Wissenschaft im Dienst der Gesundheit, Fortsetzung

Wissenschaft und Macht III, Teil 2
Die Schweizer Regierung und die Bundesbehörden, allen voran das BAG, greifen eher zögerlich auf wissenschaftliche Fachkenntnisse zurück. Zuerst berief man sich vor allem auf die angewandten Disziplinen. Die breiter abgestützte Covid-19 Task Force wurde eher widerwillig installiert. Ein Rückblick in mehreren Etappen. Teil 2
»Es ist wie bei der Feuerwehr: Man hat besser zehn Meter zu viel Schlauch als zehn Meter zu wenig.« (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Fotograf: Comet Photo AG, Zürich)
Böser Geist im Spiegel (Tokio Nationalmuseum)

Hier geht’s zu Teil 1

 1. Nachtrag am 30. April 2020: Einwürfe von Markus Gabriel

Der Erkenntnistheoretiker und Philosoph Markus Gabriel gibt am 30. April 2020 ein Interview in der NZZ. Er sagt, dass dieses Virus »reine Wirklichkeit« sei und die Regierungen versuchten zurecht, sich nach den Tatsachen zu richten, denn »endlich hören die Politiker mal auf die Experten. Die populistische Tatsachenbestreitung kommt an ihr Ende.«

Gabriel antwortet auf die Bemerkung, dass sich die kritischen Stimmen zum Notstandsregime mehren: »Mit gutem Grund – dies sage ich, obwohl ich jede Form von Populismus im Grundsatz ablehne. Denn die Pointe hier muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Expertokratie hat nach dem Lockdown zu einer Dynamik des Ausnahmezustands geführt, die ihrerseits in eine Welt reiner epidemiologischer Computersimulation gemündet ist. Mit dem realen Virus ist die Virtualität zurückgekehrt, nur anders: Die Politik orientiert sich an Computersimulationen, während wir alle uns im virtuellen Raum von Zoom und Skype treffen.«

Auf die Frage, ob trotz mangelnder Kenntnisse, fehlender Testkapazitäten und ungenügender Daten überhaupt Maßnahmen ergriffen werden können: »Unser Zusammenleben in Deutschland wird mittlerweile vom Team des Virologen Christian Drosten und vom Robert-Koch-Institut gestaltet. Keiner unserer Politiker kommt derzeit um dieses Fachwissen herum. So paradox es klingen mag: der postmoderne Reflex ist nun in dieser Stunde, in der alle die Objektivität der Wissenschaft beschwören, tatsächlich zur Wirklichkeit geworden. Simulation und Wirklichkeit fallen zusammen…«

Ob er denn Wissenschaftsskeptiker geworden ist: »Es ist de facto genau umgekehrt: Was die Epidemiologen mit bestem Wissen und Gewissen veranstalten, ist Fiktion, also: Modellrechnung. Es gibt das Virus tatsächlich, es ist gefährlich. Seine künftige Ausbreitung wird aber von Modellen berechnet, die ja keine Teleskope für den Blick in die Zukunft, sondern als Modelle eine Art von Fiktionen sind.«

 2. Nachtrag vom 30. Mai 2020: »Die Armee war besser.«

Im Magazin des TA vom 30. Mai 2020 vergleicht Catherine Duttweiler die Reaktionen des Militärs und des BAGs auf die Pandemie. Unter der strengen Regie der Bundeskanzlei und des Vizekanzlers André Simonazzi sind die beiden Behörden organisatorisch, fachlich, politisch aber vor allem auch kommunikationstechnisch gefordert gewesen, die Krise möglichst pannenfrei zu bewältigen. Exemplarisch werden die beiden Verantwortlichen einander gegenübergestellt: Brigadier Raynald Droz für die Armee und Daniel Koch für das BAG. Unter dem Strich, so Duttweiler, haben sich die Militärs sehr professionell verhalten. Sie haben »flexibler, transparenter und offener als die zivilen Behörden« reagiert. Auf die unbekannte Situation haben sie sich gut eingestellt und Droz’ Statements an den Medienkonferenzen sind »akribisch« vorbereitet gewesen. Klar ist nicht immer alles wie am Schnürchen gelaufen, aber man hat auch nicht genau gewusst, was auf das Militär zukommen würde. Auf die Kritik, die Armee habe zu viele Soldaten aufgeboten, sagt Droz: »Es ist wie bei der Feuerwehr: Man hat besser zehn Meter zu viel Schlauch als zehn Meter zu wenig.« Man habe versucht, sich um die Nicht- und Unterbeschäftigen zu kümmern.

In unserem Zusammenhang ist interessant, weshalb das BAG und Daniel Koch im Urteil Duttweilers schlechter abschneidet. Sie blendet zurück auf eine Veranstaltung am 24. Januar 2020 in Grindelwald, an der Virologen und Infektiologinnen zu einem Seminar geladen waren. Isabella Eckerle vom Referenzlabor des Genfer Unispitals referierte aus aktuellem Anlass über das neue Coronavirus. Sie berichtete, dass Covid-19-Krankheitsfälle in Wuhan exponentiell anstiegen und »dass etwas Großes auf uns zukommt«. Es sei höchste Zeit zu handeln. Daniel Koch hätte auch referieren sollen, hatte aber keine Präsentation vorbereitet.

Am 30. Januar sagt Koch an einen Medienkonferenz, es gebe keine Ansteckungen außerhalb Chinas. Das war nachweislich falsch. Erst in der zweiten Februarhälfte sei die Dringlichkeit der Gefahr im BAG langsam angekommen. Gleichwohl reagiert die Behörde in der Öffentlichkeit sehr verhalten. Und noch am 24. Februar vergleicht Koch die Sterblichkeit von Covid-19 mit der saisonalen Grippe. Die Wissenschaftlerinnen werden hellhörig und beginnen Druck zu machen. Auf verschiedenen Kanälen fordern sie flächendeckende Tests. Am 25. Februar 2020 wird der erste Fall in der Schweiz nachgewiesen. Am gleichen Tag reist Bundesrat Alain Berset zu einer Informationsveranstaltung des italienischen Gesundheitsministers. Berset realisiert, dass sich tatsächlich etwas »Größeres« anbahnt, denn die Situation läuft im südlichen Nachbarland aus dem Ruder. Auch die offiziellen Daten aus Italien scheinen nicht mit der Situation übereinzustimmen, sie stellt sich viel dramatischer.

Das BAG intensiviert die Kampagne. Die Kommunikationsmaschinerie wird hochgefahren, mittendrin Daniel Koch und nach der Mobilmachung am 16. März Raynald Droz. Droz verhalte sich offensiv und pariert Kritik stets souverän. Koch hingegen hält sich selten an die Regieanweisungen von Vizebundeskanzler Simonazzi, offenbar überlege er sich erst auf dem Weg zu den Medienterminen, was er sagen wolle. An den Medienkonferenzen, so Duttweiler, »wirke er müde und sorgt mit widersprüchlichen Aussagen für Verwirrung, etwa als er Großeltern plötzlich erlauben will, ihre Enkel zu umarmen, aber nicht zu hüten.«

Mit vielen Wissenschaftlerinnen treffen sich die Behörden erst am 18. März, also zwei Tage nach der Ausrufung der »außerordentlichen Lage«. Für die Experten ist diese Sitzung schon lange überfällig. Die Task Force nimmt die Arbeit Ende März auf. Ihr damaliger Chef Matthias Egger sagt im Magazin: »Wir mussten uns richtiggehend aufdrängen, damit wir vom Bundesrat gehört wurden.« Duttweiler fragt sich, warum der Bundesrat nicht früher das (Universitäts-)wissenschaftliche Wissen angefordert hat. Hat er schon, aber andere als etwa die Medien. Koch habe sich zu Beginn bei den Spezialisten an der Front umgehört, die hätten »keine Zeit, um Studien zu publizieren«. Egger widerspricht dieser Auffassung. Wenn die Wissenschaftlerinnen sich nur für Publikationen und Karriereschritte interessierten, würden sie nicht alles liegen lassen, um in der Task Force mitzuwirken. Wissenschaft und Politik müssten in Zukunft besser harmonieren. In anderen Ländern sei der Austausch intensiver, so Egger weiter.

Zwei kurze Eindrücke zu Duttweilers Artikel:

Erstens: Es scheint hier ein Muster durch, dass Koch und das BAG das Fachwissen in der Praxis und in der angewandten Forschung sucht. Universitäre Forschung wird offenbar als zu weit von der Wirklichkeit entfernt gesehen und nur in zweiter Priorität herangezogen. Koch selbst kommt aus der Praxis. Er studierte Medizin, war Assistenzarzt, arbeitete als medizinischer Koordinator für das IKRK, zuerst in Krisengebieten, dann am Sitz in Genf, und schloss ein Masterstudium in Öffentlicher Gesundheit an der Johns-Hopkins-Universität ab. Seit 2002 war er in verschiedenen Ressorts im BAG (Quelle: wikipedia). Wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht, bezieht sich Koch vor allem auf Überblicksstudien der WHO oder des European Centre of Disease, Prevention and Control (ECDC) und kaum je auf einzelne universitäre Studien.

Zweitens: Offenbar war für die einsetzende Dynamik innerhalb des BAG der Besuch von Alain Berset in Rom von entscheidender Bedeutung. Die Artikelüberschrift könnte auch lauten: Die Reise nach Rom oder Roma, Stazione Termini oder so.

Stazione Termini in Rom, 1956

3. Nachtrag vom 7. und 8. Juni 2020: »Die Vollbremsung« und »Hat Mr. Corona wichtige Informationen ignoriert?«

Diverse Autoren haben in der NZZaS einen Hintergrundartikel verfasst, der die Einschätzung zur Rolle der Wissenschaft auf die Politik in der Schweiz thematisiert. Einen Tag später geht der TA auf die Auseinandersetzung zwischen den Epidemiologen und dem BAG ein. Hier werden die für unseren Zusammenhang relevanten Passagen beider Artikel referiert und mit weiteren Informationen ergänzt.

Am 5. Januar hat die WHO eine »pneumonia of unknown cause – China« gemeldet. Das habe zwei Verhaltensweisen hervorgerufen: die Wissenschaftler, die rechneten und bald warnten, und die Behörden, die am business as usual festhielten. So reiste etwa Nationalratspräsidentin Isabelle Moret am 12. Januar nach Wuhan und anschließend ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen am 17. Januar ans WEF in Davos.

Am WEF verkündet Bundesrat Alain Berset zudem am 22. Januar, dass die Schweiz sehr gut vorbereitet sei. Ebenfalls sein deutscher Amtskollege Jens Spahn verkündet aus Davos in die Fernsehstuben, Deutschland sei sehr gut gegen eine mögliche kritische Lage gewappnet. Am 23. Januar wird Wuhan abgeriegelt. Erst am 29. Januar ist das Virus zum ersten Mal Thema in der Bundesratssitzung. Bundesrat Berset erklärt die bisher getroffenen Maßnahmen des BAG (man sei in Kontakt mit Kantonsärzten, Informationen für Einreisende aus China werden aufgeschaltet, eine Hotline eingerichtet). Der Rat diskutiert über Gesundheitskontrollen in Flughäfen.

Dann sind Bundesrats-Ferien.

Am 30. Januar erscheint die hier schon vorgestellte Studie von Althaus/Riou. Althaus sieht die Gefahr einer Epidemie oder gar einer Pandemie auf uns zukommen. Die WHO erklärt die »gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite«. Althaus meint Anfang Juni 2020, man hätte damals schon eine Task Force installieren sollen.

Althaus kontaktiert Ende Januar 2020 das BAG und bietet Hilfe an. Koch sagt in der NZZaS: »Herr Althaus hat nie versucht, mich zu kontaktieren, und hat nie beim BAG eine Warnung abgegeben.« Gemäß E-Mails, die der NZZaS vorliegen, stimmt diese Aussage nicht. Koch bemängelt an Althaus/Rious Studie die Qualität der Voraussagefähigkeit und unausgereifte Algorithmen. Das BAG setzt bei der Einschätzung der Epidemie auf das Studium von Grippekurven. Und Koch berät sich mit anderen Experten. Einer davon ist der Infektiologe, Spezialist für Handhygiene und WHO-Berater Didier Pittet in Genf. Am 7. Juni 2020 hält Koch gegenüber dem TA zu jener Phase fest: »Auf die forschenden Epidemiologen sind wir zunächst nicht zugegangen, und sie nicht auf uns. Sie bearbeiten ein ganz anderes Feld der Wissenschaft: die öffentliche Gesundheit und die Bewältigung einer Pandemie gehören nicht zu ihren Fachgebieten.« Offensichtlich vertraut das BAG also eher jenen Fachkräften, die auch – wie Didier Pittet – in der Praxis stehen. Koch sagt, sie hätten sich vor allem mit jenen »Organisationen ausgetauscht, mit denen wir schon seit Jahren zusammenarbeiten: vor allem Swissnoso, klinischen Experten der Spitalhygiene, dem Referenzlabor in Genf und klinischen Pädiatern.«

Die NZZaS hegt den Verdacht, dass das BAG den Bundesrat nicht umfassend informiert und wichtige epidemiologische Erkenntnisse dem Gremium nicht kommuniziert habe. In der ersten Februarhälfte passiert nichts Entscheidendes: man diskutiert über Einschränkung im Verkehr mit China, beginnt zaghaft mit Tests. Die Augen der Politiker sind auf die Cryptoaffäre gerichtet. Im Juni 2020 sagt Marcel Salathé, dass es in jener Zeit noch möglich gewesen wäre, sanfter zu bremsen und einen schwächeren Lockdown anzusteuern. Zudem wäre eine Schließung der Grenze zu Italien angezeigt gewesen. Und Althaus fragt sich, ob im BAG die Pressekonferenzen der WHO verfolgt würden, die Organisation hat nämlich gesagt, man solle dieses Zeitfenster nutzen, um Maßnahmen zu ergreifen. Zum Beispiel sich um Tests und Masken bemühen.

Wäre die Krise glimpflicher abgelaufen, wenn man mehr auf die universitäre Forschung gehört hätte? Diese Frage kann nicht eindeutig beantwortet werden, meint die NZZaS. Das Gesundheitswesen ist nicht kollabiert. Und es ist möglich, dass die Modelle der Epidemiologen nicht zutreffen. Das Problem liege aber darin, so die NZZaS, dass vom BAG grundsätzlich die epidemiologischen Erkenntnisse zu wenig beachtet wurden.

Warum hat der Bund dennoch gehandelt?

In Italien gerät die Situation außer Kontrolle. Bersets Reise nach Rom am 25. Februar scheint Spuren hinterlassen zu haben. Der italienische Gesundheitsminister wollte seinen Kollegen aus den Nachbarstaaten und Deutschland zeigen, dass Italien auf die Pandemie gut vorbereitet ist. »Das Treffen gerät zum Desaster«, schreibt die NZZaS. Einer, der dabei gewesen ist, sagt, dass die Lage im südlichen Nachbarland am Explodieren gewesen und die Kontrolle verloren gegangen sei. Und das ist allen so plastisch vor Augen geführt worden, dass es keinen Zweifel mehr gegeben habe. Die Situation war besorgniserregend und wirklich dramatisch. Berset entscheidet noch auf dem Rückflug, auf den Krisenmodus zu schalten. Am selben Abend telefoniert er mit Frankreichs Innenminister, der ihm mitteilt, dass die Regierung die Schulen schließen würde. Zudem wird der erste positive Test in der Schweiz gemeldet.

BAG-Chef Pascal Strupler und Daniel Koch beruhigen derweil die Öffentlichkeit. In einem Interview mit Le Temps sagt BAG-Berater Pittet: »Wir müssen uns daran machen, einige der Elemente des Pandemieplans, den die Schweiz 2018 aktualisiert hat, umzusetzen. Wir sollten nicht überreagieren.« Althaus spricht am 26. Februar in einem Interview mit der NZZ von einem Worst-Case-Szenario, das 30’000 Todesopfer für möglich hält. Dass die Medien sich hinterher vor allem auf dieses Szenario kaprizieren, gehört zum Thema Medien-Dynamik. Es wäre sinnvoll gewesen, nach den anderen Szenarien zu fragen. Diese 30’000 Toten sind nicht mehr aus den Köpfen zu bringen. Zu diesem Szenario sagt der Koch-Vertraute Pittet in Le Temps: »Diese Schätzungen sind zweifelhaft … und basieren auf falschen Annahmen, sie gehen davon aus, dass 30 bis 40% der Schweizer Bevölkerung mit dem Virus infiziert wäre, was nach dem, was wir derzeit in China beobachten, nicht der Fall ist.«

Gleichwohl erhöht Alain Berset das Tempo.

Am 26. Februar orientiert er seine Ratskollegen über seine Reise, am 28. Februar schlägt er dem Rat vor, die »besondere Lage« auszurufen und Veranstaltungen über 1000 Personen zu verbieten. Berset verschafft sich etwas Luft, denn komplizierte Fragen sind noch zu klären. Grenzschließung? Hierzu gibt es politische (Begrenzungsinitiative), organisatorische und gesundheitliche (drohender Pflegepersonalmangel) Gründe, die dagegensprechen. Föderalismus? Das Land ist gelähmt, von den Kantonen hört man nicht viel, im Hintergrund finden aber diverse Sitzungen statt, den alle politischen Entscheidungsträgerinnen müssen in den Prozess einbezogen werden, Krisenstäbe werden gebildet. Auf verschiedenen Ebenen und zu unterschiedlichen Themen wird heftig debattiert.

Am Freitag, den 13. März, werden strengere Maßnahmen beschlossen (Veranstaltungsverbot ab 100 Leuten, Einschränkungen im Gastrobereich, Grenzkontrollen, mögliche Schulschließungen) und erste Hilfspakete für die Wirtschaft vorgestellt. Einen Tag später schließt der Kanton Tessin Restaurants und Geschäfte. Am Sonntag, den 15. März, erklären vier Kantone den Notstand. Der Parlamentsbetrieb wird eingestellt. Österreich und Deutschland schließen die Grenzen. Am Montag, den 16. März, wird die »außerordentliche Lage« mit weiteren strengeren Notverordnungen ausgerufen und eine Teilmobilmachung der Armee beschlossen. Althaus sagt, dass sich bis Ende Februar das Virus auch in der Schweiz ausgebreitet haben werde. Koch meint, Althaus Prognosen seien nicht eingetroffen. Ende Februar nicht, Mitte März aber schon. Die Schweiz meldet am 17. März an einem Tag mehr als 1000 Infizierte. Weiterhin will das BAG auf den Rat der Epidemiologen verzichten. Am Mittwoch, den 18. März, findet jenes erste Treffen zwischen Behörden und Wissenschaftlerinnen statt, auf das hier schon mehrfach eingegangen worden ist, und das Marcel Salathé dazu bewegt, zu urteilen, er habe das Vertrauen in die Politik verloren. Ihm wird mitgeteilt, er solle sich mässigen, sie hätten zwar recht, aber man dürfe nicht zu aggressiv in den Medien auftreten. Salathé verschweigt, wer ihm dies gesagt hat. Auch Althaus äußert sich kritisch.

Am 31. März wird die Task Force doch noch beschlossen.

Fazit: Es kann nicht behauptet werden, das BAG ignoriere grundsätzlich wissenschaftliches Fachwissen. Aber offenbar gibt es unterschiedliche Auffassungen, welche Erkenntnisse das sein sollen. Und es bestehen gewisse Vorbehalte gegenüber der Epidemiologie – oder allgemeiner: gegenüber der theoretischen Forschung an Universitäten. Dass Vertreter der betroffenen Fächer keine Freude haben und dies auch kundtun, ist nachvollziehbar.

Nachspiel

Die Situation zwischen Althaus/Salathé und Koch eskaliert. Am Tage der Veröffentlichung des NZZaS-Artikels am 7. Juni 2020 twittert Salathé im Einverständnis mit Althaus den Brief, den sie am 25. Februar an Bundesrat Alain Berset gesendet haben. Unterschrieben wurde er von Christian Althaus (Bern), Emma Hodcroft (Basel), Richard Neher (Basel) und Marcel Salathé (Lausanne). Sie weisen darauf hin, dass der Vergleich der Sterblichkeit zwischen Covid-19 und der saisonalen Grippe von Daniel Koch vom 24. Februar wissenschaftlich nicht haltbar sei und auch die WHO dies nicht unterstütze. Untersuchungen, obwohl noch unsicher und auf wenig Datenmaterial basierend, gehen von einem höheren Mortalitäts-Wert als 0,1 aus. Schließlich bieten sie ihre fachliche Unterstützung an. Wenn Koch sagt, er wisse nichts von Althaus’ Warnung, könne das nicht stimmen. Oder hat er den Brief nicht gesehen? Das kann man sich kaum vorstellen.

Fazit: Offenbar liegt auch atmosphärisch zwischen den Epidemiologen und Daniel Koch einiges im Argen.

 Schluss

April 2021: Unterdessen sitzen im BAG an ein paar entscheidenden Stellen neue Leute am Steuer. Als Medienkonsument und ohne Einblick in die Innereien des Gesundheitsamts zu haben, gewinnt man den Eindruck, das Amt handle vorsichtig und defensiv. Forsches Agieren ist nicht angezeigt. Grobe Fehler sollen vermieden werden. Offenbar gilt die Devise, es sei sicherer, es nicht schlecht zu machen, als das Risiko einzugehen, es gut zu machen. Nach wie vor ist an Medienkonferenzen ein häufig geäußerter Satz: »Man beobachtet die Situation.« Noch immer steht auf der BAG-Webseite, eine Übertragung durch Aerosole komme nicht sehr häufig vor, obwohl die wissenschaftliche Forschung das Gegenteil bewiesen hat. Der Wunderwuzzi-Textbaustein-Satz von der Beobachtung der Situation widerspricht Alain Bersets Aussage an der Verkündigung der »außerordentlichen Lage« am 16. März 2020: »Es ist keine Option, zu sagen, wir machen nichts und wir schauen, was passiert, und am Ende werden wir schauen, wo wir sind. Das können wir nicht verantworten.«

Allerdings möchte man nicht die Rollen tauschen.

Die Task Force forscht und kommuniziert. Ihre Modellrechnungen und Voraussagen bewahrheiten sich in der Regel (z.B. bezüglich der Ausbreitung der Variante B.1.1.7). Die Bevölkerung hat allen Grund, Vertrauen in die Wissenschaft zu haben.

Die Regierung nimmt die Forschungsberichte mal genauer, mal weniger genau zur Kenntnis. Die unterschiedlichen Lobbys weibeln. Zuweilen stützen sie sich auf falsifizierte oder substanziell kritisierte Untersuchungen ab (z.B. auf Studien von John Ioannidis oder Bernd Raffelhüschen). Egal, Hauptsache es nützt.

Business as usual in Politik und Verwaltung.

Auch das Virus setzt auf business as usual und mutiert. Es wird nicht groß daran gehindert.

Der Ausgang ist ungewiss.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)