In den Jahren 1869 und dann aktualisiert 1880 erschienen vom US-amerikanischen Neurologen Georg Miller Beard zwei Aufsätze zur Neurasthenie – Neurasthenia, or Nervous Exhaustion und A Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia), Its Symptoms, Nature, Sequences, Treatment –, die in der Folge zu den maßgebenden Schriften über die typische Nervenschwäche des fin de siècle wurden. Beard begriff die Krankheit als zivilisationsbedingt – »der erste und wesentlichste Grund der Nervosität in der modernen Civilisation liegt« –, und diese rein soziologische Begründung war eine wesentliche Neuerung gegenüber ähnlichen Leiden in früheren Zeiten. Er glaubte zudem, dass sie vornehmlich im US-amerikanischen Nordosten beheimatet sei. Daher wurde Neurasthenie zuweilen die Amerikanische Krankheit genannt. Betroffen waren in der Regel Menschen, die sich eher geistig beschäftigen, Professoren, Lehrer, Beamte, Unternehmer, Bankiers usw. Die Liste der Symptome (Symptome bei Covid), die Beard aufzählt, ist lang. Sie beinhaltet neben den von Charles Baudelaire erwähnten beispielsweise noch (eine Auswahl): »Erweiterung der Pupillen (…) Störungen der einzelnen Sinnesnerven (…) Geistesschwäche (…) Reizbarkeit (…) Krankhafte Furcht (…) Anthropophobia (…) Monophobia (…) Pantaphobia, Furcht vor Allem und Jedem (…) Phobophobia, Besorgnis vor Furcht (…) Leichtes Erglühen und rastlose Unruhe (…) Häufiges Erröthen (…) Schlaflosigkeit, Böse Träume (…) Schläfrigkeit (…) Abnormitäten in den Secretionen (…) Gefühl tiefster Erschöpfung, ohne positiven Schmerz (…) Männerkrankheiten (unwillkürliche Emissionen, Impotenz, Irritabilität des prostatischen Theiles, der Urethra) (…) Frauenkrankheiten (…)« Beard reihte über fünfundsiebzig Symptome aneinander.
Aus heutiger Sicht wirkt diese Liste ausufernd und etwas beliebig, was Beard aber durchaus bewusst war. Die Verschiedenartigkeit und Unübersichtlichkeit erschwerte den genauen Befund, einige Mediziner waren überfordert und ratlos, andere Betroffene stuften die Leiden gar nicht als Krankheit ein – Baudelaires Ausruf lautet ja: »Nimm dich zusammen!« Beard schrieb: »Daher ist es gekommen, dass Enthmutigung und Abneigung und ein Geist von Scepticismus (…) bei den Ärzten Platz griff und sie verleitete, das Vorhandensein solcher Symptome überhaupt zu leugnen, gerade wie sie ehedem Diphtherie und Heufieber geleugnet haben. Neurasthania ist in der That das medicinische Central-Afrika – ein unerforschtes Land, das nur wenige betreten und dessen Schilderungen weder Glauben, noch Verständniss gefunden haben. Das Reich der Neurasthenie war den Blicken Tausender begegnet, seine Umrisse waren oft geschaut und sein Gebiet gestreift worden – aber es blieb ein mysteriöses Land. Was enthielt es? Welches waren seine Grenzen? Welches Verhältniss bestand zwischen ihm und den benachbarten Reichen der Hypochondrie, der Hysterie, der Geistesstörung?«
In der damaligen Ärzteschaft gab es Widerstand, die neue Krankheit als solche anzuerkennen, da es sich vorderhand um eine funktionelle und nicht um eine organische Störung handelte. Also war es auch schwierig, die Ursache zu ermitteln. Aufgrund der Vielfältigkeit und gar Widersprüchlichkeit der Symptome war es äußerst diffizil, eine Diagnose zu erstellen. Von ähnlichen Krankheitsbildern wie beispielsweise der Anämie oder der Hysterie war Neurasthenie nur sehr schwer zu unterscheiden. Neurasthenie war kein lebensbedrohendes Leiden, im Gegenteil, Beard machte die Beobachtung, dass Neurastheniker eher länger lebten, die Patienten gar jünger aussahen, als sie tatsächlich sind. Die Qualen und die Beschwerden waren jedoch virulent. Das Schwierige sei, dass die Störungen zwar »nur begrenzte Nervenbahnen treffen«, sie aber »eine unendliche Reihe von Symptomen hervorrufen und bald diese, bald jene in ganz unberechenbarem Wechsel zur Entwicklung bringen.« Beard sah das Wesen der Krankheit in einer Verarmung der Nervenkraft (»nerve-force«). Das Nervengewebe werde mangelhaft ernährt und erfahre deshalb eine Schwächung. Der Verbrauch der Nervensubstanz liege über der Zufuhr neuer Kräfte. Beard ging von einem technischen Verständnis des menschlichen Körpers aus, er verglich das Nervensystem mit einer Batterie, die man wieder aufladen könne. Die Therapie musste demnach an der Wiedererstarkung der Nerven ansetzen. Aber wie?
Die Vielgestaltigkeit des Krankheitsbildes erschwerte auch die Suche nach der geeigneten Therapie. Nicht für jeden Patienten war die gleiche Behandlung anzuwenden, da ja die Funktion und nicht die Struktur beziehungsweise ein Organ beschädigt war, also nicht rein »mechanisch« eingegriffen werden konnte. »Jeder Fall von Neurasthenie ist ein Studium für sich selbst. Nicht zwei Fälle sind ganz gleich. Wenn zwei Fälle vom Anfang bis Ende ganz gleich behandelt werden, so ist es wahrscheinlich, dass einer von ihnen falsch behandelt wird.« Der Katalog der Maßnahmen war entsprechend der Unterschiedlichkeit der Symptome sehr breit gefächert. Beard gab Anregungen, wie mit verschiedenen Substanzen umgegangen werden könnte; wie gewisse Mittel, wie etwa Koffein, Alkohol, Opium, Lebertran, Cannabis, Arsenik, metallische Heilmittel etc. wirken könnten; wie die psychische Unterstützung aussehen könnte; welche geistigen Tätigkeiten angezeigt sind; welche Bewegungen in welcher Intensität auszuführen sind; verschiedene Massagen, Kuren usw. Beard musste aber letztlich doch sehr allgemein bleiben: »Nervenleiden lassen sich durch jede Behandlungsweise, durch äussere und innere, arzneiliche und mechanische Mittel, erleichtern oder heilen, welche im Stande ist, eine Veränderung in der Constitution herbeizuführen.« Nicht zuletzt riet Beard den amerikanischen Patienten zu Reisen nach Europa. Die Begründung war bemerkenswert:
Selbst wo keine Diagnose gemacht oder die vage Bezeichnung »allgemeine Schwäche« als Nomen morbi gebraucht ist, lautet die Verordnung »ein Ausflug nach Europa«. Wenn man nicht gewusst hat, was dem Kranken fehlte, so hielt man seine Klagen für eingebildet, für unbedeutend, keiner besonderen Behandlung oder Hygiene bedürftig und sah in Beschäftigungslosigkeit und längerer Abwesenheit vom Hause ein Specificum gegen alle vom Patienten angeführten nervösen Leiden. In einigen Fällen erwies sich diese Empfehlung als nützlich, in anderen blieben die Erfolge aus und in noch anderen waren die Folgen traurig.
In Conradis Roman Adam Mensch litt der Erzähler ebenfalls unter einer Nervenschwäche, auch ihm schien ein Tapetenwechsel – in diesem Falle emotionaler Art – gut getan zu haben: »Er konstatierte, daß seine Nervenschmerzen nachgelassen hatten. ›Man muss nur einmal in einer fremden Atmosphäre herumvagabundiren und dem ehrenwerten corpus ein wenig Abwechslung gönnen: dann machts sich schon‹, monologisierte er vor sich hin.« Der Nervenarzt Beard riet von Kuren in extrem heißen oder in sehr kalten Zonen ab, ausdrücklich empfahl er Reisen in Höhenlagen. »Die Bergluft ist von besonders günstigem Einfluss auf Nervenschwache. Auf den Höhen ist die Luft dünner und freier von reizenden Bestandtheilen (…) je höher wir steigen, desto reicher wird die Atmosphäre an Ozon und atmosphärischer Electricität.« Zudem gebe es in höheren Lagen vermehrt Wälder, was die Reinheit der Luft noch zusätzlich unterstütze. Das etwa weit weg den Metropolen liegende Oberengadin mit der reinen Luft und den weitläufigen Wäldern war prädestiniert als Destination der Ruhesuchenden. Beard riet zu Sommeraufenthalten in den Bergen, vorab in der Schweiz, und bezweifelte die Wirkung von Kuren am Meer. Allerdings solle man Höhenlagen über 2000 Meter über Meer meiden, da die Muskelanstrengungen zu groß würden, wolle man sich sinnvoll bewegen.
Beard schrieb zwar wie erwähnt, dass vor allem geistig tätige Amerikaner von der Krankheit betroffen seien, gleichwohl wurden seine Erkenntnisse auch in Europa begierig aufgenommen, begegnete man doch auch hier ähnlichen Befunden. Der Mediziner Freiherr Richard von Krafft-Ebing prägte den Begriff des »nervösen Zeitalters«, er diagnostizierte eine allgemeine Furcht, die der Mensch hege: »Die nervöse Schwäche der modernen Gesellschaft ist die Ursache der Furchtsamkeit. Wo solche Furcht ganze Bevölkerungsschichten einer Zeit ergreift, ist man berechtigt, von einem nervösen Zeitalter zu sprechen.« Von Krafft-Ebing blieb aber nicht sonderlich wissenschaftlich-medizinisch-neutral, sondern verbarg in seiner Analyse des nervösen Zeitalters eine konservative Kritik an den Zuständen in den Großstädten: »Die Furcht vor Seuchen, politischen Umwälzungen, Börsenkrachs, vor dem Socialismus u. a. schrecklichen Dingen erhält unzählige Menschen in permanenter Sorge (…)« Nicht nur vor der Gefahr des Sozialismus etc. wird gewarnt, auch Frauenemanzipation, moderne Ehen (über soziale Schranken hinweg), verluderte Erziehung, die politischen Forderungen der untersten Klasse und ähnliche neuere Tendenzen bedrohten gemäß von Krafft-Ebing das (bürgerliche) menschliche Nervenkostüm. Und natürlich das Stadtleben (Vgl. Die Stadt und die Nerven): »Die Grossstadt liefert (die Reizmittel) in Form von Schauerdramen, Ehebruchkomödien, Trapezkünstlern, nervenerschütternder und aufregender Musik, die Sinnlichkeit und das Auge reizender Bilder, Schaustellungen, starken Wein, Cigarren, Likören, Clubs, Spielhöllen, Liebesabenteuern, Nachrichten von Verbrechen und Unglücksfällen (…)«
Es gab auch vehemente Kritiker des Konzepts der Neurasthenie. Der Neurologe Henri Zbinden meinte etwa: »Il n’y a ni hystérie ni neurasthénie, il n’y a que les symptomes nerveux.« Gerade in den Metropolen Deutschlands, wo die Leute unter Arbeitsüberlastung, Essstörungen, Erschöpfungsdepressionen, Schlafstörungen, sexuellen Störungen etc. litten und die Arztpraxen stürmten, wandten sich immer mehr Mediziner der Untersuchung der Nervenschwäche zu. Und sie kamen immer wieder auf Stichwörter zurück, die Georg Simmel in seinen Analysen und Baudelaire in seinen Gedichten gebraucht hatten. Der bekannte Nervenarzt Wilhelm Erb war der Ansicht, Beschleunigung und Ruhelosigkeit bedingten es geradezu, dass reizbare Nerven daran erkrankten, denn durch »den ins unangemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert: alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für Geschäfte benützt, selbst die ›Erholungsreisen‹ werden zu Strapazen für das Nervensystem.« Und dies war lebensbestimmend. In Heinrich Manns Novelle Doktor Biebers Versuchung stellt sich ein Herr Sägemüller vor, indem er sagt: »Ich bin Neurastheniker. Dies ist meine Profession und mein Schicksal.« Doktor Bieber ist Arzt in einer Klinik für leichtere Nervenkrankheiten. Aber dieser Arzt ist etwas überfordert mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern, denen er sich gegenübersieht, er findet keine medizinische Antwort auf die Symptome. So lässt er in seiner Ratlosigkeit etwa Richard Wagners Liebestod-Szene aus Tristan und Isolde spielen, da sich dann meist die Gesichtszüge der Patienten etwas entspannen, oder er versucht sich im Tischrücken und ähnlichen spiritistischen Séancen. Obskure Methoden werden angewendet, das medizinwissenschaftliche Wissen war noch nicht vorhanden. Der Skeptiker Sägemüller kann Doktor Bieder entlarven. Seriöse Ärzte suchten nach anderen Therapien.
Zur Behandlung der Neurasthenie rückten Bade- und Höhenkuren immer mehr in den Vordergrund. Es ging für den Einzelnen darum, die Umgebung, die die Symptome ausgelöst haben, zu verlassen, den Stress abzubauen, die Reize zu minimieren, schädigende Substanzen zu vermeiden, den Körper moderat zu kräftigen, in hygienisch einwandfreier Umgebung zu kuren und Erholungsreisen langfristig zu planen. Erb schreibt: »Besonders die Neurasthenie ist es, welche weitaus die grösste Bedeutung hat in unseren Tagen (…) sie ist es, welche den Nerven- und Wasserheilanstalten zu einer ungeahnten Blüte verholfen hat, welche Scharen der Erholungsbedürftigen zur Sommerzeit in Wald und Berge (…) entsendet.«
Höhenkur
Hermann Weber hatte zusammen mit M. D. Bonn und F. R. C. P. Lond die Wirkungen von Aufenthalten und insbesondere Wanderungen in den Alpen untersucht und war zu folgenden Schlüssen gelangt:
»The most frequent cases coming under this head are those of men, and also women, who have worked hard mentally in their various occupations, such als literary men, scientists, teachers, and other professional men, who have not taken sufficient open-air exercise, have perhaps taken at the same time more food than was useful for their systems, and who, in consequence, have become irritable, sleepless, dyseptic, listless, depressed, and unable to concentrate theirs thoughts – they have, in short, lost mental and bodily energy. In these cases, if they are free from so-called organic disease, a tour in the Alps of from three to eight weeks’ duration, usally exercises a better effect than any other form of holiday.«
Die Autoren gingen im weiteren auf medizinische Aspekte des Durchblutungs- und Lungenapparats ein, die ihre These stützten, warnten aber auch vor körperlicher Überanstrengung und pochten darauf, die psychische und körperliche Konstitution bei der Wahl des Höhenaufenthalts unbedingt zu berücksichtigen. Solche medizinischen Erkenntnisse wurden natürlich von Ärzten in allen Höhenkurorten mit Freuden aufgenommen, selbstredend auch von den Touristikern. Es konnte medizinisch begründet werden, dass das schon seit längerem verfolgte touristische Modell, demzufolge sich längere Aufenthalte in Höhenkurorten positiv auf das allgemeine Wohlbefinden auswirkten und das geschundene großstädtische Nervenkostüm beruhigten und heilten, richtig sei. Die Kurärzte den Alpen nahmen auch gerne zur Kenntnis, dass die potentiellen Patienten im überarbeiteten, geistig tätigen Bürgertum rekrutiert werden konnte, jetzt galt es nur noch, die Tuberkulosekranken weiterhin fernzuhalten. St. Moritz erinnerte sich gerne an Wilhelm Erbs Aussagen bezüglich Höhenkuren und bat ihn später um ein Gutachten, dass die Untauglichkeit des Engadins für Schwindsüchtige bezeugt. Man wollte die Neurastheniker in den schicken Hotels und nicht die gefährlichen Lungenkranken auf den Austernbänken.
Ab etwa dem Jahre 1900 wurde für die Mediziner immer offensichtlicher – auch für jene, die sich nicht sonderlich für die ärmeren Schichten interessierten –, dass die Neurasthenie auch in der Arbeiterschicht sehr verbreitet war, dass also auch körperlich auslaugende, anstrengende Tätigkeiten zu Nervenschwäche führten. Vorher wollte dies niemand wahrhaben, oder entsprechende Befunde konnten sich kein Gehör schaffen. Jene Schichten konnten es sich aber nicht leisten, sich mehrere Monate in mondänen Kurorten zu heilen.
So schnell, wie das Phänomen der Neurasthenie aufgetaucht war, verschwand es nach dem Ersten Weltkrieg auch wieder. Einerseits hatte sich mit der Entwicklung der psychiatrischen und psychodynamischen Forschung wie auch mit neueren Erkenntnissen zu Angst- und Zwangsneurosen und zur manischen Depression das Feld psychischer und somatischer Krankheiten weiter aufgefächert und differenziert; auch Freud äußerte sich zur Neurasthenie und führte sie auf übermäßige Masturbation zurück. Es war kaum mehr sichtbar, wie sich die Nervenschwäche wirklich von anderen Krankheitsbildern unterschied und ob nicht doch organische Defizite eine Rolle spielten. Der Engadiner Arzt Otto Veraguth untertitelte sein Buch über Neurasthenie sinnigerweise mit »Eine Skizze«. Darin kritisierte er, dass der Begriff Neurasthenie überstrapaziert würde und sie ein »Faulheitspolster der Diagnostik« geworden sei. Veraguth redete einer Differenzierung und klareren Abgrenzung das Wort, aber auch seine Rettung des Konzepts war letztlich erfolglos. Andererseits – und das war ja der interessante Aspekt dieses Ansatzes – hatten sich die sozialen Verhältnisse stark gewandelt. »Vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Hyperinflation konnte sich die männliche Elite den Luxus nicht mehr leisten. Auch die Erfahrungen Zehntausender Kriegsversehrter, die Opfer der Materialschlacht geworden waren und häufig mit schwersten Traumatisierungen zurückkehrten, machten Zivilisationskrankheiten wie die Neurasthenie zu bagatellisierbaren Leiden.«
Neurasthenie war eine Erscheinung, die in Variationen noch zweimal in westlichen Gesellschaften wiederkehren sollte: als Managerkrankheit in den 1950er-Jahren und als Burnout ab den 1990er-Jahren.