Peter Singer über Konsequenzen von Entscheidungen

Überlegungen zu Nutzen und Wert sollen unsere Handlungen in der Pandemie bestimmen.
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Peter Singer in der NZZaS vom 14. Februar 2021: »Und ich hoffe schon, dass wir etwas vorsichtiger werden, nicht nur im Umgang mit Wildtieren, die hier am Anfang standen. Sondern auch mit Massentierhaltung.«
Leere Straßen in Zürich...
... München...
... und Prag

NZZaS: »… Darf ich mein Kind anlügen und ihm sagen, dass die Pandemie bald vorbei sei, obwohl ich keine Ahnung habe?«
»Nein, dann tönen Sie wie Donald Trump. Das können Sie nicht einmal ihren Kindern antun. Sagen Sie, Sie hoffen, es sei bald vorbei… Aber schüren Sie nicht falsche Hoffnungen…«
NZZaS: »Darf der Staat seine Bürger zwingen, sich impfen zu lassen?«
»Ich denke nicht, aber es kommt etwas darauf an, wie viele sich verweigern. Wenn die Zahl klein ist, gibt es wenig Handlungsbedarf. Droht sie hoch zu sein, dass Nichtgeimpfte eine Gefahr für andere darstellen, ist das anders. Dann sollten wir die Impfverweigerer vor die Wahl stellen: Sie können sich entscheiden, nicht zu impfen, müssen aber vielleicht zu Hause bleiben oder im Minimum eine Maske tragen… Wenn Sie sich gegen eine Impfung entscheiden, müssen Sie mit Konsequenzen leben, und das könnte im Fall von Corona eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit sein. Dadurch wird die körperliche Integrität nicht verletzt.«
NZZaS- fragt zur Rolle der Pharmakonzerne.
»Beim Recht auf geistiges Eigentum läuft im Pharmabereich meiner Meinung nach einiges falsch, auch bei den Therapien. Die Konzerne verdienen Geld in den wohlhabenden Ländern, wollen, dass diejenigen Leute Medikamente kaufen, die hohe Preise bezahlen können. Wer es sich nicht leisten kann, bekommt die Mittel nicht. Ich plädiere in der medizinischen Versorgung für neue Arzneimodelle wir den Health Impact Fund. Regierungen würden Geld in diesen Fond legen, der Pharmafirmen für die Teile der Arbeit entschädigt, die der globalen öffentlichen Gesundheit nützen. Sie hätten also den Anreiz, ihre Produkte möglichst breit zu streuen. Je mehr Leben ihr Mittel rettet, desto mehr Geld bekommen sie vom Fond…
NZZaS: »Welches ist das schwierigste Dilemma in der Pandemie?«
»Die Frage des Lockdowns. Sind sie gerechtfertigt? Wie misst man, ob sie mehr nützen als schaden? Das ist sehr schwierig, denn es betrifft Hunderte Millionen von Menschen. Die Frage ist allerdings wohl auch zu groß, und es gibt unterschiedliche Antworten… Wenn ich rausgehe, und es existiert ein Risiko, dass ich das Virus habe, hat das nichts mit dem Recht auf Freiheit zu tun. Ebenso wenn ich mich weigere, eine Maske zu tragen oder im Auto keinen Sicherheitsgurt zu trage… ich schade mir nur selbst. In der Corona-Krise geht es um ein Risiko für die öffentliche Gesundheit. Man sollte nicht Freiheitsrechte und gesundheitlichen Nutzen gegeneinander ausspielen… Meine Enkel starben keinen sozialen Tod. Und gerade dank dem Lockdown sind sie wieder in der Schule…
NZZaS: »Wie wägen Sie Kosten und Nutzen eines Lockdowns gegeneinander ab?«
»Für einige Leute geht es darum, Leben zu retten. Doch dies kann nicht das einzige Ziel sein, so verdrängen wir andere Zukunftsprobleme der Jungen. Ich glaube, man kommt dem Kern der Sache näher, wenn man von geretteten Lebensjahren spricht. So ist es wichtiger, das Leben eines 70-Jährigen, der noch 20 Jahre vor sich hat, als das ein 95-Jähriger, der vielleicht nur noch wenige Jahre zu leben hat. Der 70-Jährige hat auch die höhere Lebensqualität als ein moribunder Greis…«
NZZaS: »Wieso spielt die Lebensqualität eine Rolle?«
»Um den Gesamtnutzen für die Gesellschaft beurteilen zu können. Wenn jetzt also in Alters- und Pflegeheimen geimpft wird, muss man sich schon fragen, wie sinnvoll es ist, den knappen Impfstoff für stark demente Patienten einzusetzen, bevor Leute mit besserer Lebensqualität dran sind. Meine kurze Antwort wäre: Man muss Wohlbefinden und Lebensjahre berücksichtigen… Das Leben eines stark dementen Patienten, der seine Kinder nicht mehr erkennt, ist nicht gleich viel wert wie das einer Person, die mental intakt ist. Dies haben Ökonomen versucht mit dem Konzept der Lebensqualität zu erfassen. Sie fragen die Leute, zu welchen Abwägungen sie bereit wären, wenn sie ein längeres Leben, dafür aber mit gewissen Behinderungen wählen könnten.« (Singer macht ein Beispiel mit einem Quadriplegiker: Wenn jemand bereit ist, von dieser schweren Krankheit geheilt zu werden mit dem Preis, weniger lang zu leben, kann gesagt werden, dass jene Person das Leben mit der Krankheit als weniger wert betrachtet, a.s.). »Mit solchen Fragen bekommt man zumindest eine Idee davon, wie die Leute eine bestimmte Lebensqualität bewerten. In der Theorie könnten wir das auch mit einem Leben im Lockdown, mit den Jobverlusten, der Zunahme von Depressionen und anderem so machen. Leider sind diese Modelle noch zu ungenau. Wenn man das alles wüsste, könnte man wirklich besser entscheiden, welche Maßnahmen in der Pandemie die richtigen wären.
NZZaS: »Aber wie können Regierungen ohne diese Zahlen zu einem rationalen Schluss kommen?«
»Sie müssen wissen, was das Ziel ist: Ein vernünftiger Entscheid war, als Italien sagte, wir brauchen den Lockdown, um zu verhindern, dass unsere Spitäler und unser Gesundheitssystem zusammenbrechen… So rettete man Leben… Das zwei vernünftige Ziel verfolgen viele Staaten jetzt: O.k., wir sind wieder im Lockdown, aber es wird der letzte sein… Einen Lockdown zu verordnen, nur um zu verhindern, dass sich mehr Menschen infizieren, ergibt hingegen keinen Sinn. Denn man muss irgendwann Herdenimmunität erreichen… Der einzige Grund, den Verlauf zu verlangsamen, ist der Schutz der Spitäler.«
NZZaS: »Wenn der Lockdown die Therapie ist, wann wird sie schädlicher als die Krankheit?«
»Einen solchen Kipppunkt gibt es sicher, nur ist schwer abzuschätzen, wo er ist…«

Massentierhaltung

NZZaS: »Was für ethische Fragen erwarten uns nachher?«
»Wie wir künftig Pandemien verhindern… Das hat mit unserem Verhältnis zu Tieren zu tun. Erreger haben oft ihren Ursprung bei Tieren. Und ich hoffe schon, dass wir etwas vorsichtiger werden, nicht nur im Umgang mit Wildtieren, die hier am Anfang standen. Sondern auch mit Massentierhaltung… Die verwandte Frage ist ja, wie weiter mit dem Kampf gegen den Klimawandel, der großen Herausforderung unserer Zeit… Da wir Europäer, Amerikaner und Australier in der Vergangenheit einen Großteil der Treibhausgase verursacht haben, sind wir in einer schwierigen moralischen Lage. Aber das heißt nicht, dass wir alle Flüchtlinge aufnehmen müssen. Wir sind eher verpflichtet, ihnen ein anständiges Leben irgendwo auf der Welt zu ermöglichen…«
NZZaS: »Weshalb sind Sie überzeugt, die richtigen Antworten zu haben?«
»Das ist mein Leben, seit 50 Jahren. Damals beschäftigte ich mich zum ersten Mal mit dem moralischen Status von Tieren und wurde zum Vegetarier… Meine Antworten folgen aus meiner Grundanschauung als Utilitarist: Wir müssen Handlungen nach den Konsequenzen beurteilen, die sie für alle haben…«
NZZaS: »Wie führt man ein einwandfreies Leben?«
»Man beginnt nachzudenken, welchen Einfluss man auf die Welt hat. Für mich bedeutet es erstens: schädliches Verhalten zu reduzieren, sei es etwa beim Klimawandel oder fürs Tierwohl. Zweitens: so viel Gutes tun wie möglich. Viele wissen nicht, dass das gar nicht so schwierig ist… Drittens: ein politisch engagierter Bürger sein, der verantwortungsvolles Regieren unterstützt… Unsere Vorfahren überlebten, indem sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigten oder jene der Kinder oder engen Verwandten. Deshalb ist es nicht überraschend, dass wir alle relativ egoistisch sind, wir haben aber eine bemerkenswerte Fähigkeit zum Altruismus, sobald grundsätzliche Wünsche erfüllt sind… Wir sehen zweifellos Fortschritte, aber es ist sicher kein linearer Pfad.«

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Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)