Zur internationalen Lage der Pandemie

Ein Blick über den Tellerrand
Der Epidemiologe David L. Heymann schaut über die Ränder des Kontinents. Dort bewegt sich auch Hitoshi Oshitani. Der japanische Virologe äußert sich zu Clustern.
Buddhistische Figuren beim Toyama Baisoin-Tempel, Tokio

Das Virus kann weltweit nur dann wirkungsvoll bekämpft werden, wenn international einheitliche Maßnahmen gegen die Pandemie befolgt werden. Das ist nicht der Fall. Die meisten Länder setzen auf die Impfung. Dabei wäre es ratsam gewesen, auch auf die Erfahrungen mit SARS-CoV in den ostasiatischen Länder zurückzugreifen. Etwa die Art, wie gegen Cluster vorgegangen wird.

Passagen aus einem Interview, dass die NZZaS am 4. Oktober 2020 mit dem Epidemiologen David L. Heymann von der London School of Hygiene and Tropical Medicine geführt hat.

»Wir müssen besser verstehen, wie neue Infektionskrankheiten aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen. (Das Coronavirus OC43) ist heute ein harmloses Erkältungsvirus. Forscher haben dieses Virus analysiert und herausgefunden, dass es zwischen 1850 und 1890 von der Kuh auf den Menschen übergetreten ist. Aus historischen Dokumenten wissen wir aber, dass im Jahre 1899 die erste globale Pandemie wütete, die sogenannte Russische Grippe. Es ist also gut möglich, dass es kein Influenzavirus war, sondern das Coronavirus OC43… Alles deutet darauf hin, dass auch dieses Sarsvirus… endemisch wird, uns also erhalten bleibt… Diese Erreger erreichen uns ja nicht auf dem Schweif eines Kometen, sie sind schon hier, in Tieren oder in der Natur… Manchmal resultiert daraus eine einzelne Infektion wie zum Beispiel bei der Tollwut, manchmal ein Cluster von Infektionen wie bei Ebola, die dann verschwinden und irgendwann wieder auftauchen. Und manchmal wird die Krankheit endemisch… Beim Coronavirus kann man die Ausbrüche mit diagnostischen Tests und einem guten Contact-Tracing erfolgreich stoppen. Das war auch zentral für das Vorgehen in vielen asiatischen Ländern… Die asiatischen Länder hatten bereits Erfahrungen mit Sars und Mers und sind auch diesmal wieder ähnlich vorgegangen… Sie (Japan, Taiwan, Südkorea, Hongkong) wussten, dass man Ausbrüche mit guten Contact-Tracing und anderen Maßnahmen stoppen kann (Blick in den Osten)… China… hat auf das plumpe Werkzeug namens Lockdown gesetzt, ohne in Erwägung zu ziehen, dass man vielleicht auch einen epidemiologischen Ansatz wählen kann… Mit dem Lockdown schafft man das Virus nicht aus der Welt. Während die asiatischen Länder mit ihrem epidemiologischen Ansatz weiterfahren konnten, fehlte vielen anderen Ländern nach dem Lockdown eine Exit-Strategie. Sie wissen immer noch nicht wirklich, wie man Infektionen tief hält, sie warten nun auf den Impfstoff oder auf Medikamente, die es vielleicht geben wird, vielleicht aber auch nicht… In Schweden ließ man das Virus ins Land, zählte aber auf die Bevölkerung bei der Bewältigung der Pandemie. Das ist sehr wichtig, denn die Bevölkerung bildet letztlich die Basis für den Weg aus der Krise… In Afrika scheint die Mortalität, zumindest die gemeldete, relativ tief zu sein. Auch der Anstieg der Patienten in den Spitälern scheint weniger ausgeprägt zu sein als in anderen Kontinenten. Ist das wegen einer vorbestehenden Immunität in der Bevölkerung? Wir wissen wirklich nicht, was in Afrika südlich der Sahara gerade passiert… In einigen ärmeren Regionen (außerhalb Afrikas, a.s.), wo die Menschen sehr dicht aufeinanderleben und es sehr hohe Übertragungsraten gab, sind viele möglicherweise jetzt schon immun. Wie lang diese Immunität anhält, wissen wir aber nicht… Wir kennen aber die Langzeitfolgen einer Infektion noch nicht… (Bezüglich Impfstoff) gibt es noch sehr viele Unbekannte, und einige Dinge kommen jetzt ans Licht. Zum Beispiel hat man einige Fälle einer Zweitinfektion gesehen… Wird ein Impfstoff dies verhindern können? Wird der Immunschutz lang anhalten oder nur kurz? Wird er dafür sorgen, dass es bei einer Infektion zu einem milderen Krankheitsverlauf kommt? Was für Auffrischimpfungen werden nötig sein? … Dennoch sollten wir nicht einfach warten, bis ein Impfstoff endlich da ist. Wir sollten mit den Werkzeugen, die uns heute zur Verfügung stehen, unter Kontrolle bringen. Das lehrt uns die Geschichte…«

NZZaS: »Wer ist Experte, was ist wissenschaftliche Evidenz, oder wie wird Information verbreitet? Was sollten wir tun, damit das Vertrauen in die wissenschaftliche Stimme erhalten bleibt?«

»Ich denke, die Beweislast liegt sowohl bei der öffentlichen Gesundheit als auch bei den Politikern. Experten für öffentliche Gesundheit verfolgen ein langfristiges Ziel, sie haben viel Erfahrung auf diesem Gebiet, und ihre Stimme muss gehört werden. Politiker haben eine kurzfristige Perspektive, weil sie nur kurz im Amt sind. In den Ländern, in denen es den Experten der öffentlichen Gesundheit und den Politikern gelungen ist, zusammenarbeiten, war die Reaktion auf die Pandemie viel wirkungsvoller als in Ländern, wo das nicht der Fall war. Ich denke etwa an die USA und an Großbritannien. In beiden Ländern war die Stimme der Politik viel lauter als die der öffentlichen Gesundheit… Jeder Ausbruch braucht ein Gesicht, dem man vertrauen kann. Es braucht jemanden, auf den die Öffentlichkeit hört… denn letztlich geht es darum, dass die Bevölkerung mitzieht. Schweden hat das getan, wir müssen jetzt sehen, ob sich das auch langfristig auszahlt…

Schrein in Kyoto

Heymann hat die Bekämpfungsstrategie der asiatischen Länder erwähnt.

Der japanische Virologe Hitoshi Oshitani erläutert der Zeit vom 16. Juli 2020 das Instrument des Clusteransatzes:

Hitoshi Oshitani, ein führender Virologe an der Tohoku University und Mitglied des Krisenstabs der japanischen Regierung, sagt, dass von den jüngeren Menschen unter 30 am meisten Ansteckungen ausgehen.

»Die Infektionscluster, die wir untersucht haben, hatten meist drei Eigenschaften gemeinsam: geschlossene Räume mit schlechter Luftzirkulation, relativ viele Personen auf engem Raum und recht viele Kontakte zwischen den Personen … Infektionscluster lassen sich wahrscheinlich eher durch die Umstände erklären als durch die Eigenschaften der Personen … Wir haben 61 Infektionscluster in Japan bis Anfang April untersucht, insgesamt waren das mehr als 3000 Personen. Unter einem Cluster verstehen wir mindestens fünf Infektionen zu einem Zeitpunkt an einem Ort. Die Cluster haben wir identifiziert, indem wir Angaben analysierten, die infizierte Personen sowie deren Kontaktpersonen bei den lokalen Gesundheitsämtern gemacht hatten. So konnten wir rekonstruieren, wo und wann es zu einem sogenannten Superspreader-Event gekommen ist, wo sich also viele Personen auf einmal angesteckt haben… Einige meiner Kollegen und ich hatten uns genau mit der SARS-Epidemie von 2002/2003 auseinandergesetzt. Wir hatten entdeckt, dass die allermeisten Infizierten die Krankheit nicht an andere Personen weitergegeben hatten. Im Umkehrschluss hieß das, dass einige Personen besonders viele Menschen ansteckten. Solche Personen nennen wir Superspreader, durch sie entstehen Cluster. Dass es sich bei Covid-19 ähnlich verhält, haben wir schon im Februar herausgefunden… (Dass viele Fälle mild verlaufen), macht es so schwer, dieses Virus zu kontrollieren. Bei SARS-CoV hatten wir ein viel besseres Bild vom Ausmass der Epidemie. Bei Covid-19 … haben die meisten Superspreader nur leichte oder keine Symptome. Das war wohl der Grund, warum sie noch im März unbekümmert in Karaokebars und Konzerte gingen … Wir müssen zumindest das Risiko für eine Clusterbildung senken. Dazu gehört das Tragen von Masken … In den U-Bahnen von Tokio, die jeden Morgen prall gefüllt sind, scheinen keine Cluster zu entstehen. Ob das wirklich so ist, lässt sich schwer nachverfolgen … Aber es ließe sich erklären: In Japan trägt jeder in der U-Bahn eine Maske, und die Fenster sind geöffnet. Außerdem spricht man im Zug nicht miteinander, das könnte der entscheidende Faktor sein. Denn schon durch die warme Luft, die beim Sprechen ausgestoßen wird, kann das Virus übertragen werden. Deshalb hilft es, wenn man auf engem Raum nicht miteinander spricht.«

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)