Steiner & Schmid VI: Und jetzt?

Ruhe vor dem Sturm
Lesen und spazieren.
Zengarten in Kyoto

Schmid: Du näherst dich an.

Steiner: Wir sind draußen und es bläst eine Bise. Die Bösewichte verteilen sich gut. Prost.

Schmid: Prost. Mit den Gläsern klingt’s besser.

Steiner: Allerdings.

Schmid: Du wirst nachlässig, ich rücke etwas weg. Nimm’s nicht persönlich.

Steiner: Mach’ nur. Aber ich glaube, das Schlimmste ist vorüber.

Schmid: Sei Dir nur nicht zu sicher.

Steiner: Keine Bange, wenn ich etwas gelernt haben sollte, dann dass ich mit Ungewissheit recht gut umgehen kann. Das allgemeine Unwissen beunruhigt mich nicht mehr.

Schmid: Quasi ein asymptomatischer Verlauf. Den meisten ging’s es umgekehrt.

Steiner: Und bei Dir?

Schmid: Was: und bei mir?

Steiner: Das mit dem Unwissen und der Ungewissheit.

Schmid: Keine Ahnung. In gewissen Dingen bin ich unerschütterlich, in anderen nicht.

Steiner: Eine etwas vage Antwort.

Schmid: Alles, was ich weiß, ist, ich muss jetzt wieder mit Leuten abmachen.

Steiner: Zum Beispiel mit mir.

Schmid: Du weißt schon, wie ich es meine. Ich bin ein Gegner dieser unausgesprochenen Übereinkunft, dass nur derjenige ein interessanter und guter Mensch ist, der sich mit möglichst vielen anderen interessanten und guten Menschen trifft – und zwar möglichst häufig. Während der Quarantäne konnte man sich von dieser Pflicht entbinden. Gesundheitspolitisch war es gar eine Heldentat, es nicht zu tun. Für mich eine Erleichterung.

Steiner: Berset hatte mal gesagt, das Leben werde mühsamer. In gewissen Bereichen ist es einfacher geworden. Gewisse Entscheidungen mussten nicht getroffen werden.

Schmid: Genau. Es gibt aber einen Haken.

Steiner: Und der wäre?

Schmid: Auch totalitäre Regime nehmen Dir Entscheidungen ab.

Steiner: Du willst nicht etwa sagen, dass…

Schmid: Nein, nein, keine Bange.

Steiner: Mh.

Schmid: Hast Du was gelesen?

Steiner: Klassiker.

Schmid: Ich auch. Was?

Steiner: Graf Dracula. Fledermausromantik (Fledertiere).

Schmid: Ich fass es nicht.

Steiner: Was?

Schmid: Ich habe Frankenstein gelesen. Weil er von allen Menschen wegen seines Aussehens vertrieben wird, wird er einsam. Er wandelt sich vom eigentlich gutmütigen Kunstmenschen zum Mörder.

Steiner: Sei gewarnt, Schmid.

Schmid: Wieso?

Steiner: Einsamkeit macht böse. Gib dem sozialen Druck nach.

Steiner: Ach was. Nur weil mir meine Frau davongelaufen ist, werde ich nicht plötzlich niederträchtig und misanthropisch.

Steiner: Du hast ja mich.

Schmid: Ach Steiner, ich liebe Dich.

Steiner: Wir haben beide nichts Neues gelesen.

Schmid: Der Buchhandel war geschlossen.

Steiner: Aber die Corona-Tagebücher oder Corona-Romane waren auf dem Netz.

Schmid: Ich lese nicht am Bildschirm. Und darauf hatte ich sowieso keine Lust. Ich bin auch ohne Coronalektüre nahe am Corona-Koller.

Steiner: Überdruss?

Schmid: Ich kann das Wort unterdessen nicht mehr hören. Während der Isolation ging es prima, die Situation belastete mich nicht. Aber als mit den Lockerungen alle Leute begannen, ihren Coronasenf – gefragt oder ungefragt – abzusondern, wurde es immer unerträglicher. Es ist doch schlicht und ergreifend ein Virus. Nicht mehr und nicht weniger. Und nun wird daraus ein Fetisch. Sogar diese chinesische Fledermausfrau spricht von einem Zeichen der Natur. Und die ist Naturwissenschaftlerin. Ich versteh’s einfach nicht.

Steiner: Das ist eben das, was passiert, wenn die Leute Ungewissheit nicht ertragen.

Schmid: Die würden lieber den wahren Fetischismus studieren.

Steiner: Den wahren oder den Waren.

Schmid: Dreimal darfst Du raten.

Steiner: Ach, Schmid.

Schmid: Was ist?

Steiner: Nichts.

Schmid: Während der Ruhephase bin ich ein paar Mal durchs Stadtzentrum spaziert. Das war herrlich. Die Dekorationen in den Schaufenstern waren daran zu vergammeln und vergilben, Schilder hingen schief, die Farben der Frühjahreskollektionen wurden fahler, die Uhren hatten sie weggepackt, die Mülleimer quillten nicht über, die Strassenbahnen waren leer, die paar offenen Lebensmittelläden ebenfalls. Es wirkte alles so rührend improvisiert. Keine Materialschlacht nirgends. Kein Schein. Die Masken waren abgefallen, die Leute freundlich, die Verkäuferinnen zuvorkommend. Der ganze Warenfetischismus war wie weggeblasen.

Steiner: Dacht’ ich mir’s doch, dass Du das richtige Wort noch findest.

Schmid: Nein, nein. Es war mehr wie in den Schilderungen der Pariser Passagen. Es gab da mal diesen Kulturphilosophen, ähm…

Steiner: Walter Benjamin.

Schmid: Genau. Dieser Benjamin ist doch in den Passagen herum gewandelt und hat sich diese Tempel angeschaut und darüber nachgedacht. Er sah die flüchtigen Erscheinungen der Waren, er sah, dass man kaum mehr realisierte, wie ein Produkt, das zum Verkauf präsentiert wird, ins Schaufenster kommt, die Arbeit der Arbeiter ist nicht spürbar, geschweige denn sichtbar. Dass in den Passagen alles dafür hergerichtet wird, dass sich die Konsumenten störungsfrei bewegen können. Weder Hitze noch Kälte, weder Nässe noch Sonne, weder Arbeitskampf noch Naturzerstörung sollen den Genuss hindern. Und jetzt lief einfach nichts, gar nichts.

Steiner: Du romantisierst, Schmid. Das war kein Stillstand. Die Wirtschaft lief zu fast drei Vierteln weiter.

Schmid: Ja, ja Steiner, ich weiß. Ich phantasiere nur. Jetzt ist alles anders. Es ist nur so, dass mir nicht bewusst war, wie viele Leute es gibt, die in die Läden strömen. Es sind so viele. Wenn ich heute in der Stadt herumgehe, bewege ich mich in Massen.

Steiner: Das war schon vorher so.

Schmid: Mag sein, aber jetzt wird’s mir so bewusst.

Steiner: War’s das jetzt?

Schmid: Was weiß ich.

Steiner: Ich weiß es auch nicht.

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)