Lektüren: Andreas Zielcke, »Pandemie-Absolutismus«

Über Verhältnismäßigkeit und Gleichheitsgrundsatz schreibt Andreas Zielcke
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Eine Frage der Güterabwägung: Der kollektive Schutz vor Viren-Gefahr steht auf der einen und der kollektive Freiheitsentzug mit vielfältigen Kollateralschäden auf der anderen Seite. meint Andreas Zielcke in der SZ vom 17. April 2020.

Bei der Auseinandersetzung mit der Pandemie gehören in einer Demokratie juristische Erwägungen über Grundrechte selbstverständlich zum Pflichtprogramm. Andreas Zielcke hat in der SZ versucht, auch für Laien verständliche Grundfragen aufzuzeigen.

Es gibt eine Mehrheit, die die getroffenen Maßnahmen als gerechtfertigt betrachten und eine Minderheit, die zunehmend skeptisch und empört auf die Kontakt- und Ausgangseinschränkungen reagieren. Für beide Gruppen ist das Virus eine lebensbedrohliche Angelegenheit: für die einen im gesundheitlichen, viralen Sinne, für die anderen hinsichtlich des massiven kollektiven Freiheitsentzugs. Hierzu gibt es auch aus staatsrechtlicher Warte Wortmeldungen. Verschiedene Experten sehen die Maßnahmen skeptisch: »Krankheitsvermeidungsabsolutismus« und »quasi grundrechtsfreier Raum« prangern sie an, oder es wird gefordert, dass »die rechtsstaatliche Hygiene« wiederhergestellt werden müsse. Aus rechtsstaatlicher Warte hagelt’s also Kritik. In der Kurzform heißt dies, dass die Kur teurer als die Krankheit sei. Zielcke sieht eine symbolische Waagschale vor sich: kollektiver Schutz vor Viren-Gefahr auf der einen, kollektiver Freiheitsentzug mit vielfältigen Kollateralschäden auf der anderen Seite. Das sind schwierige Voraussetzungen, da das Abwägen nicht wie in ökonomischen Fragen mit quantifizierbaren Größen zu berechnen ist. Abgesehen von der garantierten Menschenwürde, die über allem steht, gebe es in keinem Rechtsstaat einen geeichten Maßstab für die Hierarchie von Grundrechten. Es gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Aber was heißt schon verhältnismäßig? Die Gerichte haben sich bis jetzt zurückgehalten, wenn sie in Eilverfahren Sperrmaßnahmen beurteilen mussten. Aber es zeichne sich ab, dass sie sich schon fragten, wie weit man mit der Stilllegung eines Landes gehen kann.
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird nach drei Kriterien beurteilt: ist die Maßnahme erstens geeignet, zweitens erforderlich und drittens angemessen. Punkt eins und zwei sind in dieser ersten Phase der Pandemie mehrheitlich unbestritten, Letzterer wird zur Schlüsselfrage.

Im Fall der Corona-Pandemie muss man sich einerseits auf unsichere Unterlagen stützen und andererseits stand man unter enormen Zeitdruck (das Virus nimmt keine Rücksicht auf politische und institutionelle Verfahren). Aber auch die Skeptiker müssen sich auf Vermutungen stützen. »Es spricht wenig dafür, dass ihre Vermutungen verlässlicher sind als die überwiegende Expertise der Virologen und Epidemiologen, ganz zu schweigen von den grausam-beweiskräftigen Indizien, die Länder wie Italien, Spanien, Großbritannien, die USA…« Wollen die Kritiker wirklich die Verantwortung für den Abbruch der Maßnahmen übernehmen? Die kursorische Prüfung des deutschen Verfassungsgerichts kommt zum Schluss, dass der beschlossene Freiheitsentzug gerechtfertigt ist. Klar kann man sich über einzelne Beschränkungen streiten. Zudem wurden zwei Grundrechte im »hastig aktualisierten« bundesdeutschen Infektionsschutzgesetz nicht geregelt: die Bekenntnis- und die Berufsfreiheit. Ein weiteres delikates Thema bei der Beurteilung der Sperre ist der partielle Stillstand der Wirtschaft. Auf der einen Seiten stehen die Hygieneregeln, die eingehalten werden müssen, auf der anderen Seite die Umsetzung in den einzelnen Firmen. Nicht alle Betriebsstilllegungen sind aufgrund der Notstandsmaßnahmen ergriffen worden, sondern weil bei den Firmen selbst die Lieferketten und die Absatzmärkte weggebrochen sind, also gar nicht hatte produziert werden können. Hier den Verantwortlichen zu finden, wird schwierig. Nach der Lockerung des Stillstands muss das Prinzip Angemessenheit neu justiert werden, der pauschale Freiheitsentzug muss gelockert werden und sich den öffnenden Schritten anpassen. Die Verhältnismäßigkeit trifft auf den Gleichheitsgrundsatz (Der neue Notstands-Staat; Wir werden alle Chinesen). Können vulnerable Personen zum eigenen Schutz weggesperrt werden? Dürfen Schulen öffnen und Altersheime nicht? Darf man also »spezielle, ausschließlich auf Gruppensegregation hinauslaufende Beschränkungen« erlassen? Ist das nicht Diskriminierung? Was bedeutet bei diesen Fragen verhältnismäßig und gleich? Vielleicht helfe bei der Beurteilung dieser Fragen die Umkehr der Perspektive: »Was hätten Hochrisikogruppen davon, wenn bei nachlassender Pandemie neben ihnen auch der Rest der Bevölkerung unter Quarantäne bliebe, um den so verstandenen Gleichheitssatz Genüge zu tun?« Das sei falsch verstandenes Gleichheitsrecht, man müsse differenzieren zwischen Lebensrisiken und Freiheitslasten, denn auch das »Prinzip der Angemessenheit verlangt, Ungleiches ungleich zu behandeln – solange mit der Unterscheidung kein Werturteil über Lebensrecht und Würde verbunden ist.«

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)