Rechnen für die Praxis.
Die NZZaS schaut am 18. Oktober 2020 in die mathematischen Eingeweide der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Sieht man sich die Expertinnen und Experten an, die im Zusammenhang mit der Pandemie häufig in den Medien zitiert und interviewt und zu Gesprächsrunden eingeladen werden, fällt auf, dass viele von ihnen eine solide mathematische Ausbildung genossen haben. Klar, bei Epidemiologen stellt diese Disziplin die Grundlage dar. Aber dass die Mathematik eine solch entscheidende Rolle bei einer medizinischen Notlage spielen würde, war vielen nicht bewusst. Für Sebastian Bonhoeffer, Professor für theoretische Biologie an der ETH, war es jedoch wichtig, »dass meine Forschung relevant ist – und vielleicht Leben retten kann«, sagt er gegenüber der NZZaS. »Mir war schon damals (während seiner Doktorarbeit am Departement für Zoologie in Oxford bei Robert May, der den R-Wert erfand, a.s., ) klar, dass der mathematische Ansatz bei der Betrachtung eines Infektionsgeschehens große Zukunft hat.« Zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an der ETH saßen vor allem Physik-, Mathematik- und Informatikstudentinnen und -studenten in seinen Vorlesungen zu quantitativen Methoden in der Biologie. Erst mit der Zeit füllten sich die Reihen auch mit Biologen. Bis dann die Bioinformatik, die computerbasierte Biologie und die digitale Medizin zu zentralen Bestandteilen eines Biologiestudiums wurden.
Bekanntlich haben nicht alle Verantwortlichen in Politik und Verwaltung ein offenes Ohr für die Mathematik-basierte Perspektive der Pandemie. Und auch von den sogenannten Coronaskeptikern, die es zuweilen mit den mathematischen Fakten nicht so genau nehmen, schlägt den theoretischen Biologen viel Kritik entgegen. Die Furcht vor einer Expertendiktatur geht um. Und dass die Wissenschaftler nur die eigene Karriere im Blick haben. Solche Anfeindungen kann Bonhoeffer nicht verstehen, zumal gerade er eher im Hintergrund operiert. »Wenn uns vorgeworfen wird, dass wir auf den eigenen Vorteil bedacht seien, schmerzt mich das. Die Forscherinnen und Forscher – auch viele junge, die nicht im Rampenlicht stehen – waren schnell, freiwillig und unentgeltlich zur Stelle, um den Entscheidungsträgern die wissenschaftlichen Grundlagen zu liefern . Ich glaube, dass wir in einer solchen Krise unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen müssen, mehr als Bürger denn als Forscher. Wir können uns in einer solchen Situation nicht einfach im Elfenbeinturm verkriechen.«
Es gab Zeiten, als der ehemalige Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten beim BAG Daniel Koch gerade dies wünschte. Es war eine seiner Fehleinschätzungen.
Rechenfehler oder: Die Tücken des Contact-Tracing.
Theres Lüthi berichtet in der NZZaS vom 18. August 2020 über eine wichtige mathematische Entdeckung, die in den Räumen der ETH stattgefunden hat. Anhand des Infektiositätsprofils versuchen die Contact-Tracer jene Leute zu suchen, die mit einer infizierten Person Kontakt gehabt haben, um sie in Quarantäne zu schicken. Dabei gehen die Tracer davon aus, dass ein Infizierter zwei Tage bevor die ersten Symptome auftreten, bereits andere anstecken kann. Die Kontakte müssen also zurückverfolgt werden bis zum Datum des Ausbruchs plus zwei Tage weiter zurück. Wichtig ist zudem die Erkenntnis, dass die Hälfte aller Ansteckungen vor dem Krankheitsbeginn stattfinden. Das ist das Heimtückische an der SARS-CoV-2-Pandemie und gleichzeitig der wesentliche Unterschied zum SARS-CoV-Ausbruch 2002/2003. Damals war erst nach Auftreten der Symptome die Übertragung auf andere Menschen möglich. Grundlage für diese Berechnungen war eine Untersuchung um den Epidemiologen Gabriel Leung von der Universität Hong Kong.
Weltweit haben Contact-Tracer mit diesem Wissen gearbeitet. Forscher an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH) haben nachgerechnet und einen Fehler entdeckt. Der Bericht erschien in der Swiss Medical Weekly. Peter Ashcroft, der den Lapsus bemerkte, sagt: »Unsere Analysen zeigen, dass Infizierte das Virus bis zu fünf oder sechs Tage vor Ausbruch der Krankheit weitergeben können… Will man 90 Prozent der präsymptomatischen Ansteckungen abfangen, müsste man die Kontakte bis zu vier Tage zurückverfolgen.« Die Wissenschaftler der Universität Hong Kong haben ebenfalls nachgerechnet und sind mit der Korrektur einverstanden. Eigentlich, sagen hiesige Epidemiologen, müsste man demzufolge im Contact-Tracing die Zeitspanne der Abklärungen auf vier Tage vor Krankheitsausbruch ausdehnen. Klingt logisch. Das BAG ist am Überlegen und will die Frage mit der Task Force besprechen. Nur: viel Zeit hat man nicht. Einmal mehr steht man vor erheblichen Problemen, denn der Aufwand für das Contact-Tracing würde sich markant erhöhen, sowohl personell als auch finanziell. Dabei ist man jetzt schon am Anschlag. Je nach Region können zum Teil nur ein Drittel der Kontakte ermittelt werden. Aber nicht nur hier drängt die Zeit. Oftmals dauert es bis zu zehn Tagen, bis eine Ansteckung bestätigt wird, denn bis die ersten Symptome eintreten, vergehen fünf bis sechs Tage und nach einem Test am Tag sieben – wenn es so schnell klappt –, verstreichen nochmals ein bis zwei Tage, bis das Resultat vorliegt. Bis ein Infizierter als solcher identifiziert ist, ist er »meist gar nicht mehr ansteckend, das Virus wird er aber längst an andere weitergegeben haben«, sagt Sebastian Bonhoeffer von der ETH. Der Lausanner Epidemiologe Marcel Salathé ergänzt: »Für die Mehrzahl der bestätigten Fälle ist leider nach wie vor unklar, wo sie sich angesteckt haben… Wir wissen auch nicht, ob alle Kontaktpersonen in Quarantäne gehen, ob und wann sie sich testen lassen und welcher Anteil positiv getestet wird.« Die Datenlage ist also ungenügend, Übertragungswege kaum nachvollziehbar. Theres Lüthi zieht ein bedenkliches Fazit: »Angesichts steigender Fallzahlen sind das keine guten Aussichten für den zukünftigen Verlauf der Epidemie in unserem Land.«