Vom Tagesgangswetter zum Dauertief (Teil 1)

Meteorologie, Literatur, Politik
Ein Versuch, mit Alfred Andersch, Max Frisch, Herman Melville und Benedikt Jerofejew Fragen der Gegenwart zu beleuchten. Was haben die Herren des 20. Jahrhunderts zur geistig-politischen Lage des 21. Jahrhunderts zu sagen?
Sowjetrussische Architektur in Riga (Lettland): Lettische Akademie der Wissenschaften
Sowjetrussische Architektur in Taschkent (Usbekistan): Hotel Usbekistan
Sowjetrussische Architektur in Kaunas (Litauen): Hauptpost

Und nun zum Wetter. Auf einer Isobarenkarte erkennen wir die Luftdruckverteilung über einer Region, einem Land, einem Kontinent. Die geschwungenen Linien, die durch Punkte mit gleichem Luftdruck gezogen werden, ähneln den Höhenkurven einer Landkarte. Bei sommerlichen Hochdrucklagen kommt es zuweilen zu einer flachen Druckverteilung. Das Wetter wird von lokalen Bedingungen und kurzfristigen Entwicklungen geprägt. Meteorologen sprechen dann meist von Tagesgangwetter. Die Sonne heizt die Erdoberfläche auf. Dabei dehnt sich die Luft aus und steigt auf. Es bilden sich Warmluftblasen. Der Platz für diese Thermikpakete wird, je grösser sie werden und höher sie steigen, enger. Ein Teil des Wasserdampfes kondensiert und es entstehen Wolken, die schnell wachsen. Solche Blumenkohlwolken genannten Türme können sich zu Regen- und Gewitterzellen aufbäumen. Blitz, Donner, Hagel, Regen und Sturmböen sind die Folgen. In Bergregionen erwärmt sich die bodennahe Luft an den Hängen schneller als in der Ebene. Zudem ist dort das Luftvolumen kleiner als im Tal. Eine bergige Landschaft unterstützt die Bildung von Quellwolken, Gewitter sind häufiger als im Flachen. Dort bleiben die Wolken häufig harmlos, verdecken lediglich die Sonne. Es gibt milchiges Licht. Am Abend fallen die Wolken in sich zusammen, es klart auf. Meist gibt es eine ruhige Nacht und am nächsten Tag beginnt das ganze Prozedere von Neuem. Manche neigen zur Auffassung, dass dies Tage ohne Wetter sind. Die Luftdrucknadel zeigt auf gut, das Wetter ist aber dunstig, bedeckt und in den Bergen gewitterhaft.

In den 1990er Jahren wird der Sieg des Liberalismus über den realen Sozialismus gefeiert und das »Ende der Geschichte« ausgerufen. Ein stabiles Omega-Hoch der vermeintlich siegreichen (sozial)liberalen Gesellschaft hat sich aufgebaut, die Bedingungen für Tagesgangwetter sind gegeben. Die politischen Debatten werden fortan von tagesaktuellen Fragen bestimmt. Kleinräumige, lokale, private, unmittelbare Probleme rücken in den Vordergrund. Tagesgangpolitik. Von Rechten werden etwa ein zu hoher Ausländeranteil, ein aufgeblähter Staat oder Wokeismus bekämpft, Linke prangern die zu hohen Mieten, die zu tiefe Besteuerung der Superreichen oder die zu wenigen Fahrradwege an. Politische Überzeugungen werden auf einer praxisnahen Ebene operationalisiert. Denn eigentlich lebt es sich ganz gut. Die Vorteile des Hochs werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Tagesgang-Gewitter, wenn es denn welche gibt, entladen sich, die Wolken fallen in sich zusammen. Und am nächsten Tag scheint morgens die Sonne, dann erhitzt die Genderdebatte oder die zu wenigen Kinderkrippen die Luft. Das ganze Programm beginnt von Neuem. Die immergleiche Abfolge von Erwärmung, Wolkenbildung, Entladung spiegelt uns vor, dass tagtäglich das gleiche Stück gespielt wird. Wie das Restaurantschild im indischen Udaipur, wo einst ein James-Bond-Film gedreht wurde, das verkündet, »yesterday Octopussy, today Octopussy, tomorrow Octopussy« zu zeigen.

Nun wird die Luft seit den Nullerjahren von nationalkonservativen, nationalistischen, intoleranten oder aber kruden sozialistischen Inhalten erhitzt. Diese Stürme setzen der Politik zu. Politischer Wasserdampf? Tagesgangwetter? Klart es über Nacht wieder auf? Fallen die Wolken in sich zusammen? Es bestehen Zweifel. Selbst der Verkünder des Endes der Geschichte Francis Fukuyama räumt ein, das ewige Omega-Hoch etwas voreilig ausgerufen zu haben. Muss die meteorologische Metapher – im wahrsten Sinne des Wortes – vertieft werden, da ein kräftiges Sturmtief aus dem Osten eine markante Schlechtwetterperiode ankündet, die die Gewitter der Tage ohne Wetter wie Kinkerlitzchen erscheinen lassen? Es begann mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und Teilen des Donbass durch russische Truppen. Ist dieser gewaltsame Akt noch der Tagesgangpolitik mit ihrem Fokus auf das Kurzfristige und Lokale zuzuordnen?

Leute, die Tage ohne Wetter lieben, neigen zu einem vagen Ja. Denn sie haben sich mit der Wiederkehr des Immerähnlichen bestens arrangiert. Sie lieben den Schimmer von Unbestimmtheit – die Soldaten, die die Krim besetzten, trugen nicht einmal militärische Abzeichen. Sie lieben die sanfte Unschärfe. Das Charakterlose. Lothar Witte aus Alfred Anderschs Erzählung Ein Liebhaber des Halbschattens (1963) ist ein Freund solcher diffusen Tage. Und so schätzt er auch das »neutrale Halbschattenlicht einer gleichmäßigen, hohen Wolkendecke«. Beruflich beschäftigt sich der Mediävist mit sonderbaren Spiritualisten. Etwa mit Amaury de Bène, ein Gelehrter, der kein Buch hinterlassen hat. Alles, was man von ihm weiss, ist aus zweiter Hand. Witte mag solche Außenseiter – und wird selbst einer. Damit verbaut er sich eine universitäre Karriere. Und er wird zum Mann ohne Schatten. Setzt sich Witte ins Café, dann nie ins Licht, auch nicht in die dunkle Ecke, sondern dazwischen. Dort fühlt er sich wohl. Zudem trinkt Witte gern und übermäßig. Betrunken ist er auch an jenem matten, weißlichen Tagesgangwetter-Nachmittag, an dem er mit seiner Mutter durch die damalige DDR fährt. Er kommt unerlaubterweise von der Interzonen-Chaussee ab, verliert sich in den Wäldern, gelangt an einen See, der überquert werden muss. Eine Fähre legt an. Er steuert auf die Laufplanken des Floßes, steigt aus, die Mutter bleibt im Wagen. Witte beginnt ein Gespräch mit dem spröden Fährmann und aus lauter Besoffenheit nimmt er nicht wahr, was in seinem Rücken geschieht. Das Auto rollt los, kippt über den Rand und versinkt samt Mama im Wasser. Trunkenheit evoziert Unschärfe. Die Wahrnehmung und die Handlungen zerfließen. Handbremse? Wieso? Ach so. Lange Zeit sorgte die Besetzung der Krim und des Donbass in den Medien kaum für Schlagzeilen. Sehr selten tauchte sie auf der Frontseite auf, etwa als das Minsker Abkommen verhandelt wurde. Dann wandte man der völkerrechtswidrigen Besetzung wieder beduselt den Rücken zu. Bis zur russischen Invasion 2022.

Es braucht nicht zwingend Cognac, um sich zu berauschen. Manchmal genügt die Verklärung der Vergangenheit. Das müssen nicht einmal heroische Taten sein, Nicht-Taten tun es auch –imaginierte Nicht-Taten ebenfalls. Die Schweizerische Volkspartei mag die Wiederkehr des Immerähnlichen ebenfalls. Bekanntlich hat sie eine Volksinitiative lanciert, mit der sie ihr Verständnis von Neutralität in der Verfassung verankern will. Die Schweiz soll sich militärisch autonom verteidigen. Aus der internationalen Zusammenarbeit klinkt sie sich aus. Im Argumentarium schreiben die Initianten: »Die Neutralität ist mehr als nur die Nichtteilnahme an Konflikten. Sie bedeutet den freiwilligen Verzicht auf äussere Machtpolitik.« Sich also von kriegerischen Handlungen fernhalten und dabei schadlos davonkommen und dabei »geistig und moralisch« frei bleiben, lautet das Credo. Der Neutrale bleibt draußen. Das habe Jahrhunderte lang funktioniert, wieso also nicht »immerwährend«? Seit 1974 gehört Paul Watzlawicks Axiom, man könne »nicht nicht kommunizieren« zum allgemeinen Wissensschatz. Also ist Isolation auch eine Botschaft: Die Schweiz wehrt sich allein und ohne Kooperationszwang. In der Umkehrung bedeutet das, das Land könnte isoliert angegriffen werden, ohne dass allfällige Partner verpflichtet wären, den Angegriffenen zu Hilfe zu kommen. Mehrere Fachleute aus Geschichte, Militär und Recht kritisieren diese erratisch-isolationistische Sichtweise. Die gelebte Neutralität habe sich stets der geopolitischen Konstellation angepasst und die Schweiz habe sich mitnichten in Konflikten nicht beteiligt. Wie verhält es sich etwa mit der Reisläuferei, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts verboten wurde? Also lange nach dem Wienerkongress, wo die Großmächte der Schweiz die Neutralität garantiert hätten. Der Historiker Sacha Zala schreibt zudem zur wirtschaftlichen Verflechtung der Schweiz mit den Achsenmächten im Zweiten Weltkrieg: »In dieser Situation ersannen die Handelsdiplomaten das Konzept des Courant normal: Sie argumentierten, dass man keineswegs ein Kriegsgewinnler sei, sondern nur normalen Handel betreibe… Diese Erklärung leuchtete den Alliierten nicht ein und die Schweiz galt 1945… als Schurkenstaat.« (NZZ Geschichte, Mai 2024) Das Land hat in der Vergangenheit wiederholt wirtschaftlich auf Kosten anderer profitiert und sich um die Neutralität foutiert. Die historischen Fakten sind vielschichtiger als von der größten Schweizer Partei dargestellt, eine gradlinige Entwicklung einer vom internationalen Kontext losgelösten Neutralität ist nicht festzustellen. Die Trennlinie zwischen Aussenwirtschaftspolitik und Machtpolitik ist längst zerflossen. Wenn Schweizer Regierungsmitglieder andere Staaten besuchen, werden sie stets von einem Tross von Wirtschaftsleuten begleitet. Trunken geben sich die Initianten dem Selbstbetrug hin, dass Handel die Neutralitätspolitik nicht tangiere. Die Volkspartei schreibt weiter, der Handelsumfang (notabene: ohne Kriegsmaterial) mit Kriegsparteien soll gleich wie in Friedenszeiten bleiben. Zwischen Aggressor und Angegriffenem wird nicht unterschieden. Courant normal. Wenn beispielsweise nach dem Überfall auf die Ukraine der Handel mit Russland gleich hoch sein soll, ist das eine Bankrotterklärung an eine einleuchtende, neutrale Aussenpolitik und eine argumentationslogische Sackgasse. Die Schweiz exportierte im Jahre 2021 Waren im Wert von 6,8 Milliarden Schweizer Franken nach Russland (Quelle: NZZ), in die Ukraine waren es 831 Millionen Schweizer Franken (Quelle: Eidgenössisches Amt für auswärtige Angelegenheiten EDA). Man stelle sich ein Schachspiel vor, in dem die beiden Kontrahenten relativ zu ihrer ökonomischen Größe regelmäßig mit Figuren aus der Schweiz beliefert würden. Russland bekäme zwei Läufer, einen Springer und drei Bauern wie bisher; die Ukraine – ebenfalls wie bisher – zwei Bauern. Wer profitiert am Ende mehr davon? Und ist das neutral? Diese Haltung kann nur als widersprüchlich und weltabgewandt bezeichnet werden. Schurkenstaatlogik. Sie gleicht jener des Mediävisten Witte auf dem Kahn: Selbstzufrieden, wohlig trunken und mit dem Rücken zum wegrollenden Auto verliert er den Blick auf das Ungeheuerliche, das tatsächlich passiert. Dafür beginnt er ein harmloses Gespräch mit dem Fährmann. Wobei für einmal die Wirklichkeit der Fiktion noch einen draufsetzt, denn es gibt welche, die schauen den Ungeheuerlichkeiten zu und denken dabei, selber schuld.

Bleiben wir kurz bei Trunkenheit und harmlosen Gesprächen. Ein Mann, dessen Name Gantenbein sei, kommt rauchend und trinkend an einer Theke einer Hotelbar ins Sinnieren, und je beduselter er wird, umso gegenwärtiger wird ihm ein Erlebnis, das lange zurückliegt: »Ich denke an den Mann vom Kesch. (…) Die Geschichte eines Mordes, den ich nicht begangen habe«, schreibt Max Frisch im Roman Mein Name sei Gantenbein. An jenem Tag im Frühling des Jahres 1942 steigt der Soldat Gantenbein im Diensturlaub auf den Berg im Bündnerland. Mutterseelenalleine, so meint er, findet er sich frühmorgens unter dem Gipfelkreuz wieder. Er ruht sich aus, legt sich hin, döst weg. Aber sein Nickerchen wird von einem »Grüssi!« unterbrochen. Ein Deutscher! Mitten im Krieg. Hier oben. Mit Feldstecher. Und Landkarte. Aber werden Landkarten in Kriegszeiten nicht konfisziert? In der Geografie kennt er sich aus, Bernina, Rosatsch, Palü sind ihm geläufig. Ein Liebhaber des Engadins? Wohl eher ein Spion. Es entspinnt sich eine Plauderei über Berge und Flora. Der Deutsche lässt Gantenbein durch den Feldstecher gucken, der Soldat offeriert Veltliner aus der Feldflasche. Zum Abschied überreicht der Gast Gantenbein einen Apfel, dazu sagt er noch etwas über das Land, das bald »zum Reich gehören werde«. Gantenbein ist sprachlos. Dann macht sich der Deutsche auf den Weg. Gantenbein beobachtet, wie er ins Tal hinuntersteigt. Er legt sich nochmals hin und als er aufwacht, hat er den Gedanken, dass er den Mann über den Felsen gestossen habe. Beim Abstieg stellt er sich vor, wie der Deutsche das Couloir hinuntergerutscht wäre, seinen Kopf an einem Stein aufgeschlagen und er ihn mit zerschmettertem Schädel auf einem Schneefeld gefunden hätte. Aber eben, er hat es nicht getan. Der Tag auf dem Piz Kesch war nicht wolkenverhangen, aber Gantenbein reagierte unbeholfen, ließ den Gast gewähren, war passiv. Oder neutral?

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)