Hier gibt’s den Teil 1
In den Diskussionen über eine allfällige Unterstützung der angegriffenen Ukraine fällt die zögerliche Politik gegenüber russischen Potentatengeldern auf, die in der Schweiz lagern. Gelder, die an den Apfel des Deutschen auf dem Kesch gemahnen, den verführerischen Apfel des Sündenfalls. Die Regierung bietet nicht einmal Hand, in einer internationalen Taskforce mitzutun, die diese Gelder weltweit zu orten sucht. Auch beim Handel mit Erdöl dauerte es auf der global einflussreichen Rohstoffdrehscheibe Schweiz lange, bis – auf internationalen Druck hin – das Ölembargo gegen Russland umgesetzt wurde. Zudem wurde heftig darüber debattiert, ob mit der Einwilligung zur Wiederausfuhr von an Deutschland gelieferten Panzern in die Ukraine die Neutralität geritzt würde. Einerseits verletzt diese Praxis das Kriegsmaterialgesetz, da indirekt Waffen via Deutschland an eine Kriegspartei geliefert und also ja, die strikte Neutralität ausgehebelt wurde. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Schweiz die Souveränität unseres nördlichen Nachbarsland nicht gewähren will, weil das hiesige Kriegsmaterialgesetz dies verbietet. Selbst wird jedoch die eigene Souveränität bis hin zur Isolation inbrünstig reklamiert. Oder anders gefragt: Ist ein Kriegsmaterialgesetz, das die Souveränität eines anderen Staates einschränkt – bei aller Sympathie für den Pazifismus – noch zeitgemäss? Oder brauchte es präzisere Wiederausfuhrbestimmungen? Den einen liefert man den Springer und den Bauern, dem anderen verweigert man den Läufer. Neutral?
Manchmal beschleicht einem das Gefühl, die Passivität oder das Gewähren-lassen sei nicht nur eine beduselte Verklärung der eigenen Position, nicht nur eine Verkennung der Realität und nicht nur ein Warten unter einem Obdach, bis das Gewitter vorbeigezogen ist, sondern der Bartlebysche Widerstand des »Ich würde es vorziehen, es nicht zu tun«. Die hartnäckige Weigerung des Kopisten Bartleby in Herman Melvilles Erzählung Bartleby, der Schreiber, eilige Geschäfte seines Chefs vorzuziehen und umgehend zu erledigen, bringt Letzteren fast um den Verstand. Bartleby führt seine Arbeiten streng nach chronologischem Auftragseingang aus, da passt es nicht, die Reihenfolge wegen Dringlichkeit durcheinander zu bringen. Realitätsverweigerung aus Prinzipientreue. Der passive Widerstand des Untergebenen strapaziert die Nerven. Der Anwalt ringt um seine Haltung, die sich zwischen Irritation, Zorn und Mitleid bewegt, denn eigentlich ist er dem stillen Schaffer sehr zugetan. »Es ist nicht selten der Fall, dass ein Mensch, wenn ihm auf eine noch nie da gewesene und krass der Vernunft widersprechende Weise entgegengetreten wird, in seiner eigenen, simpelsten Überzeugung zu schwanken beginnt.« Bartleby zieht sich immer mehr zurück und erleidet schließlich eine Augenkrankheit, sodass er gar nicht mehr arbeiten kann und sozusagen zu einem Möbelstück in der Kanzlei wird. Er lässt sich rundweg nicht helfen. Der Anwalt wechselt das Büro, Bartleby bleibt in seiner Kopierstube zurück.
Wenn wir uns das bisher Beschriebene vor die unbenebelten und nüchternen Augen führen, kippt die Waage auf jene Seite, die einen Wetterumsturz anzeigen. Es geht kaum mehr um das alltäglich Wiederkehrende, der Blick weitet sich, die Probleme liegen tiefer. Der britische Journalist Edmund Fawcett sieht das ähnlich. In seiner Auseinandersetzung mit konservativen politischen Strömungen stellt er fest, dass die Rechten sich mit der geopolitischen Lage nach dem Ende des Kalten Krieges schwertun (NZZ am Sonntag, 30.6.2024). Fawcett meint, bei Konservativen fehlten die Ideen, man würde »im Dunkeln gelassen«, wofür sie stünden. Ähnliches sei bei der Linken festzustellen. Alle bewegen sich im Modus des Tagesgangwetters. Übergeordnete Vorstellungen, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll, werden kaum verhandelt. Glaubwürdige Weltanschauungen beziehungsweise Theorien oder Ideologien sind als zu kompliziert, elitär, suspekt und dünkelhaft verschrien. Die Großwetterlage wird kaum mehr wahrgenommen. Als drohende Wolkengebilde am politischen Horizont werden je nach Gusto allenfalls Sozialismus, Neoliberalismus, Konservatismus, Nationalismus oder gar Faschismus raunend erwähnt. So dass es jüngst zu bemerkenswerten Wahlresultaten kam. Im Vereinigten Königreich und in Frankreich wurden nicht Labor bzw. die Nouvelle Union Populaire, Écologique et Sociale für ein mitreissendes Programm belohnt, sondern die Tories für chaotisches Regieren bestraft bzw. das Rassemblement National verhindert. Wenn wir eine unerwünschte Politik abwehren wollen, sehen wir eine Sturmfront auf uns zukommen, die alles wegfegt. Das könnte tückisch sein, weil wir die dahinter aufziehende Front, die noch gefährlicher sein könnte, ignorieren. Kündet sich also ein fundamentaler Wetterumschlag an? Tschüss Omega-Hoch? Willkommen Illiberalismus? Ein kurzer Blick gen Osten.
Venedikt hat in seinem Leben den Kreml noch nie gesehen, obwohl er schon etliche Male in nüchternem, verkatertem oder betrunkenem Zustand durch Moskau gegangen ist. Auch am Vortag, an dem die Handlung des Buches Moskau – Petuški von Wenedikt Jerofejew einsetzt, war er wieder in der Gegend. Aber immer »wenn ich nach dem Kreml suche, lande ich unweigerlich am Kursker Bahnhof«. Von dort fährt der Vorortszug nach Petuški. Diesen besteigt Venedikt und damit beginnt eine schwindelerregende, ins Surrealistische kippende Zugfahrt. Das grandiose Poem verfasste Jerofejew 1969 und war zuerst nur als Samisdat greifbar. Die alkoholgetränkte Reise von Moskau »zum Licht in Petuški«, wo die Geliebte den Erzähler erwarten soll und wo der Jasmin immer blüht, erlangte weltliterarischen Ruhm. Ist das »verhurte« und heruntergekommene Petuški das Paradies oder – wie der Übersetzer Peter Urban schreibt – das »unerreichbare neue Jerusalem der Johannesoffenbarung«, also die Apokalypse? Der Zugreisende strebt nach Glück und Erlösung – aber von Station zu Station lässt er sich bis fast zur Besinnungslosigkeit volllaufen. Venedikt findet nur das Gegenteil von Glück. Im Gewirr des Bahnsteigs in Petuški steigt er versehentlich in den Zug zurück nach Moskau, wo er letztlich von finsteren Gesellen umgebracht wird. Die Hoffnungen zerschellen an der Wirklichkeit, die Fahrt geht zurück und endet in Düsternis und Tod. Auf dem Streckenabschnitt zwischen Orechovo-Zuevo und Krutoe referiert Venedikt über die Interventionen (wie in der Tschechoslowakei oder in Ungarn), zu denen Russland meint, verdammt zu sein, denn »um die im Krieg zerstörte Wirtschaft wiederaufzurichten, muss man sie zuerst zerstören, und dazu ist ein Bürgerkrieg nötig oder irgendein Krieg, wir brauchen mindestens zwölf Fronten«. Kriegserklärungen gehen an die halbe Welt. Krieg als Daseinsgrund. Daher türmen sich gewaltgesättigte Wolken zu einem Katastrophengewitter auf. Jerofejews Namensvetter Viktor spitzt zu: »Russisches Glück heißt Zerstörung… Russisches Glück – das ist die Verletzung jeder Norm.« (NZZ, 26. Juli 2024)
Die Suche nach dem Heil führt in die Zerstörung. Von den zahlreichen Begründungen, die der russische Präsident für den Überfall auf sein Nachbarland nennt, seien hier nur zwei erwähnt. Erstens: Der Kampf gegen die Ausdehnung der westlichen Einflusssphäre, was gleichbedeutend ist mit der Ausbreitung gottloser Dekadenz, wie etwa die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative oder die Pressefreiheit (stört alles beim Durchregieren) oder Genderwahn (stört das Männerbild) und ähnliches, die den Zerfall des Westens begründen. Russland soll vor diesem Ungemach verschont bleiben. Dies wird unter anderem zweitens durch die Rückholung und Sicherung der Kiewer Rus erreicht. Denn mit der Vermählung des nordischen Herrschers Wladimir I. mit Anna, der Tochter des byzantinischen Kaisers, im Jahre 988 beginnt der Aufstieg des russischen Imperiums unter orthodox-christianisierter Flagge. Die Kiewer Rus stellt aus dieser Perspektive die Urzelle der russischen Nation und Expansion dar. Es geht um die Selbstvergewisserung der eigenen Macht. Weitere ins Feld geführte Gründe, wie etwa die Bekämpfung des Faschismus oder die Befreiung der russischstämmigen Ukrainer, verdeutlichen die trunkenen Realitätsverdrehungen, die die Kreml-Führung dem Volk beliebt machen will. Bisher resultiert daraus Vergewaltigung, Verschleppung, Folter, Leid, Tod und Zerstörung. Zynismus. Und es gibt einflussreiche, russische Politiker, die träumen besoffen von einem Imperium, das von Lissabon bis Wladiwostok reicht. Solche Verlautbarungen dürfen nicht bagatellisiert werden, denn der Anteil der Kriegswirtschaft am russischen Bruttosozialprodukt ist auf sechs Prozent gestiegen und etwa ein Drittel der Staatsausgaben fließen zum Militär. Die Wolken wachsen hoch in den Himmel. Und sie fallen in der Nacht nicht in sich zusammen.
Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch schreibt, viele Intellektuelle im Westen hätten noch nicht verstanden, wie ernst die Lage ist. Sie sollten endlich auf die Polen, Litauer, Letten etc. hören, die das »Russki Mir« (Einheit alles Russischen) am eigenen Leib erfahren haben. »Wer diese Traumata nicht geerbt hat, kann sie nicht verstehen. Ihr wisst wirklich nicht besser als wir, was Russland ist. Nie rollten russische Panzer in den Vororten von Paris… Eure exotiktrunkenen Abhandlungen über die ›russische Seele‹ sind wertlos, all die Jahre habt ihr jede euch von Russland eingeflüsterte Erzählung für bare Münze genommen.« (NZZ, 6. April 2022)
Es ist Zeit, auszunüchtern. Kehren wir der Realität des abtauchenden Autos nicht den Rücken zu. Lehnen wir den Apfel ab, den uns ein Potentat entgegenstreckt. Werden wir uns gewahr, wohin die Zugfahrt ins Paradies wirklich führt. Schauen wir genau in den wolkenverhangenen Himmel. Unterstützen wir uns gegenseitig, damit wir nicht so enden wie der starrsinnige Bartleby, der sich partout nicht helfen lässt und einsam und verlassen von allen im Gefängnis dahinsiecht. »O Bartleby! O Menschheit!«