Richard Neher über neue Mutanten

Unbekannte Unbekannte: Richard Neher äußert sich zu neuen Virus-Varianten.
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»Am meisten Sorgen bereitet mir im Moment jedoch die Möglichkeit, dass es noch mehr Varianten gibt, von denen wir wenig wissen«, sagt Richard Neher in der NZZaS vom 4. April 2021.
Wohin zeigt der Wegweiser?

Der Physiker Richard Neher arbeitet als Professor am Biozentrum der Universität Basel. Er befasst sich mit der Frage, wie Bakterien und Viren sich verändern. Das Ziel dabei ist, besser prognostizieren zu können, wie eine Krankheit verläuft (Vgl. auch Mutanten). In der NZZaS wird er über die neuen Mutationen des SRAS-CoV-2 interviewt. Zuerst wird er nach den zurzeit besorgniserregendsten Varianten B.1.1.7 (neu: Alpha), B.1.351 (neu: Beta) und P.1 (neu: Gamma) gefragt. Alle drei Varianten seien besser übertragbar und wichen teilweise der menschlichen Immunantwort aus. Aber durch die Impfung sei man robust geschützt.

Neher weiter: »Am meisten Sorgen bereitet mir im Moment jedoch die Möglichkeit, dass es noch mehr Varianten gibt, von denen wir wenig wissen… In den letzten Wochen haben wir immer wieder bemerkenswerte neu sequenzierte Varianten gesehen, die aus Gegenden kommen, wo es heute wenig Überwachung gibt… Kollegen aus Südafrika haben vergangene Woche von einer ungewöhnlichen Variante berichtet. Die Sequenzen stammen aus Angola, sie wurden aber bei Menschen, die aus Tansania angereist waren, nachgewiesen… (Diese Variante) hat sich wie auch P.1 oder B.1.351 evolutiv stark weiterentwickelt und besitzt über 30 Mutationen. Es ist zu befürchten, dass auch diese Variante die Fähigkeit aufweist, Teilen der Immunantwort zu entkommen… Es gibt weiße Flecken auf der Landkarte, wo das Virus im großen Stil zirkulierte. Dort können sich Varianten verstecken, von denen wir überhaupt noch nichts wissen… Es ist mehr Diversität da, als die Zirkulation in Europa und Nordamerika suggeriert… Bis jetzt sind es drei (tansanische, a.s.) Sequenzen, und die sind mehr oder weniger identisch… Jetzt muss man die Variante virologisch charakterisieren und auch epidemiologisch untersuchen. Die Frage ist, ob sie das Infektionsgeschehen in Tansania oder in den angrenzenden Ländern dominiert… (Bei P.1) ist die Datenlage bei weitem nicht so gut wie bei B.1.1.7. Es sind gerade zwei Preprints von brasilianischen Forschern erschienen. Sie schätzen, dass P.1 zwischen 40 und 120 Prozent ansteckender ist als der Wildtyp. Die Viruslast scheint höher zu sein. Außerdem wird sie von einer bereits bestehenden Immunantwort weniger gut erkannt. Besorgniserregend ist, dass P.1 in Gegenden von Brasilien zirkuliert, von denen man denkt, dass schon sehr viele Menschen infiziert wurden. Entweder hat man die Seroprävalenz dort überschätzt, das heißt, es waren noch nicht so viele Menschen infiziert. Oder die Variante führt vermehrt zu Reinfektionen… Wir wissen nicht, ob es sich bei den schwer Erkrankten tatsächlich um Wideransteckungen handelt. Ich gehe davon aus, dass Reinfektionen (Osterüberraschung) nicht zu gleich schweren Verläufen führen…«

Die jetzt schwer Erkrankten haben also vermutlich noch keine Infektion hinter sich. Die Frage stellt sich nun, ob in Europa ähnliche Entwicklungen eintreten können wie mit P.1 in Brasilien. Oder gar P.1 schon in Europa zirkuliert.

»In Belgien wurden für diese Variante schon lokale Übertragungen nachgewiesen. Das Land weist eine relativ hohe Durchseuchung auf (hierzu Van Ranst). Wir müssen davon ausgehen, dass es lokale Übertragungen auch in weiteren Ländern Europas schon gibt. Sowohl für P.1 als auch für B.1.351… Der Datensatz auf Gisaid, auf den sich covlineages.org bezieht, gibt Stand 2. April für die Schweiz 27 P.1-Fälle an (das BAG vermeldet 13 Fälle, a.s.) … Die 27 Fälle hängen mit Clustern zusammen, die meisten im Genfer Raum. Das Contact-Tracing für diese Fälle ist sehr wichtig… Ob die Cluster wieder schnell verschwinden oder ob sich die Variante weiter ausbreitet, ist derzeit unklar.«

Soll man nun Flüge aus Brasilien stoppen, fragt die NZZaS. Solange die Quarantänepflicht eingehalten wird, ist das nicht zielführend, so Neher. Aber: »Reisebeschränkungen ergeben sowieso nur dann Sinn, wenn man gewillt ist, im Inland die Zirkulation zu unterbinden. Wenn man selber über 2000 Fälle am Tag hat, dann ist der Reiseeintrag nicht der dominierende Faktor… Wir müssen die Reisetätigkeit mit allen Risikogebieten so klein wie möglich halten. Dabei ist es wichtig, welche weißen Flecken es auf der Quarantäneliste gibt. Was ist mit Ländern, von denen wir relativ wenige Daten haben? Sind sie auf der Liste oder nicht? Ich befürchte, dass wir nur vor allem auf Brasilien schauen, weil dort die Varianten gut überwacht sind… Es gibt viele andere Länder, von denen wir nicht viel wissen, die jedoch auch eine hohe Viruszirkulation und Varianten haben, nach denen nicht aktiv gesucht wird… Wenn die drei (tansanischen) Menschen in die Schweiz eingereist wären, hätte man sie nicht entdeckt. Tansania steht erst ab morgen Montag (5. April 2021) auf der BAG-Liste der Risikoländer.«

Aber derzeit beschäftigt uns vor allem die B.1.1.7-Variante. Britische Studie besagen, dass sie ansteckender ist und sie vermehrt zu schweren Verläufen führt. Die jetzt einsetzende dritte Welle wird gewissermaßen von einem neuen Virus bestimmt (Volker Thiel zur dritten Welle). Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht denn auch von einer neuen Pandemie, die sich nur bedingt mit der bisherigen vergleichen lasse.

Neher hierzu: »Die Hoffnung besteht, dass wir dank der fortschreitenden Impfkampagne weniger Todesfälle sehen werden. Aber viele vulnerable Menschen sind noch nicht geimpft. Zudem kann Covid-19 auch bei jüngeren Altersgruppen zu schweren Verläufen führen, wenn auch seltener. Deswegen müssen wir alles daransetzen, die Fallzahlen herunterzubringen… Allein betrachtet, sagen die Fallzahlen (zwar) nicht viel aus. Die Kombination mit dem R-Wert, der Positivitätsrate und den Hospitalisationen ist entscheidend.«

Die heftigen, endlosen und teilweise gehässig geführten Diskussionen über die Pandemiebekämpfung, die Impfkampagne oder die Nebenwirkungen – etwa des Impfstoffes von AstraZeneca – gehen nicht spurlos an Richard Neher vorbei.

»Es werden viele vergiftete Debatten geführt. Wenn wir es geschafft hätten, die Fallzahlen niedrig zu halten, gäbe es das nicht… Es auf ein Wettrennen zwischen dem Virus und der Impfung ankommen zu lassen, ist aus epidemiologischer Sicht – und auch aus der Perspektive der Evolution des Virus – keine gute Idee… Das Virus muss das Wettrennen nicht notwendigerweise gewinnen. Aber damit setzt man viele Menschen, die durch die Impfung gerade eine Immunantwort aufbauen, dem Virus aus… Wenn man in eine Population reinimpft, in der auch das Virus in hoher Zahl zirkuliert, besteht zumindest die Möglichkeit, dass das Virus sich anpasst und Mutationen findet, die dieser wachsenden Immunantwort im Individuum entgegenwirken und die Impfung möglicherweise weniger wirksam macht. Das ist spekulativ, aber es ist sicherlich ein Aspekt, den man nicht außer acht lassen sollte…«

Jetzt hat die Regierung zu Massentests aufgerufen. Gleichzeitig können alle, die das wollen, monatlich fünf Gratisselbsttests beziehen. Das Risiko, dass bei einem privaten Treffen eine Übertragung stattfindet, verkleinert sich, wenn man sich vorher testet. Das muss aber zeitnah geschehen, so Neher. Ist die Lancierung zu vermehrtem Testen eine erfolgreiche Strategie?
»… man kann Infektionen finden, die unentdeckt bleiben würden. Aber um in der Breite die Transmission zu reduzieren, muss man sehr, sehr, sehr intensiv testen… Man sollte sich nicht vorgaukeln, dass man sich mit Massentests große Lockerungen erkaufen kann.«

Viele Entscheidungsträger und Politikerinnen zeigten sich immer wieder überrascht, wie sich die Pandemie entwickelt, welche Wendungen sie genommen hat. Obwohl die Wissenschaft sehr deutlich vor einer zweiten Welle gewarnt hat, haben das viele nicht hören wollen (Wissen vor der zweiten Welle). Prompt war man miserabel auf die Intensivierung des Infektionsgeschehens im Herbst 2020 vorbereitet. Insofern fussen solche Überraschungsbeteuerungen auf der Weigerung, sich sachgerecht zu informieren – und/oder einem unterentwickelten Vorstellungsvermögen. Oder schlichtweg auf Ignoranz und Verdrängung. Gab es auch für den Wissenschaftler Neher Überraschungen?

Dass es nun doch zu einer dritten Welle kommt, hätte er eher nicht erwartet, jedoch gab es »bei der Spanischen Grippe 1918 auch einen frühen Peak, dann einen großen Herbst-Peak und nochmals einen Frühjahres-Peak. Aber ich hätte doch gehofft, dass es nicht dazu kommt… Wir haben erwartet, dass dieses Virus sich verändert. Dass aber Mutationen im Dutzend kommen, dass es diese gefährlichen Varianten (Vgl. Emma Hodcroft über Mutationen) gibt, die den Verlauf der Pandemie merklich beeinflussen, das hat mich tatsächlich etwas überrascht.«

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Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)