Wissenschaft im Dienst der Gesundheit

Wissenschaft und Macht III, Teil 1
Die Schweizer Regierung und die Bundesbehörden, allen voran das BAG, greifen eher zögerlich auf wissenschaftliche Fachkenntnisse zurück. Zuerst berief man sich vor allem auf die angewandten Disziplinen. Die breiter abgestützte Covid-19 Task Force wurde eher widerwillig installiert. Ein Rückblick in mehreren Etappen. Teil 1
Brandbekämpfung in Zürich, 1962 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Fotograf: Comet Photo AG, Zürich)

Vorbemerkung: Der »Wissenschaftsbarometer Schweiz« misst das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft. Die Daten werden vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit der Universität Münster erhoben. Gemäß der Barometer-Ausgabe vom 16. Dezember 2020 sagte 67 Prozent der Bevölkerung, sie bringe der Wissenschaft ein »hohes« beziehungsweise ein »sehr hohes« Vertrauen entgegen. Dieser Wert ist in der Zeit der Pandemie um fast zehn Prozent gestiegen. Eine Mehrheit der Befragten erachtet es zudem als wichtig und richtig, dass innerhalb der Wissenschaft die Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden müssen. Dieser Kommunikationsprozess helfe, dass sich jene relevanten Erkenntnisse durchsetzen würden, die in die politischen Entscheidungsprozesse einfließen sollen. Etwa ein Drittel der Befragten findet, die Wissenschaftler würden unverständlich kommunizieren. Nur eine Minderheit von 27 Prozent ist der Ansicht, dass die Corona-Pandemie zu einer größeren Sache gemacht wird, als sie wirklich ist. 21 Prozent der Befragten sind der Ansicht, die Behörden würden übertreiben.

Wenn nur die öffentliche und veröffentlichte Diskussion über die Rolle der Wissenschaft zur Beurteilung herangezogen würde, könnte man glauben, sie genieße nur wenig Ansehen und Vertrauen. Stichwort: Maulkorb für Wissenschaftler, den tatsächlich eine Handvoll Parlamentarier gefordert hat. Gemach, gemach will man den Diskutanten zurufen. Offensichtlich schleicht sich in die Debatte viel Hyperventiliertes ein und man neigt dazu, der Lautstärke der Schlechtredner zu viel Gewicht beizumessen.

Das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft scheint also auf soliden Füssen zu stehen. Wie sieht jedoch jenes der Politik zur Forschung aus? Aufgrund von Recherchen, die in verschiedenen Zeitungen und Magazinen (z.B. NZZ, Das Magazin u.a.) erschienen sind, kann ein Verhältnis zwischen den beiden Bereichen nachgezeichnet werden, das nicht immer konfliktfrei funktioniert. Diese brüchige Beziehung hat sich bis weit ins Jahr 2021 nicht wesentlich verändert. Blicken wir zurück zu den Anfängen der Corona-Krise.    

Zum Stand im März 2020

Zuerst ein kurzer Blick ins nahe Ausland: In Deutschland spielt die Wissenschaft eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung in der Politik. Hier zahlt sich aus, dass die Bundeskanzlerin von Haus Naturwissenschaftlerin ist und gerne faktenbasiert argumentiert  Zitat Merkel . Beispielsweise sitzt der Virologe Christian Drosten als eine der wichtigen Stimmen der Expertinnen regelmäßig mit Regierungsvertretern in offiziellen Pressekonferenzen. Zahlen und Daten kommen direkt von den Forschern und nicht – wie in der Schweiz – vermittelt durch eine Behörde. Die Vorschläge der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, werden von den Politikerinnen und Politikern von links bis rechts (aber nicht ganz rechts) schon fast gebetsmühlenartig wiedergegeben, auch wenn kritisiert wird, dass die Substanz der Vorschläge stark variiere. Im Fokus stehen Fachkräfte wie Melanie Brinkmann, Sandra Ciesek, Lothar H. Wieler, Alexander Kekulé und der streitbare Hendrik Streeck. Sie äußern sich auch in zahlreichen Medien.

Die Maßnahmen werden vorerst diskussionslos umgesetzt und die medizinische Kompetenz wird dankbar rezipiert. Bisweilen hat man den Eindruck, die Wissenschaftlerinnen haben die Vorschläge so eingängig und klar erläutert, damit die Politiker davon entbunden werden, nicht selbst die komplizierten Sachverhalte nachvollziehen geschweige erklären zu müssen. Und die Beschreibung der Hygienemaßnahmen erfordern keine besonderen geistigen Sonderleistungen. Manchmal beschleicht einem das Gefühl, dass die Politikerinnen hinter den fachrelevanten Argumenten ihre eigene Ratlosigkeit und Verantwortung verstecken können. Dennoch scheint in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Bereitschaft, den Empfehlungen der Expertinnen zu folgen, ziemlich groß zu sein. Zumindest war das in der Anfangsphase so. Und wenn es besonders dringlich ausgedrückt werden muss, wird, wie das Emmanuel Macron getan hat, mit etwas Kriegsrhetorik nachgewürzt.

Helvetische Zurückhaltung: In der Schweiz sind gewisse Wissenschaftler von der Politik nicht gerade mit offenen Armen empfangen worden. Dafür gibt’s seitens der Forschung zuerst Kritik an der Politik und an der Verwaltung, sie habe zu zögerlich reagiert. Gleichwohl scheinen sich die Gewichte hinsichtlich der Rolle der Wissenschaft etwas verschoben zu haben. Spätestens seit der Gründung der »Swiss National Covid-19 Science Task Force« Ende März werden die Wissenschaftler und Forscherinnen offiziell von höchster Stelle in den politischen Beratungsprozess einbezogen. Der Task Force wurden unter anderem folgende Aufgaben erteilt: »Beratung von Politik und Behörden, um die politischen Behörden und Entscheidungsträger bei der Entscheidungsfindung im Kontext von Covid-19 wissenschaftlich zu unterstützen… Identifizierung von Forschungsthemen, bei denen die Schweizer Wissenschaft rasch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis und zur Bekämpfung von Covid-19 leisten kann…«

Christian Althaus publiziert Ende Januar 2020 zusammen mit Julian Riou eine Untersuchung, die Muster nachzeichnet, wie die Mensch-zu-Mensch-Ansteckung in Wuhan ausgesehen haben könnte. Ref. Die Autoren versuchen zu eruieren, nach welchem Szenario die Ausbreitung erfolgt: Ob sich das neue Virus wie SARS-CoV verhält, also wenige Infizierte viele Personen anstecken und deshalb die Fälle gut zurückverfolgt werden können, oder ob sich das neue Coronavirus wie eine pandemische Influenza verhält, dass also viele Angesteckte das Virus an die anderen Menschen übertragen und die Krankheit sich schnell ausbreitet. Althaus/Riou geben zu bedenken, dass die Lage sich schlagartig verschlimmert, sollten Fälle außerhalb von China festgestellt werden. Eine effiziente Nachverfolgung sei dann auch beim ersten Szenario kaum mehr möglich. Die Berechnungen von Althaus/Riou deuteten eher auf das SARS-CoV-Szenario hin. Die ersten Infektionen außerhalb von China werden Ende Januar nachgewiesen und man ist zu jener Zeit gerade daran, die Fährte des Virus zu verlieren. Die zu vermeidende gefährliche Situation ist also eingetreten, es braucht nicht viele Angesteckte, um einen Flächenbrand zu entfachen. Die Alarmglocken schrillen bei den beiden Forschern. Althaus nimmt Kontakt mit dem BAG auf, aber seiner Meinung nach passiert seitens der Behörden zu wenig. Der damalige verantwortliche BAG-Beauftragte Daniel Koch hat an einer Medienkonferenz am 30. Januar 2020 offensichtlich nicht einmal gewusst, dass das Virus sich schon auf den Weg durch die Welt gemacht hat, obwohl dies die WHO gemeldet hat. Auch andere Fachkräfte klagen über Versäumnisse in den Behörden und in der politischen Entscheidungsfindung sowie über die getroffenen Maßnahmen in der Schweiz. Die Reaktion im Bundesamt ist abwartend und man weist dort gleichzeitig darauf hin, es sei äußerst schwierig, genaue Vorhersagen zu machen.

Mit dem Epidemiologen Marcel Salathé von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) tritt ein zweiter früher Warner auf den Plan. Salathé gehört einem Typ – oder einer Generation? – Forscher an, der den Weg an die Öffentlichkeit nicht scheut und hierfür sämtliche Medien nutzt. Er kritisiert, dass das BAG viel zu langsam handle, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht wahrnehme oder falsch interpretiere und erst noch mit den falschen Maßnahmen reagiere (das propagierte Contact Tracing sei zwar sinnvoll, aber erst müsse die Fallzahl wieder sinken). Am 19. März 2020 erscheint in Swiss Medical Weekly ein Artikel Ref. , über dem die Namen praktisch aller jüngst bekannt gewordenen Fachkräfte stehen: Marcel Salathé, Christian L. Althaus, Richard Neher, Silvia Stringhini, Emma Hodcroft, Jacques Fellay, Marcel Zwahlen, Gabriela Senti, Manuel Battegay, Annelies Wilder-Smith, Isabella Eckerle, Matthias Egger, Nicola Low. Darin kommt die Autorinnenschaft zum Schluss, dass »(F)reiwillige Tests, Kontaktverfolgung und Selbstisolierung dazu beitragen (werden), die Krise aufgrund der Ausbreitung der SARS-CoV-2-Infektion und der schweren oder tödlichen Covid-19-Krankheit zu bewältigen, bis pharmazeutische Interventionen (Impfungen zur Verhinderung von Infektionen oder Behandlungen für Covid-19) zur Verfügung stehen.« Zudem betonen die Verfasser, dass die Beschränkungen für das Geschäftsleben zwar beträchtlich seien, aber langfristig reduzierten sich im Verbund mit den bereits getroffenen Verhaltensregeln die Kosten für die Wirtschaft und Gesellschaft erheblich. Die Wissenschaftlerinnen geben also Empfehlungen für konkretes politisches Handeln ab.

Der Beauftragte des Bundes Daniel Koch ist von altem Schrot und Korn. Ruhig, unaufgeregt, aber auch etwas eigensinnig und knorrig erklärt er die Haltung des BAG. Überstürztes oder übereiltes Handeln sind ihm ein Graus und manchmal fragt man sich, ob ihm der Ernst der Lage wirklich bewusst ist. Allerdings sollte man als Amtsvertreter auch nicht in operative Hektik verfallen, Panik verunsichert die Bevölkerung. Behörden sind puncto Reaktionsschnelligkeit und Agilität mit Forschungsinstituten nicht zu vergleichen. Sie haben die Aufgabe, Politik mit dem dazu nötigen Wissen umzusetzen. Andere Fähigkeiten sind verlangt und das Handeln muss sich an der Praxis und der Durchsetzungsfähigkeit orientieren. So werden auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Behörden benötigen, auf die Praxistauglichkeit abgeklopft. Da mögen eventuell Studien mit mathematischen Berechnungen, Extrapolationen, Modellen mit vielen Unbekannten und Algorithmen nicht immer zuoberst auf der Lektüreliste stehen. Koch verströmt auch nicht den jugendlichen Elan, den die beiden jüngeren Forscher Althaus und Salathé auszeichnet. Dafür strahlt er Vertrauen und Besonnenheit aus. Einmal fiel der Vergleich, von Daniel Koch ließe man sich auch gerne den Weltuntergang erklären.

Es wird erst später bekannt werden, wie es innerhalb des Bundesamtes zu und her gegangen ist. Die Universitäts-Experten-Kritik, soviel ist schon im März 2020 klar, wird allerdings eher spät – sehr spät – gehört. So ist es erstaunlich, dass sich offenbar erst am 18. März 2020, also drei Wochen nach dem ersten Maßnahmenpaket des Bundesrats Ende Februar, Forscherinnen und Beamten zu einem Informationsaustausch treffen. Nach diesem Treffen sagt Salathé, der dabei gewesen ist, über Twitter, er sei von der hiesigen Politik enttäuscht, sein Vertrauen sei erschüttert. Die Ablaufszenarien, auf die der Bund zurückgreift, seien veraltet und die Vorkehrungen seien, obwohl man von der Gefahr einer Pandemie wusste, vernachlässigt worden (mehrere Medien, hier NZZ vom 25. März). Es ist wohl keineswegs so, dass das BAG nicht mit Fachkräften redet, aber offenbar wird das als relevant erachtete Wissen in anderen Kreisen geholt, wie in jenen, die von vielen Medien konsultiert und zitiert werden. Patrick Mathys, der Leiter der Krisenbewältigung im BAG, kontert Salathé. Er hält den Druck, den Epidemiologen über die Medien auf das BAG ausüben, für übertrieben. »Wir wurden mit Vorwürfen konfrontiert, bei denen wir sagen mussten: Der wissenschaftliche Teil ist das eine. Die Umsetzung und Machbarkeit von Massnahmen etwas ganz anderes.«

Gesundheitsexperten ökonomischer Provenienz meinen, dass trotz eines aktualisierten Pandemieplanes im Jahre 2018 die Schweiz schlecht gewappnet gewesen sei. Es fehlte an Notvorräten, Atemschutzmasken und in Spitälern mangelte es an Reserven von Medikamenten, Medizinprodukten und Laboreinrichtungen (z.B. wurden Willy Oggier, Thomas Zeltner, Mascha Madörin u.a. in der WOZ vom 26. März 2020 konsultiert). Es ist Aufgabe des Bundes und der Kantone, diese Materialien und Instrumente zu besorgen und zu lagern. Salathé bestätigt diese Einschätzung und unterstreicht nochmals, er sei überrascht gewesen, wie schlecht die Schweiz vorbereitet gewesen sei. Zudem habe man sehr spät reagiert, obwohl man in Italien gesehen hatte, was auf das Land zukommen könnte. Salathé und Althaus meinen, dass zu Beginn die Gefahr verharmlost worden sei. Vergleiche mit der saisonalen Grippe, die Ende Februar noch die Runde machten – unter anderem äußerte sich Daniel Koch dahingehend –, hätten falsche Signale gesetzt. Ob der Rat inzwischen angekommen ist? Mit der Lancierung der Covid-19-Task Force am 31. März ist zumindest ein Zeichen gesetzt worden. Man wird sehen, ob die Expertinnen, und wenn ja, welche sich Gehör verschaffen können.

Insofern ging es den Schweizer Wissenschaftlern nicht viel besser als den Scharen von Kolleginnen und Kollegen der naturwissenschaftlichen Disziplinen, die schon seit über fünfundfünfzig Jahren vor den verheerenden Auswirkungen der Klimaerwärmung für die Menschheit warnen (Wissenschaft im Dienst des Klimas). Parallelen sind in der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Forschergruppen auszumachen. Der Informationsaustausch läuft mehreren Medienberichten zufolge offenbar viel besser und Kenntnisse werden viel schneller mit Kolleginnen und Kollegen geteilt und ins Gesundheitswesen gespeist oder auf dem Internet zugänglich gemacht.

Beispielsweise gibt es den sogenannten »Wuhan Clan«, den der Immunologe David O’Connor und der Virologe Thomas Friedrich gegründet haben. Auf der Instant-Messaging-Plattform sollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Informationen zum SARS-CoV-2 austauschen, Ergebnisse diskutieren und Forschungsprojekte koordinieren. Auch das CERN in Genf arbeitet an einer Open-Access-Plattform, auf der Resultate zu Covid-19 gesammelt werden sollen. Allerdings werden wegen der Dringlichkeit willentlich und wissentlich Forschungsberichte veröffentlicht, die kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben, was zur Vorsicht mahnt. Studien, die unter den üblichen Umständen von den Prüferinnen eventuell abgelehnt würden, schaffen es an die Öffentlichkeit. Eine dankbare Quelle für unseriöse Journalistinnen, Verschwörungstheoretiker und Laien. Die Ärzteschaft, die täglich mit dem Pflegepersonal in den Krankenzimmern steht, profitiert jedoch davon. Sowieso würden Ärztinnen und Ärzte vielleicht auch gerne mitreden, sie haben in der Pandemie aber alle Hände voll zu tun und werden vermutlich erst nach Abflauen der ersten Welle einen Schritt zurücktreten können und sich Gedanken darüber machen, was bisher geschehen ist.

Erstes Fazit: Obwohl die Gefahr von fürs Auge unsichtbaren Viren ausgeht, können die individuellen und kollektiven Konsequenzen unmittelbar sehr gravierend sein. Deshalb hat insgesamt die Politik schneller reagiert als in anderen Fällen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auch wenn diese naturgemäss nicht einheitlich sind, werden von den Exekutiven in verschiedenen Ländern breiter wahrgenommen als auch schon. Allerdings ist der Problembereich in dieser Anfangsphase eingegrenzt (Vgl. Düstere Absichten?). Es geht in erster Linie um die Gesundheit der Menschen und die Tragfähigkeit des Gesundheitssystems, was letztlich der Wirtschaft helfen soll (IWF zum Nutzen von Lockdowns). Politische, gesellschaftliche, soziale, kulturelle, psychische und emotionale Folgen treten zurück. Die Experten jener Fachgebiete werden in einer zweiten Phase aktiver werden und aktiver erhört werden müssen.

Den prominenten Platz, den die Wissenschaft eingenommen hat, ist doch auch ein klein wenig erstaunlich, da das Wissen über das SARS-CoV-2 nicht sehr fortgeschritten ist. Viele wichtige Aspekte des viralen Infektionsgeschehens sind noch unklar und umstritten, weil das Objekt der Forschung sehr jung ist. Fast täglich werden neue Resultate publiziert. Oftmals muss man aus verwandten Gebieten Untersuchungen zu ähnlichen, aber eben nicht denselben Phänomenen, zurate ziehen. Beispielsweise wie gewisse entzündungshemmende Medikamente (Kampf der Krankheit) auch für Coronapatienten einsetzbar sind. Erst seit kurzem werden konkrete Details zu diesem speziellen Virus bekannt. Empirische Daten sind aber immer noch Mangelware und oftmals muss man – etwa in der Epidemiologie – mit unsicheren Variabeln rechnen (Grundkurs Epidemiologie). Eine Folge davon sind Bestimmungen, die von unterschiedlichen Experten unterschiedlich beurteilt und zudem von Land zu Land unterschiedlich erlassen werden. Stichwörter: Masken, Antikörpertests, Schule. Je länger die Pandemie dauert, desto deutlicher werden divergierende Auffassungen innerhalb der Wissenschaft sichtbar. Stichwörter: wiederum Masken, Antikörpertests und Schulen, Aerosole, Schmierinfektion, Mortalitätsrate, Übersterblichkeit, medizinische Behandlung, Datengrundlage. Und ebenfalls erst seit März 2020 wird auf epidemiologischer Ebene über technische Instrumente mittels Tracing-App nachgedacht. In der Wirkung effizient, um die Ausbreitung zu kontrollieren und einzudämmen, stellen sich hierbei Fragen der Datensicherheit, der Freiheitsrechte, der Anonymität und der politischen Durchsetzbarkeit.

Insgesamt werden während der ersten Welle basierend auf dünnem und volatilem Wissen folgenreiche politische Entscheidungen getroffen und zwar schlicht aus dem Grund, weil man muss. Das Risiko, nur interessierter Zuschauer zu sein, ist zu groß. Bundesrat Alain Berset hat dieses Dilemma sehr treffend geschildert: »Was würde man uns sagen, wenn wir sagten, dass wir jetzt nur warten müssten, weil man sagt, man wisse nicht genau, wie es jetzt weitergeht.« (Best of Berset, Jörg Scheller zur Apokalypse)

Im Gegensatz zu den Klimaforschern scheint das Vertrauen in die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft so zu sein, dass breite Kreise der Bevölkerung die vorgeschlagenen harten Maßnahmen akzeptieren, vorderhand. Sie sind auf Zeit. Auch wenn Komplementärmedizin und Naturheilkunde sich vielerorts festgesetzt haben, genießen Schuldmedizin, die klassische Gesundheitsforschung und die Biotechnologie nach wie vor einen hohen Stellen- und Glaubwürdigkeitswert in der Gesellschaft. Vor allem wenn es ans Lebendige geht und wenn es uns alle betrifft, sind wir bereit, einschneidende Maßnahmen über uns ergehen zu lassen (Gumbrecht zum Notstands-Staat).

Im Juni wird die Frage nach deren Aufhebung auftauchen. Dann müssen sich die medizinischen und Public-Health Expertinnen mit den politischen, rechtlichen, sozialen und ökonomischen Fachkräften herumschlagen, das Feld öffnet sich. Der Zielkonflikt ist absehbar: Schutz der Menschen gegen wirtschaftliches, gesellschaftliches und mentales Wohlergehen, wohlwissend, dass diese Bereiche miteinander verzahnt sind. Fragile, neue medizinische, epidemiologische und virologische Erkenntnisse gegen konventionelle ökonomische Krisenrezepte, den politischen Normalbetrieb, die Funktionsweise des Lobbyismus und den verlockenden Wonnen der Freizeitgesellschaft. Ein ungleicher Kampf. Und dann wird die übliche politische Diskussion losgehen. Es wird dann die Zeit der – wie das die Republik sehr treffend formuliert hat – Wirrologen beginnen.

(Beendet am 19. April 2020)

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Angela Merkel in einer Parlamentsdebatte: »Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, … weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten nicht, und das wird auch weiter gelten.«

https://smw.ch/article/doi/smw.2020.20225

Virus

https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.4.2000058

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.4.2000058