Zahlen und Willkür

Was sollen uns die Zahlen sagen wollen? Teil 1
Seit Beginn der Pandemie ist eines der umstrittensten Gebiete das Feld der Zahlen. Ausgerechnet Zahlen, mag man denken, die doch eigentlich als eindeutiger gelten als etwa Worte. Aber auch die Mathematik ist ein weites Feld. Zuerst zwei Beispiele aus der Schweiz: Pietro Vernazza und Konstantin Beck.
Zahlen sind Glücksache. Schweizer Zahlenlotto (ETH-Bibliothek Zürich, Fotograf: Baumann, Heinz)

Seit Beginn der Pandemie ist eines der umstrittensten Gebiete das Feld der Zahlen. Ausgerechnet Zahlen, mag man denken, die doch eigentlich als eindeutiger gelten als etwa Worte. Aber auch die Mathematik ist ein weites Feld. Zum Beispiel nur schon bei der Frage »Wer zählt wie?« gehen die Meinungen auseinander, öffnen sich zuweilen tiefe Abgründe. Oder: Wie zählt man die Übersterblichkeit? Wie wird der R-Wert berechnet? Wie eine epidemiologische Entwicklung? Wie breitet sich eine neue Mutante aus? Exponentielle Entwicklung? Wie flacht man eine Kurve ab? Aber auch: Wie viel kostet die Pandemie? Wie berechne ich ein Menschenleben?

Zahllose Fachdisziplinen, die sich mit dem Coronavirus befassen, gründen auf Berechnungen und Mathematik. Zahllose Expertinnen und Experten beglücken oder verärgern das Publikum mit ihren Kalkulationen. Und wer schon ein Publikum hat, der will dieses auch mit der eigenen Kunst der Zahlenjongliererei betören. Die Nachfrage der Politiker, Lobbyistinnen, Branchenvertreter, Journalistinnen etc. nach vermeintlich harten Fakten, die sich in Zahlen abbilden lassen, ist groß. Das Angebot auch. Meist wählt man jene Offerte, die am besten zur eigenen Überzeugung passt. Und da nicht alle, der hier Schreibende miteingeschlossen, eine besondere Befähigung zur Mathematik mitbringen, stützt man sich auf jene Stimmen, die einem nachvollziehbar und logisch überzeugend einen mathematischen Sachverhalt auseinandersetzen. So konnte doch schon die eine oder andere wissenschaftliche Aussage geprüft oder zumindest angezweifelt oder gutgeheißen werden.

Pietro Vernazza

Im Januar 2021 hat der NZZ-Journalist Fabian Schäfer gleich zwei Artikel über fragwürdige mathematische Herleitungen verfasst. Im Text vom 21. Januar über die Übersterblichkeit nimmt er eine Aussage von Pietro Vernazza unter die Lupe. Der St.-Galler Infektiologe sagte auf medinside.ch, dass bei den über 65-Jährigen nur die nackten Todeszahlen herangezogen würden und nicht berücksichtigt würde, dass die Population dieser Altersgruppe in den letzten Jahren gestiegen sei. Das führe zu einer Verzerrung. Die Mortalität, so Vernazza, war etwa in den Jahren 2013 und 2015 höher als 2020. Er glaube nicht an eine Übersterblichkeit im Coronajahr 2020. »Das ist das, was die Zahlen sagen.« Ein solche Aussage ist Wasser auf die Mühlen der Kritikerinnen und Gegner von harten Maßnahmen. Sie wurde in diesen Kreisen denn auch fleißig weiterverbreitet. Dass die Zählung von Todesfällen tatsächlich problematisch ist, vor allem auch, wenn damit Länder miteinander verglichen werden sollen, ist allgemein anerkannt und breit diskutiert worden. Statistiker haben vorgeschlagen, hierfür die Gesamtheit der Todesfälle als Grundlage zu nehmen und diese auf eine Pro-Kopf-Berechnung herunter zu brechen. Laut dem Bundesamt für Statistik (BfS) sind 2020 insgesamt 75’000 Personen gestorben. Die Sterberate pro 1000 Einwohner beträgt zirka 8,6 (während der Spanischen Grippe waren es 19,3). Bezogen auf die letzten 16 Jahre war die Sterberate 2020 zwischen 5 und 11 Prozent höher, einzig für den Hitzesommer 2003 gibt es einen vergleichbaren Wert. Für der Altersgruppe der über 65-Jährigen, die Vernazza in den Blick nimmt, sehen die Raten nicht fundamental anders aus. In den letzten dreizehn Jahren bewegten sie sich zwischen 1 und 11 Prozent tiefer. Die Sterblichkeit 2020 ist also entgegen der Berechnung von Vernazza tatsächlich höher, aber nicht massiv. Der Journalist fragt bei den Berufsstatistikern nach, warum das so sei. Es gibt zwei rein mathematische Aspekte und zwei weitere Antworten, die sich direkt auf die politischen Entscheidungsprozesse auswirken.

Erstens – so das Amt: Ein heute 70-Jähriger ist beutend fitter als ein 70-Jähriger vor zehn Jahren. Er oder sie leben gesünder und die Lebensbedingungen haben sich verbessert. Die Entwicklung, dass es älteren Leuten heute eher besser geht, wird bei der Berechnung der Übersterblichkeit des BfS berücksichtigt. 2020 geht man davon aus, dass ein großer Teil der über 65-Jährigen markant älter wird als noch vor fünf oder zehn Jahren. Etwas lapidar ausgedrückt: früher starb man jünger. Wenn man die Übersterblichkeit berechnen will, muss man zuerst ermitteln, wie viele Todesfälle zu erwarten sind. Die Differenz mit den erwarteten und den tatsächlichen Todesfällen ergibt die Übersterblichkeit. Anhand von ausgeklügelten mathematischen Methoden und angepasst an die verbesserten Lebensbedingungen wird Jahr für Jahr diese Übersterblichkeit neu berechnet (die entsprechende Methode wurde übrigens international eingeführt). Die reine Sterblichkeit – die höheren nackten Zahlen von Vernazza – kann dabei logischerweise ähnliche, gar höhere Werte aufweisen, es erreichen ja mehr Menschen ein höheres Alter, die Übersterblichkeit kann jedoch stärker differieren. 2020 gab es laut BfS eine solche von 10,9 Prozent, was 7300 Todesopfern entspricht, im Hitzesommer 2003 war sie 2,9 Prozent.

Zweitens: Alle demographischen Verschiebungen werden bei dieser Berechnung fortlaufend einkalkuliert. Auch die erhöhte Lebenserwartung fließt ein. Diese demografische Erkenntnis ist weder spektakulär noch neu. Es sei hier etwa an die Kindersterblichkeit erinnert. Bis weit ins 19. Jahrhundert betrug diese noch 35 Prozent, heute bewegt sie sich im Promillebereich. Das hat die Lebenserwartung gewaltig erhöht.

Drittens, und hier wird es für die politischen Entscheidungsträgerinnen und Pandemiebeobachter relevant: Die zeitliche Verteilung übers Jahr hinweg wird vom BfS genau festgehalten. Während der zweiten Welle ab Mitte Oktober war die Übersterblichkeit bedeutend größer als vorher. Das ist wichtig für die Exekutive, wenn es darum geht, die Spitalkapazitäten nicht zu überstrapazieren. Es mag sein, dass von den Zahlen her übers ganze Jahr gesehen keine Überbelegung in den Intensivabteilungen zu verzeichnen war, aber innerhalb jener drei kritischen Monate ging man bis an die Grenze und regional darüber hinaus (hier geht es ja nicht nur um die reine Bettenkapazität, es braucht auch das einsatzbereite Personal dazu).

Viertens und immer wieder: Das Präventionsparadox. Diese Wahrnehmungsstörung vernebelt den nüchternen Blick auf die Zahlen, offenbar auch auf jene, die das BfS veröffentlicht. Je besser man durch eine Pandemie kommt, desto größer ist die Versuchung, hinterher zu sagen, die Maßnahmen seien überzogen gewesen. Es waren aber ebengerade die Maßnahmen, die das gute Ergebnis bewirkt haben. Besser als Hazel Brugger (auf Twitter) kann man es nicht sagen: »Den Lockdown beenden wollen, weil er funktioniert, ist genauso, wie keine Kondome mehr zu benutzen, weil das Verhüten mit Kondom bis jetzt ja jedes Mal geklappt hat.« Das ist ein Problem des logischen Denkens und bedarf keines Kommentars.

Das Bundesamt schreibt abschließend: »Das BfS versucht, bei der Publikation von Zahlen möglichst neutral zu sein. Wie eine Sache bewertet wird, unterliegt dem gesellschaftlichen Diskurs.« Berücksichtigt man diese nachvollziehbaren Hinweise für die Berechnung der Übersterblichkeit, so war sie 2020 mit 8,6 so groß nie wie seit 1974, als man begann, vergleichbare Werte zu ermitteln.

Konstantin Beck

Das BfS hat berechnet, dass die Übersterblichkeit für 2020, wie bereits erwähnt, insgesamt 7300 Todesfälle umfasst. Diese Zahl wird von einem anderen Kritiker, dem Gesundheitsökonomen Konstantin Beck, in Zweifel gezogen, schreibt Fabian Schäfer am 28. Januar in der NZZ. Auch Beck wird von jenen Kreisen, die die Maßnahmen als unverhältnismäßig erachten und die Gefahren, die vom Virus ausgehen, kleinreden, rege zitiert. Konstantin Beck hat auch schon Ende 2020 mit dem ehemaligen Spitaldirektor Werner Widmer ein Buch veröffentlicht, in dem die bundesrätliche Politik der Eindämmung als übertrieben beurteilt wird und in dem behauptet wird, dass viele an Covid-19 Verstorbene wenig später ohnehin gestorben wären (Vgl. hierzu Deutscher Pathologenverband).

Nun hat Beck ein Video veröffentlicht, in dem er mit viel statistischem Aufwand und Material belegen will, dass die Übersterblichkeit 2020 nur 2800 Todesfälle beträgt. Das BfS hat also laut Beck falsch gerechnet. Bemerkenswert ist, dass Beck sich auf die Zahlen des BfS bezieht, er kommt einfach auf andere Ergebnisse. Ein klassischer Fall für Methodenkritik. Das BfS teilt mit, dass Beck nicht direkt bei ihm nachgefragt und es keinerlei Kontakt gegeben habe. Es bezeichnet auf Anfrage von Fabian Schäfer den Umgang Becks mit ihrem Zahlenmaterial als »nicht adäquat«. Das BfS rechnet seit 2004 mit derselben, international angewandten, komplexen Methode (siehe oben). Beck sagt nun, er habe die ganze Sache vereinfacht. Er fasst mehrere Jahre zusammen, um einen Durchschnittswert zu erhalten. Beck berücksichtigt nicht, ob es in diesen Jahren einen Ausreisser in die eine oder andere Richtung gegeben hat, der zu Verzerrungen führen könnte. Das Raster ist weitmaschiger, darunter leidet die Genauigkeit. Im Volksmund auch Pi mal Handgelenk genannt. Zudem werden bei Beck die Altersgruppen gröber zusammengefasst. Betrachtet man die Resultate von 2010 bis 2019, so sind die Zahlen des BfS präziser, das heißt, die erwarteten Todeszahlen liegen näher an den effektiv gezählten. Beck berechnet in den ersten Jahren bis 2016 eine Übersterblichkeit, gefolgt von Jahren der Untersterblichkeit. Beide Befunde konnte das BfS nicht bestätigen. Vermutlich unterschätzt Becks Modell die Auswirkungen der steigenden Lebenserwartung und der verbesserten Lebensbedingungen für die älteren Menschen, daher resultiert eine Untersterblichkeit in den letzten drei Jahren. Beck sagt, er vertraue eher den einfachen als den komplizierten Modellen.

Im Weiteren will Beck die Todesursachen untersuchen, um die »Opfer der Maßnahmen« bestimmen zu können. Hierzu nimmt er die Todesfälle aus der gesamten Übersterblichkeit und subtrahiert davon die Covid-19-Opfer. Der Wert der Differenz beziffert laut Beck jene, die an den Maßnahmen gestorben sind: Isolation, wirtschaftliche Sorgen, psychischer Stress, fehlende medizinische Versorgung. Nun kommt ihm aber seine eigene Berechnung der Übersterblichkeit dazwischen. Subtrahiert man die Zahl der Covid-19-Opfer von den 2800 Todesopfern, die er errechnet hat, bleibt nichts übrig. Problem erkannt und gehandelt, kann man nur sagen, denn Beck greift nun für die zweite Rechnung doch auf die Übersterblichkeits-Zahlen des BfS zurück. Und siehe da, es tauchen 1500 Todesopfer auf, die sich nicht durch Covid-19 erklären lassen. Das sind dann also die Opfer der staatlichen Einschränkungen.

Darauf hingewiesen, dass er die Berechnungsbasis gewechselt hat, sagt Beck, diesen Fehler habe er erst im Nachhinein bemerkt. Er wolle das in einem weiteren Video berichtigen. Den Coronaskeptikern dürfte das aber wurscht sein. Sie haben die Beweise für ihre Sicht der Dinge, Korrekturen sind unerwünscht. »Das ändert nichts daran, dass sein Film und seine Berechnungen für bare Münzen genommen werden: als wissenschaftlicher Beweis, dass Corona nicht schlimm ist – und der Lockdown aber viel schlimmer«, urteilt Fabian Schäfer.

In einer Sache aber hat Konstantin Beck durchaus recht: Wegen der Einschränkungen kommt es auch, beziehungsweise zusätzlich zu gesundheitlichen Problemen, zu suboptimalen Betreuungssituationen, mitunter zu Todesfällen (beispielsweise, wenn gewisse Therapien oder Operationen nicht mehr durchgeführt werden). Aber das wissen wir schon. Fazit: Becks Zahlen und die angewandten Methoden führen in die Irre.

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Die Erkenntnisse von Backhaus, der Universität Edinburgh, und Küchenhoff wurden in einem Bericht Wissenschaftler kritisieren Stanford-Studie zu Lockdown des Bayerischen Rundfunks 21.1.2021 veröffentlicht.

https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/eci.13554

https://www.mit-bund.de/sites/mit/files/dokumente/mittelstandsmagazin/mit_mittelstandsmagazin_4-2020_internet.pdf

Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)