Was wusste man am Beginn der zweiten Welle?

Zum Stand des Wissens im September 2020
Icon Zum Gang der Pandemie

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Was wussste man am 10. September 2020 über die Pandemie? Die Zeit berichtet darüber, was man weiß, was noch zu erwarten ist und was man tun sollte. Ergänzt mit Schweizer Beilagen.
Richtig so? Nein...
... Menschenansammlungen meiden, bitte.

Kurz zusammengefasst gilt für Deutschland (und ähnlich auch für die Schweiz):

  • Das Gesundheitssystem stand nicht vor dem Kollaps;
  • Intensivbetten und Beatmungsgeräte waren knapp (für die Schweiz: die Auslastung der Intensivbetten Anfang April lag bei 95 Prozent, regional darüber), aber ausreichend vorhanden;
  • die Eindämmung hat gut funktioniert;
  • unterdessen gibt es Behandlungen und Medikamente, die die schweren Verläufe abmildern können;
  • mit dem heutigen Wissen war die eine oder andere Maßnahme vielleicht zu streng, aber zu Beginn standen auch keine Schutzmasken zur Verfügung;
  • die getroffenen Schutzmaßnahmen haben zahlreiche Menschen in ihrer materiellen Existenz bedroht bisweilen haben sie sie sogar gekostet;
  • die Pflege schwerkranker, aber nicht an Covid-19 erkrankter Menschen wurde zum Teil eingeschränkt;
  • 85 Prozent der SARS-CoV-2-Infizierten zeigen keine oder nur milde Symptome, bei 15 Prozent der Erkrankten gibt es einen schweren. Bei insgesamt etwa 5 Prozent – also einem Drittel der schweren Erkrankungen – einen kritischen Verlauf;
  • Männer trifft es häufiger und stärker;
  • Viren nehmen grundsätzlich keine Rücksicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Arbeitsteilung, gleichwohl trifft es ökonomisch Benachteiligte häufiger und drastischer;
  • Gesellschaften, in denen häufig mehrere Generationen im gleichen Haushalt leben, sind gefährdeter;
  • das Infektionsrisiko ist unberechenbar und undurchschaubar;
  • im Freien gibt es kaum nachgewiesene Infektionsketten, aber manchmal eben doch. Nach Anti-Corona-Demonstrationen gab es keine erkennbaren Mehrinfektionen. Nach dem Champions-League-Spiel von Atalanta Bergamo in Mailand und nach dem Internationalen Frauentag in Madrid jedoch schon. Denkbar, aber nicht erwiesen, dass die Infektionen vor und nach den Veranstaltungen in Innenräumen oder im ÖV stattgefunden haben;
  • die Schließung der Schule, die mit einer Digitalisierung des Unterrichts einherging, legte zutage, dass es nicht selbstverständlich ist, dass alle Kinder über einen Tablet- oder Labtop-Zugang verfügen;
  • auch viele Institutionen im Gesundheitswesen übermitteln Daten mit dem Fax;
  • zur Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Schutzmaterial sind weite Teile Europas abhängig von China;
  • das Gesundheitswesen sagt, sie seien bereit, auch einer allfälligen zweiten Welle zu begegnen;
  • vorausgesetzt, die Menschen bringen das immer knapper werdende Gut Geduld mit, kann auch der Herbst und der Winter gemeistert werden.

Natürlich kann diese Liste problemlos ergänzt werden. Für die Schweiz etwa:

  • Viele Kantone kämpfen noch immer mit elementaren Aufgaben, etwa beim Contact Tracing. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Effizienz der Kantone ist am Schwinden. Es ist schwierig, in der »besonderen Lage« überregionale Maßnahmen zu erlassen. Die Grenzen der Kantone erweisen sich nicht immer als sinnvoller Rahmen für behördliche Bestimmungen. Viele Einwohner der Kantone Zug, Schwyz, Thurgau oder Aargau bewegen sich häufiger in der Stadt Zürich als jene aus dem Zürcher Oberland oder jene aus dem unteren Glatttal. Ähnliches gilt für die Genferseeregion. Aber das in Appenzell-Innerrhoden nicht zwingend die gleichen Einschränkungen gelten wie etwa in Genf, ist zu begrüßen. Wo liegen also die epidemiologisch logischen Regionalgrenzen?;
  • die technischen Voraussetzungen zur Sammlung von Materialien sind nicht optimal. Es war nicht möglich, dass die Kantone sich auf eine einzige Plattform einigen konnten, um ihre Resultate des Contact Tracing zu sammeln und auszutauschen, und auf die auch der Bund Zugriff hat. Damit verliert man viel Zeit bei der Nachverfolgung von Fällen, die interkantonale Dimensionen haben;
  • das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat nur sehr zögerlich auch auf die Erkenntnisse der theoretischer Pandemieforschung, vor allem jenen der Epidemiologie, zurückgegriffen;
  • zu Beginn der Pandemie wurde die Situation vom BAG verharmlost und es wurden Grippevergleiche herangezogen. Es brauchte einen entschlossenen Bundesrat, um die Maßnahmen zu verschärfen.

Welche Themen werden für Diskussionen sorgen? Hier ein paar Stichwörter:

  • Schützen: Atemmasken gibt es genug, in China ist der Absatz stark zurückgegangen. Probleme gibt es bei den medizinischen Schutzkleidern. Die Nachfrage ist explodiert, aber gerade das Angebot von geeigneten Einweg-Handschuhen ist begrenzt;
  • Lüften und Filtern: Gegen die häufigsten Ansteckungswege Tröpfchen und Aerosole hilft regelmäßiges Lüften. Im Winter nicht immer so angenehm. Und Hocheffizienzfilter sind aufwendige und teure Anlagen. Die Strahlen von UV-C-Licht wirken gegen Coronaviren, sind aber auch für den Menschen nicht unschädlich, ein fachgerechter Einsatz muss vorausgesetzt werden. Man kann mit zwei Lampen, die ihre Strahlen an die Decke werfen, den Raum desinfizieren. Ein Apparat kostet jedoch 1000 Euro. Also: Lüften, lüften, lüften. Kurz und heftig.
  • Impfen: Bis die Impfung flächendeckend kommt, wird es noch etwas dauern. Das hat mit der Produktion zu tun. Und dann die Frage: Wer darf zuerst? Die erste Antwort liegt auf der Hand: das Pflegepersonal (allerdings weiss man, dass nur 30 bis 40 Prozent des Personals das auch will). Bei der zweiten wird’s komplizierter: Wenn der Impfstoff gut ist, so sagt eine Studie, sollten die Jüngeren zuerst geimpft werden, damit schnellstmöglich eine Herdenimmunität erreicht wird. Das schützt dann auch die Älteren und die Risikogruppen. Wirkt er nur mittelprächtig sollten zum unmittelbaren Schutz von Leben die Älteren und die Risikogruppen zuerst geimpft werden und/oder das Pflegepersonal in den Altersheimen. Das Robert-Koch-Institut rät, Kinder gegen Grippe zu impfen, damit diese nicht die Älteren anstecken, die dann in Spitalpflege müssen und die Bett-Kapazitäten sprengen.
  • Testen: Es hieß mal: Testen, testen, testen. Das ist immer noch aktuell. Aber die Testkapazitäten sind nicht endlos. PCR-Tests sind präzise, stellen auch fest, ob jemand noch infektiös ist und misst die Virenlast. Es wird das genetische Virusmaterial geprüft. Für die Prävention und die Intervention ist die Information der Virenlast zentral. Ist diese bei einer Testperson tief, ist er nicht mehr stark ansteckend. Damit wäre es möglich, die Quarantänedauer zu flexibilisieren. Nachteil des PCR-Tests: es dauert bis zu zwei Tagen, bis das Resultat vorliegt. Die Alternative sind Schnelltests. Hier wird nach Antigenen gesucht. Das dauert einige Minuten und ist billiger. Noch gibt es sie kaum im Handel. Zudem sind sie weniger genau, vor allem bei kleinen Virenmengen. Als Notlösung könnten sie aber die Zeit überbrücken, bis genauere Tests erhältlich sind. Vor allem auch in gesundheitssensiblen Bereichen. Aber Schüler und Lehrkräfte regelmäßig zu prüfen, ist illusorisch.
  • Lernen: Die Schulen müssen flexibel bleiben. Vom Normalbetrieb über den Hybridbetrieb (mit Halbklassen oder Schülergruppen) bis hin zur Schließung und der damit verbundenen Umstellung auf den Online-Unterricht reicht die Palette des Unterrichts in Pandemiezeiten. Gleichzeitig muss technisch aufgerüstet und das WLAN-Angebot ausgebaut werden. Einkommensschwache Familien müssen besonders unterstützt werden. Lehrkräfte müssen ihr technisches Wissen Online-Unterrichts-tauglich machen. Auch die schulinterne Kommunikation muss gewährleistet sein. Für den Online-Unterricht selbst ist didaktische Phantasie gefordert.
  • Behandeln: Dank der Erfahrungen der ersten Welle sind die Spitäler in der Lage, besser zu planen. Sie wissen, was auf sie zukommt. Man ist optimistisch, dass nicht mehr alle nicht lebensnotwendigen Operationen abgesagt werden müssen. Die Kapazitäten können besser geregelt und interregional ausgeglichen werden. Zudem sind die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten besser geworden.
  • Beatmen: Zu Beginn wurde bei schweren Verläufen häufig zu früh invasiv beatmet. Das birgt das Risiko einer bakteriellen Superinfektion oder Organversagen. Dieses Problem hat man jetzt besser im Griff. Wenn die Atemfrequenz stark zunimmt und Sauerstoffmangel droht, wird der Patient in eine Narkose versetzt und er wird über einen Schlauch beatmet. Bei noch kritischerem Verlauf wird die Lungenfunktion extrakorporal durchgeführt. Das Blut wird außerhalb des Körpers mit Sauerstoff angereichert und zurückgeführt. Etwa die Hälfte der Beatmeten überleben. Ältere Leute trifft es häufiger. Remdesivir gegen Virenlast und Dexamethason als Entzündungshemmer verkürzen beziehungsweise unterstützen die Behandlung. Viele Patienten entwickeln Thrombosen und Embolien. Dagegen werden Blutverdünnungsmittel verabreicht. Mit einem richtigen Timing und den genannten Mitteln dürfte die Quote der Überlebenden steigen.
  • Nachverfolgen: Deutschland und in der Schweiz kämpfen offenbar mit ähnlichen Problemen. Es fehlt eine einheitliche Plattform, in der das Contact Tracing regionsübergreifend erfasst wird. Ein umfassender Überblick ist kaum möglich. Gerade in einer Pandemie, in der es darum geht, schnell Informationen auszutauschen, um rasch handeln zu können, ist das fatal. Da man jetzt mitten im Verfahren steht, ist es sehr schwierig, sich abzustimmen, es fehlt die Zeit und es fehlen die Ressourcen. Vieles deutet darauf hin, dass, nachdem das Gröbste vorbei ist, in die Digitalisierung der Behörden investiert werden wird.
  • Regieren: Das Stichwort der Stunde heißt Perkolation. »Es stammt aus der Physik und bezeichnet den Zustand, in dem das Virus durch die Gesellschaft sickert, langsam und lange Zeit unbemerkt – bis zu einem Wendepunkt, an dem es überall auftaucht.« Es ist zu befürchten, dass es im Herbst zu einem sprunghaften Anstieg kommt. Das haben Epidemiologen schon im Frühjahr prognostiziert. Aber mag die Bevölkerung noch, sich an lästige Maßnahmen halten? Perkolieren auch die Anti-Corona-Proteste? Die Botschaft muss lauten: Wir sind gut durch die erste Welle gekommen, wir sind erfahrener im Umgang mit der Krankheit geworden, wir sind gut gerüstet für eine zweite Welle. Für die Coronamüden und Maßnahmen-Skeptiker fügt Gesundheitsminister Jens Spahn hinzu: mit dem Wissen von heute hätte man sich einzelne Weisungen sparen können. Zum Beispiel die Schließung von Einzelhandelsgeschäften und Friseursalons. Die Schweiz war eines der liberalsten Länder mit vergleichsweise sanften Einschränkungen. Die Wirtschaft lief zu 70 Prozent weiter. Schon früh wurden verschiedene Maßnahmen aufgehoben und auf den 1. Oktober 2020 hin sollen, unter Einhaltung bestimmter Bedingungen, Massenveranstaltungen wieder möglich sein. Mutig, auch wenn man bedenkt, dass die Sterberate zwar nicht die Dimensionen Italiens, Spaniens oder Belgiens erreichte, aber dennoch deutlich höher lag als in Österreich, Deutschland oder Dänemark. Das Mantra lautet noch immer: Hygienevorschriften einhalten, Masken tragen, Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen meiden, Risikogebiete meiden beziehungsweise nach Rückkehr in die Quarantäne gehen und wenn man erfährt, dass man mit einem Corona-Infizierten zusammen war, auch sofort die Quarantäne antreten.

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Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)