Was ist in Zeiten der Pandemie die Rolle der Literatur?

Können Autorinnen und Autoren überhaupt angemessen auf die Ereignisse reagieren, ohne dass sie der Entwicklung hinterherhinken?
Im Frühjahr 2020 entbrannte über die Corona-Tagebücher verschiedener Autorinnen und Autoren eine bemerkenswerte Diskussion. Hier werden in knappen und kurzen Lektüreprotokollen holzschnittartig verschiedene Positionen zusammengefasst. Ergänzt wird dies mit einer kleinen Einschätzung des Autors.
Aus der Bibliothek von Thomas Mann (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv; Fotograf: Photographisches Institut der ETH Zürich)

Lektüreprotokoll: Kathrin Röggla, Im Prognosefieber, FAZ, 20. März 2020

Die Autorin Kathrin Röggla schreibt in der FAZ einen Gastbeitrag mit dem Titel Im Prognosefieber. Sie beruhigt zuerst: »Keine Sorge, ich werde diesen Zustand nicht zu beschreiben versuchen.« Weil der Zustand sich stündlich, täglich, wöchentlich ändert und er in Livetickern und Blogs festgehalten wird. Alles dreht sich um Geschwindigkeit, und besonnenes Handeln könne allenfalls falsch sein. Was sie heute zu Papier bringe, sei am nächsten Tag vielleicht tiefe Vergangenheit. Weiter schreibt sie: »Vielleicht spüren wir zum ersten Mal … so deutlich den Begriff des Kollektivs… das … unter dem Zeichen der Krankheit steht.«

Ziel der Maßnahmen gegen das Virus ist, das Kollektiv unter Kontrolle zu bringen. Sinnbildlich dafür steht das Instrument der Prognose. Sie wird zurzeit gerade überall feilgeboten, sie arbeitet mit Menschengruppen und Massen und löst den Individualbegriff auf. Das ist problematisch. Denn plötzlich erscheint das Handeln in Diktaturen wie China, das auf die Masse ausgerichtet ist, avantgardistisch. Das fordert, so Röggla, unsere Gesellschaft, die auf »Individualismus, Wachstum und radikalem Kapitalismus« basiert, stark heraus, könnte man doch auf die Idee kommen, andere Probleme wie die Klimawandelfolgen ähnlich diktatorisch anzugehen, wie China das jetzt mit der Coronakrise praktiziert. Unser System ist weder ressourcenschonend noch ökologisch ausgerichtet. Jedoch wäre es fatal, »die offene Gesellschaft aufzugeben«.

Auch die Literatur ist herausgefordert. Röggla bezieht sich auf Amitav Gosh, der meint, dass der bürgerliche Roman von einem sogenannten Normalzustand in der Gesellschaft ausgehe und mit ständigen Abweichungen davon schlecht zurechtkomme. Die Langsamkeit der Literatur ist der Geschwindigkeit der gegenwärtigen Lage kaum gewachsen. Texte müssten gemischte Realitäten beschreiben können, die dem »Nebeneinanderher von neuer Logik, alten Problemen, unerwarteten Auswirkungen der Situation gerecht werden«.

Lektüreprotokoll: Paul Jandl, Die Corona-Krise trifft die Literatur hart, NZZ, 24. März 2020

Paul Jandl schreibt über die Literaten, die in der Krise schreiben. Viele Autorinnen und Autoren scheinen verunsichert zu sein, denn – wie Röggla bereits festgestellt hat – die »Geschäftsgrundlage der Literatur« komme arg ins Wanken. »Wie kann man die jetzige Hyperaktualität abbilden?« Dann werden ein paar Beispiele von Corona-Tagebüchern im Netz vorgestellt: Jaroslav Rudis, Peter Stamm, Dorothee Elmiger, Anne Cotten, Valerie Fritsch, Julya Rabinovich, Monika Helfer, Thomas Glavinic. Die Autoren beleuchten unterschiedliche Aspekte: individuelle, private, gesellschaftliche, politische. Allen gemeinsam ist die Arbeitssituation, die jener der Quarantäne ähnelt: man zieht sich zurück, sitzt am Arbeitstisch und versucht den Blick zu schärfen, was draußen in der Welt vorgeht. Mit Röggla stellt sich Jandl die Frage, kann das gelingen? Wir werden sehen. »Was man jetzt hört, ist ein Signal der Verunsicherung. Ein Rufen im digitalen Wald.«

Lektüreprotokoll: Julia Encke, Sinn und Kitsch, FAS, 5. April 2020

Anlässlich des ersten Corona-Buches, das aus der Feder von Paolo Giordano stammt, teilt Julia Encke in der FAS ihre Bedenken mit uns, was wohl noch alles Pathetische und Tröstliche an Literatur auf uns zukommen mag. Sie kritisiert die Perspektive, aus der Giordano seine Notizen und Tagebucheinträge verfasst hat. Giordano sitzt zuhause und vor sich sieht er eine große Leere. Diese Leere soll nun erstens mit Sinn gefüllt werden und zweitens mit einer Erneuerung enden. Encke findet, dass aus den »salbungsvollen« und »erbaulichen« Worten, die Giordano braucht, nichts und schon gar nichts Interessantes hervorgehe. Die Haltung, dass man aus dieser Krise auf Teufel komm raus etwas abgewinnen muss, gebiert nur Texte auf »Kalenderspruch-Niveau«.

Die Autorin weitet den Blick auf andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus, die Lage wird nicht besser. Überall wird Trost gespendet, die Stoa wiederentdeckt, das Homeoffice zur positiven Freiheit schöngeredet und es werden neue moralische Einsichten gepredigt. Encke weist auf Henning Ritter, der über den Gedankenkitsch schrieb, der sich unter der Oberfläche des wissenschaftlichen Diskurses verberge. Dieser Gedankenkitsch werde oftmals in der großen Altbauwohnung oder in einem lauschigen Garten ausgebrütet. Leïla Slimani hat wütende Reaktionen geerntet, als ihre Notizen über die Ausgangssperre mit einem Foto bebildert war, auf dem der Sonnenaufgang aus dem Fenster ihres Landhauses in der Normandie zu sehen ist. Die fünfköpfige Familie, die in einer Zweizimmerwohnung in einem Pariser Vorort lebt, dankt dafür. »Den Vorwurf, von einem privilegierten Standpunkt aus nicht viel mehr als nichts zu sagen, das dafür mit großer Geste, findet man auch hier immer wieder bestätigt.« Carolin Emke sage beispielsweise, dass Intellektuelle und Geschichtenerzähler ihre Aufgaben, wie etwa Wissensvermittlung und Lügen entlarven und demokratische Rechte einfordern etc., gerade jetzt wahrnehmen und damit zeigen müssten, warum es sie brauche. Wenn dieser Beweis nicht gelinge, sei das Überleben gefährdet.

Encke entgegnet, dass eben gerade das zu wenig stattfinde, es klebe zu viel »Poesiealbumhaftes« an den Texten. Gerade jetzt benötige man sehr wohl Informationen über das Virus, über die Ansteckung, über die sozialen, politischen, gesundheitlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen, aber Enckes Vertrauen, dass die Dichter dazu in der Lage sind, ist eher klein. »Um Erkenntnis aber geht es in diesem Moment und nicht um Sinnstiftung.«

Lektüreprotokoll: Sandro Benini, Corona-Tagebuch, mir graut vor dir, TA, 14. April 2020

Zu einer zentralen Aufgabe von Kulturteilen und Feuilletons gehört, über das literarische Geschehen zu berichten. Wenn jedoch kaum Neuerscheinungen auf den Markt kommen, Literaturfestivals abgesagt, Preisverleihungen verschoben werden und Lesungen ausfallen, wenn also auch literarisch eine »außerordentliche Lage« herrscht, verlagert sich die Berichterstattung auf das gerade aktuell greifbare literarische Schaffen, dem gewissermaßen ein work-in-progress-Charakter innewohnt. Diese Aufzeichnungen hier zeugen davon. Im TA schreibt Sandro Benini eine Einschätzung zur Lage der Corona-Tagebücher. Er schließt an der kritischen Beurteilung von Julia Encke an und zitiert vergleichbare oder gar gleiche Passagen verschiedener Autorinnen und Autoren. Er lässt in seiner Polemik kaum ein gutes Haar an den Versuchen, der Corona-Krise schreibend Herr oder Frau zu werden. Die Banalitäten seien nicht weniger banal, wenn sie »ein Künstler während einer historischen Tragödie erlebt.« Die meisten seien schließlich privilegiert und nur ein bisschen mitbetroffen. Das richtige Drama spiele sich in Bergamo und Guayaquil ab und viele poesiegeladene Elaborate seien pathetische Zumutungen.

Benini erinnert der Corona-Tagebuch-Schreiber an »jemanden, der aus nicht allzu ferner, aber immer noch sicherer Distanz schildert, wie ihm ein Großbrand etwas Rauch in die Nase treibt und welche Assoziationen ihn überkommen, wenn er auf der Tapete seines Studierzimmers den Widerschein der Flamme beobachtet.« Das erinnert an Platos Höhlengleichnis: Wir können die Realität nur als Widerschein erkennen, das Flackern von Figurenumrissen, die als Schatten an die Wand der Höhle geworfen werden. Die Figuren selbst bleiben unsichtbar.

In vielen Tagebüchern wird auf die Vergangenheit verwiesen und an die Zeiten der Kindheit erinnert. Manche Schreiber und Schreiberinnen sind in diesen Tagen tatsächlich wieder an den Ort ihrer Geburt zurückgekehrt. Und in einigen Journalen wird erwähnt, dass die Krise inspirierend für die Arbeit sei. Benini findet, dass die Protokollanten »selbstbezogen und pathetisch (wirken), sie gleiten häufig in Kitsch und pseudopoetische Belanglosigkeiten ab, sie sind allzu oft das Produkt selbst- und beschäftigungstherapeutischer Fingerübungen und bemühen sich viel zu selten darum, subjektive Betroffenheitsbezeugungen mit gesellschaftlicher, politischer oder ökonomischer Reflexion zu verknüpfen.« Es gelinge nicht vielen, eine Sinnhaftigkeit der Situation abzupressen, da die Sicht zu selbstbezogen sei, es fehle an Selbstironie und Humor.

Benini ist gar kein Gegner von Tagebüchern, aber das Genre sei anspruchsvoll, weil es schwierig ist, dem Alltäglichen geistvolle und funkelnde Seiten abzugewinnen. Selbst Thomas Mann und André Gide seien zuweilen daran gescheitert. Zum Schluss zitiert Benini Dorothee Elmiger, eine der Tagebuchschreiberinnen: »Mir hängt jedenfalls schon alles zum Hals heraus, was diese große Krankheit betrifft, all die Journale, Protokolle und Erzählungen aus den Schlafzimmern und den Küchen.«

Kurze Nachbemerkung zu Röggla, Jandl, Encke & Benini

Robert Walser schreibt über den Schriftsteller: »Der Mann mit der Feder in der Hand ist quasi ein Held im Halbdunkel, dessen Betragen nur deshalb kein heroisches und edles ist, weil es der Welt nicht zu Gesicht kommen kann… Vielleicht ist das nur ein trivialer Ausdruck für eine ebenso triviale Sache, aber ein Feuerwehrsmann ist auch etwas Triviales, obschon es nicht ausgeschlossen ist, dass er gesetzten Falls ein Held und Lebensretter sein kann.« Ref. Schriftstellerinnen und Schriftsteller gehen auch in außerordentlichen Zeiten ihrer Tätigkeit nach. Und das ist richtig. Aber man kann bestimmte Vorbehalte und Bedenken teilen, die den Corona-Tagebüchern vorgehalten werden. Denn ob ein solches Unterfangen gelingt, ist – wie bei allen literarischen Erzeugnissen – abhängig davon, ob Form (hier: Tagebuch) und Inhalt (hier: Umgang mit einer realen Pandemie) zu einem sprachlich überzeugenden Ganzen zusammenfinden, also die Lektüre zu einem ästhetischen Genuss wird und inhaltliche Horizonterweiterungen liefert. Man lässt sich gerne entzücken und belehren. Die Sandbänke und Riffe wurden in den verschiedenen Artikeln erwähnt und nicht alle Autorinnen und Autoren haben diese souverän umschifft. Es gibt aber gute, schöne und witzige Beispiele dafür, wie mit der außerordentlichen Lage umgegangen wird. Etwa von Dorothee Elmiger, Michelle Steinbeck und Marlene Streeruwitz.

Wie hier unschwer zu erkennen ist, wird in diesen Aufzeichnungen ein anderer, kaum als literarisch zu bezeichnenden Ansatz verfolgt (Über diese Seite). Der Fokus liegt in der Erfassung dessen, was gerade geschieht und was als wichtig angesehen wird. Es ist eine persönliche Auswahl. Diese subjektive Lesart der Geschehnisse und deren mediale Verarbeitung ist Teil des Verfahrens, Objektivität ist nicht zu erreichen. Aber es wird eine unvoreingenommene, sachbezogene, nachvollziehbare Auseinandersetzung mit den mehrdeutigen Umständen angestrebt. Der NYT-Kolumnist Thomas L. Friedman hatte einmal geschrieben, wünschenswert sei es, Kognitive Immunität zu erlangen. All die hier referierten und zitierten Artikel, Untersuchungen, literarischen Auszüge, Kunstwerke etc. sollen dazu dienen, Fresszellen, T-Zellen und Antikörper gegen Unsinn zu entwickeln. Einen Impfstoff wird es nie geben.

Wie Paul Jandl in einem anderen NZZ-Artikel richtigerweise betont, ist das Virus eine »biochemische Entität«. Keine Frage, diese Entität wirkt auf Individuum und Gesellschaft. Auf das Ausbreiten persönlicher Befindlichkeiten wird hier nicht ganz, aber weitgehend verzichtet. Es werden weder psychische noch emotionale Untiefen ausgelotet. Wer das vermissen oder gar bemängeln will, der möge auf andere Texte zurückgreifen.

Hüten wir uns vor unnötigen symbolischen Aufladungen natürlicher Vorgänge. Wir sammeln (In eigener Sache). Deshalb bleibt der Tonfall nüchtern. Kathrin Röggla hat in ihrem Artikel schon geschrieben, dass Texte gemischte Realitäten beschreiben müssen, die dem »Nebeneinanderher von neuer Logik, alten Problemen, unerwarteten Auswirkungen der Situation gerecht werden«.

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Virus

Robert Walser, Der Schriftsteller, In: Robert Walser, Eine Ohrfeige und sonstiges, Hg. Thomas Hirschhorn, Reto Sorg, Frankfurt/M 2019, S. 80 (Orig. in Die Schaubühne, Jg. III, Bd. 2, Nr. 46, 14. November 1907)

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

Robert Walser, Der Schriftsteller, In: Robert Walser, Eine Ohrfeige und sonstiges, Hg. Thomas Hirschhorn, Reto Sorg, Frankfurt/M 2019, S. 80 (Orig. in Die Schaubühne, Jg. III, Bd. 2, Nr. 46, 14. November 1907)