Dirk Krüger über den Wert eines Lebens

»Einem Menschenleben wird ökonomisch ein sehr hoher Wert beigemessen«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Dirk Krüger.
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War der Lockdown im Frühjahr 2020 gerechtfertigt? Wie rechnen wir den Wert eines Menschenlebens aus? Antworten aus der Sicht des Ökonomen. Passagen aus einem Interview der NZZaS mit Dirk Krüger von der Universität Pennsylvania.
Klarer Durchblick?

Auf die Frage von Andreas Hirstein an Dirk Krüger, Professor an der Universität Pennsylvania, wo die verdeckten Kosten der Epidemie lägen, antwortet der Ökonom: Ref.

Krüger: »Die Kosten sind nicht verdeckt: Es sind die Toten. Je mehr Menschen sterben, desto mehr Lebensjahre gehen verloren, und damit sind ökonomische Schäden verbunden.«

NZZaS (verkürzt): Was ist uns ökonomisch ein Leben wert?

Krüger: »… Der Wert eines heute lebenden Menschen beträgt (gemäß der amerikanischen Umweltbehörde) durchschnittlich 11,5 Millionen Dollar… Die Behörde nutzt die Zahl zum Beispiel, um den Nutzen zu berechnen, den ein potenziell lebensrettendes Umweltgesetz stiftet.«

NZZaS: Gilt das auch für einen Infizierten?

Krüger: »Nein, wir rechnen das auf die Anzahl von Lebensjahren (ausführlicher zur Thematik: hier) um, die verloren gehen – pro Jahr 515’000 Dollar. Diese Beträge stellen wir den wirtschaftlichen Schäden des Lockdown gegenüber…«

NZZaS: Wie wägt man Geld und Leben ab?

Krüger: »… Wir fragen, was die Leute eigentlich mögen, was macht sie glücklich? Mathematisch drückt man das in einer Lebens-Nutzenfunktion aus… Man addiert alle Faktoren auf, die sich Menschen wünschen. Der erste Faktor ist Konsum. Je mehr davon, desto besser, wobei der Effekt stetig abnimmt … (Kurz vor dem Verhungern) ist eine Scheibe Brot sehr nutzsteigernd.«

NZZaS: Der zweite Faktor?

Krüger: »Überhaupt am Leben zu sein. Das ist für den Mensch ein Wert an sich… diesen Wert muss man quantifizieren…«

NZZaS: Der dritte Faktor?

Krüger: »Das ist die Gesundheit. Ein Lebensjahr mit Gebrechen hat in unserem Modell einen tieferen Wert als ein Jahr voller Gesundheit (zu den ethischen Dimensionen siehe Peter Singer hier)…« (Krüger sagt, dass die drei Faktoren sich zu einer Lebens-Nutzenfunktion addieren, dabei resultiert ein mathematisches Konstrukt, das die Frage beantwortet): »Wie glücklich macht es mich, dass ich eine bestimmte Menge konsumiere, dass ich am Leben bin und dass ich gesund bin? … das Entscheidende ist, dass man mit diesem Konstrukt vergleichen kann: Durch den Lockdown nimmt man Menschen aus dem Arbeitsprozess heraus. Dadurch sinken ihr Einkommen, ihr Konsum und den entsprechenden Lebensnutzen. Andererseits reduziert sich das Risiko der Ansteckung, wodurch die Lebenserwartung steigt. Diese Effekte muss man gegeneinander abwägen.«

(Krüger sagt, dass der Lockdown den älteren Menschen nicht so stark schadet, sofern es nicht systemrelevante Bereiche betrifft, sie wollen vor allem nicht angesteckt werden. Die Jüngeren leiden unter Einkommensverlusten, sei es durch Arbeitslosigkeit oder Transferleistungen und sie leiden mehr unter Konsumverlust als Ältere. Daher könne sich ein Generationenkonflikt entwickeln. Dann folgen konkrete Berechnungen. Zum Beispiel würde eine Person mit einer Lebenserwartung von noch zehn Jahren einen sechsmonatigen Lockdown akzeptieren, wenn sich das Sterberisiko auch nur um 0,13 Prozent reduzierte. Krüger schließt den Abschnitt mit: »Einem Menschenleben wird also auch ökonomisch ein sehr hoher Wert beigemessen.«

NZZaS: Aber einen absoluten Wert geben sie dem Leben auch nicht!

Krüger: »Das stimmt.«

NZZaS: Wir kalkulieren doch immer Chancen und Risiken.

Krüger: »(Ohne Berechnungen über die Lebensrisiken, würden wir) morgens wahrscheinlich noch nicht einmal aus dem Bett steigen, weil wir in der Dusche ausrutschen und das Genick brechen könnten.«

NZZaS: War der Lockdown angemessen?

Krüger sagt, dass der Lockdown im Großen und Ganzen genützt habe, es wäre aber besser gewesen, wenn er etwas sanfter ausgefallen wäre, nicht zurückfahren um 25 Prozent, sondern um etwa 14 Prozent. Aber das sehe man erst jetzt. Kritik an der Politik sei daher unnötig, weil »die Politik handeln musste. Denn wenn die Epidemie einmal aus dem Ruder läuft, lässt sie sich nicht mehr einfangen. Ich halte gar nichts von dieser Kritik, und ich finde sie zum jetzigen Zeitpunkt weder hilfreich noch interessant.«

NZZaS: Auf die Frage, ob das Einhalten des richtigen Verhaltens ohne Lockdown nicht gereicht hätte:

Krüger: »Ich glaube, dass die staatlichen Maßnahmen hilfreich waren, um das Verhalten der Menschen zu ändern… um ein klares Signal zu setzen, dass es sich nicht um eine normale Grippe handelt (die Meinung des IWF zum Lockdown). Vielleicht ist dies sogar der entscheidende Effekt des Lockdown … Der Schlüssel ist das verantwortungsbewusste Verhalten aller – auch der Jungen. Wenn wir das nicht durchhalten, kommt es zu einer zweiten Welle.«

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Die Fragen der NZZaS wurden etwas verkürzt, daher sind sie nicht wörtlich zitiert.

Virus

NZZaS, 10. Mai 2020

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

NZZaS, 10. Mai 2020