraine führt, verstösst gegen Artikel 2 der UN-Charta. Und gemäß Artikel 51 wird der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen. Es ist also unbestreitbar, dass die kriegsrechtlichen Grundlagen seit 1907 sich stark verändert haben; ebenso die geopolitische Situation (beispielsweise war Europa 1907 ein multipolares Gebilde). Es fragt sich, ob der Rückbezug auf das Haager Abkommen bei der Beurteilung der aktuellen Lage noch angemessen ist. Das heißt, es fragt sich, ob die Auslegung der Neutralität den Dynamiken der historischen Entwicklungen nicht Rechnung tragen muss.
Das geltende Neutralitätsrecht besagt, dass kein Kriegsmaterial an Krieg führende Staaten verkauft werden darf, und es gibt vor, dass alle Kriegsparteien gleich zu behandeln sind. Nach dieser Logik darf die Ukraine nicht mit Waffen beliefert werden. Diese Weigerung zur Hilfe bedeutet, dass die Schweiz nicht willens und nicht fähig ist, sich für einen angegriffenen und gefährdeten Staat einzusetzen. Wenn der zaubertrankgedopte Obelix gegen den schmächtigen, römischen Legionär kämpft und beide gleichbehandelt werden – also beide nichts bekommen –, ist der Sieger mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersehbar. Neutral könnte aber auch bedeuten, dass die Kontrahenten gleichviel Zaubertrank intus haben dürfen. Oder in liberaler Diktion: die Spieße gleich lang sind. Die Schweiz hat – trotz internationalem Druck – frei entschieden, dass die Spieße ungleich lang bleiben. Neutralitätsrechtlich ist das erlaubt, man kann das gar als sinnvoll erachten, muss aber nicht. Es wird beispielsweise immer schwieriger, sich auf die humanitäre Tradition, für die eine neutrale Haltung als Bedingung erachtet wird, zu berufen.
Politische Ökonomie
Die verweigerte Hilfe für die Ukraine ist neutralitätspolitisch noch in einem anderen Lichte zu betrachten. Denn was bedeutet in einer vielfach vernetzten Welt Gleichbehandlung? Ab wann kann man von gleich langen Spießen sprechen? Bezieht sich Neutralität nur auf Waffenlieferungen? Es geht in diesem Fall nicht nur darum, sich nicht für einen angegriffenen Staat einzusetzen, sondern auch um das nur sehr zögerliche Verhalten, sich gegen den Aggressor zu stellen. Hier betreten wir den weiter gefassten politökonomischen Bereich.
Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte. In den 1930er-Jahren kämpfte die demokratisch gewählte spanische Regierung gegen die franquistischen Putschisten. Aus verschiedenen, mehrheitlich linken Kreisen wurden Stimmen laut, der spanischen Regierung zur Hilfe zu eilen, denn die Putschisten wurden von Italien und Deutschland kräftig mit Kriegsmaterial beliefert. Unzählige Kämpfer, darunter etliche Schriftsteller und auch Schweizer, folgten dem Ruf und griffen aufseiten der Regierung zu den Waffen. Der Schweizer Bundesrat entschied aus neutralitätspolitischen Gründen, die »Ausfuhr aller Kategorien von Waffen, Munition und Kriegsmaterial nach irgendeinem Lande zum Zwecke der Wiederausfuhr nach Spanien« zu untersagen. Der umtriebige Zürcher Anwalt Wladimir Rosenbaum versuchte im Verborgenen, gleichwohl die spanische Regierung zu unterstützen. Er wurde entlarvt und verurteilt. Schweizerische Organisationen aus der Wirtschaft (die damalige Schweizerische Kreditanstalt und die Schweizerische Zentrale für Handelsförderung) gewährten noch vor Ende des Bürgerkriegs im April 1939 den Putschisten eine Anleihe, unterstützte also mit wirtschaftlichen Mitteln eine Kriegspartei. Der Bundesrat schritt nicht ein, ein gerichtliches Verfahren blieb aus. Wer eine Trennung von Wirtschaft (die Akteure der SKA und der Zentrale handelten aus wirtschaftlichen Interessen) und Politik (Rosenbaum handelte aus politischen Interessen) propagiert und damit meint, neutral zu sein, belügt sich selbst.
Die heutige Lage im Ukrainekrieg ist eine andere. Aber gewisse Argumentationsmuster scheinen sich zu wiederholen. Sehr zurückhaltend etwa wird der Handel russischer Rohstoffe reguliert. Es brauchte international durchgesetzte Embargodirektiven, damit in der Schweiz domizilierte Handelsfirmen begonnen haben, sich aus dem Russlandgeschäft mit Öl und Gas zurückzuziehen. Erst ab Oktober 2022 ist der weltweite Anteil des Handels mit Rohöl von nicht-staatlichen Händlern aus der Schweiz von 44 Prozent markant gesunken auf 5 Prozent im Juli 2023 (Quelle: Public Eye). Immerhin konnten die Gewinne eines Kriegsjahres noch mitgenommen werden. Ab Embargobeginn zogen sich die großen Firmen zurück, kleinere, undurchsichtige, kremltreue Unternehmen (vor allem in Dubai) haben übernommen. Die Schweiz tut sich auch schwer damit, wie sie mit den russischen Kohlefirmen verfahren soll, die den Verkauf über Schweizer Ableger (etwa SUEK, SDS, Evraz, Kolmar) abwickeln. Pikanterweise gewährte die untergegangene CS der SUEK noch zwischen 2017 und 2019 145 Mio US-Dollar an Krediten, obwohl ostukrainische Regionen und die Krim schon unter russischer Kontrolle waren (Quelle: Publik Eye). Russland finanziert seinen Krieg unter anderem mit Geld, das aus dem Rohstoffhandel fließt – also auch mit Mitteln aus der Schweiz. Das bedeutet, dass die Schweiz die russische Seite unterstützt. Des weiteren liegen auf Konten verschiedener Finanzinstitute Gelder russischer – und in weit geringerem Ausmaß auch ukrainischer – Staatsbürger. Neutralitätspolitisch ist das eine delikate und umstrittene Angelegenheit.
Der Finanzmarkt ist für die Schweiz seit langer Zeit eminent wichtig. Fast ebenso lange wird über dessen Funktion und Gebaren debattiert. In Erinnerung ist der Streit um die Holocaust-Gelder, die in Schweizer Geldhäusern lagerten. Ein 1,25-Milliarden-Vergleich beendete die Diskussion. Oder der Zank um gigantische Vermögen ausländischer Personen, die auf Schweizer Konten liegen und öfters illegal angehäuft und/oder aus steuerlichen Gründen aus den jeweiligen Heimatstaaten abgezogen worden sind. Die zwei häufigsten Argumente, die diese Praxis rechtfertigen, lauten: Erstens, wenn nicht wir es tun, tun es andere; zweitens, wir schützen das Privateigentum, von wem auch immer. Aus dieser Perspektive ist der Widerwille zu sehen, im gegenwärtigen Krieg konsequent Vermögenswerte von international sanktionierten Russinnen und Russen zu orten und einzufrieren und ebenfalls die Weigerung, an der Taskforce der G7-Staaten zur Ortung russischer Gelder mitzuwirken. Selbst die NZZ schreibt: »Es gibt auch keinen Grund, Oligarchengelder nicht koordiniert und konsequent zu verfolgen. Die Sanktionen gegen Russland haben zum Ziel, Putins Kriegsmaschinerie von den Finanzströmen zu trennen. Wer solche Embargo-Massnahmen übernimmt, sollte diese auch aktiv umsetzen.« Aber es herrscht beim Bund ähnlich wie bei der Neutralitätsdebatte eine legalistische Haltung vor. Argumentationslogisch abenteuerlich ist der Fakt, dass jene Kreise am lautesten das in Schweizer Geldinstituten verwaltete russische Privateigentum schützen wollen, die eine strenge Umsetzung der Neutralität fordern und partout keine Wiederausfuhr- oder Ringgeschäfte bewilligen wollen und gerade damit zulassen, dass nicht beide Seiten gleichwertig behandelt werden. Wie es um die Eigentumsrechte der Ukrainer steht und dass mit dieser Politik die Seite des Angreifers gestärkt wird, spielt hierbei keine Rolle.
Die Neutralität ist im Grunde genommen für einen Kleinstaat eine sympathische und positive Sache, sofern sie pragmatisch und zeitgemäß ausgestaltet ist. Keine Partei zu bevorzugen, ist aus logischen Gründen, die sich aus der zunehmenden internationalen Verflechtung ergeben, kaum möglich. Deshalb ist Nichtstun weder neutral, noch unverdächtig. Das Festhalten am Nichtstun ist also fragwürdig. Auch wegen dieses irreführenden Glaubens tun wir eben häufig nichts. Und das so lange, bis wir dazu gezwungen werden, doch etwas zu tun, siehe Holocaust-Gelder, siehe Bankgeheimnis, siehe Rohstoffembargo, siehe vielleicht doch noch Ringgeschäfte etc. Wenn die Wirklichkeit und die historische Entwicklung verkannt werden, holen sie einen irgendwann ein. Denn im Endeffekt bewirkt das vordergründige Nichtstun, dass wir stets auf der Seite des Stärkeren, des Aggressors, der Steuerhinterzieherin, des Diktators, der Betrügerin, des Privilegierten stehen. Denn diese Klientel profitiert von unserem Nicht-Handeln. Der Wirtschaft hat diese Politik bisher wenig geschadet. Also halten wir an dieser Maxime fest, verkennen dabei aber die politischen Dimensionen. Es ist schließlich auch legal, außerorts mit 80 Kilometern in der Stunde zu rasen, selbst 200 Meter vor einer Haarnadelkurve. Ob es sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Nichtstun heisst ja, den Fuß auf dem Gaspedal gedrückt zu halten, heißt nur stur auf die nächsten 100 Meter der Straße zu schauen und heißt auch, den Courant normal nicht zu unterbrechen. Das etwas altertümliche Sprichwort mit dem Hemd, das einem näher ist als der Rock, scheint sich zu bestätigen. Obwohl wir uns der Sachlage bewusst sind, unternehmen wir nichts. Wir müssen ja nicht. Und wenn die Politik etwas ändern wollte, könnte sie das. Tut sie aber nicht. Und an der Wahlurne halten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit stupender Verlässlichkeit an dieser Haltung fest.
Aber nochmals: wieso stellen wir uns auf die Seite von Kriegstreibern und Privilegierten? Weil wir selber privilegiert sind? Vielleicht. Weil wir nicht vom hohen Ross herab moralisch urteilen sollen, wer was machen darf? Vielleicht. Weil deren Geld uns nützt? Das sicher. Vielleicht aber auch, weil wir uns Fragen nach unserer Erinnerung, nach unserer Haltung und nach unserer Rolle nicht offen und kritisch stellen wollen. Vielleicht weil wir uns an einem Geschichtsverständnis festklammern, das wenig dynamisch ist, da vermutlich die Konsequenzen aus vergangenen Verfehlungen nur ungenügend gezogen worden sind. Vielleicht weil wir Probleme am liebsten wegdiskutieren. Denn die Konfrontation mit den Fakten, denen Taten folgen könnten beziehungsweise sollten, könnte unangenehm sein. Es könnte sein, dass wir erstens einen materiellen Nachteil erleiden und dass zweitens uns das Wissen der Art und Weise, wie wir zu denen geworden sind, die wir sind, nicht so gut gefallen könnte.