Reizbares Klima (3)

Romanfragment, 3. Kapitel: Paris (Nat)
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Nat Adams erleidet einen Zusammenbruch. Ein Arzt untersucht ihn und erwägt, den ehemaligen Zuckerbaron in Kur zu schicken.

(Über den Link Reizbares Klima können alle Folgen des Romanfragments aufgerufen werden)

Paris, März 1897

Nat

Er konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Bis zum Äußersten versuchte er es zu unterdrücken. Aber offenbar waren alle Dämme gebrochen, in Strömen liefen ihm die Tränen über das Gesicht und auf den Schlafanzug. Dann begann er zu zittern, nein, mehr, er wurde von einem heftigen, kaum enden wollenden Schüttelfrost erfasst, dabei hatte er doch die Bettdecke bis übers Kinn gezogen. Als sich der Körper wieder etwas entspannt zu haben schien, wurde er erneut von einem Weinkrampf übermannt. Er konnte kaum mehr klar denken.

»Was ist denn los?«, stöhnte er ins dunkle Zimmer.

So hilflos hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht damals, im Bürgerkrieg, als seine Kompanie völlig überraschend von den Konföderierten eingeschlossen wurde. Und sie sich nur dank der Unterstützung eines befreundeten Bataillons wieder befreien konnten. Seither hatte er sich unverletzbar gefühlt, es hatte für alles eine Lösung gegeben. Immer. Und jetzt? Ist das jetzt mein persönliches Armageddon, fragte er sich.

Es war noch mitten in der Nacht, durch die Jalousien drang nur ein schwacher Schein, der von der Einrichtung lediglich die Konturen erkennen ließ. Nach ein paar Minuten hatte er sich wieder etwas beruhigt. Er bemühte sich, gleichmässig und tief zu atmen. »Gut«, sagte er zu sich, um sich Mut zuzusprechen, »versuch wieder zu schlafen«. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis er wegdämmern konnte. Er träumte, zusammenhangslos. Und dann wurde er von Wahnvorstellungen erfasst. Wirre Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Er war auf einem Dampfer, der ihn von San Franzisko nach Honolulu brachte. Ein Gewitter zog auf, es blitzte und donnerte und regnete, als seien sämtliche Himmelschleusen aufgerissen worden. Der Wind peitschte Meerwasser über die Planken des Decks, die Passagiere retteten sich in die Kabinen und in die Aufenthaltsräume, die Mannschaft eilte ihnen zu Hilfe. Nat hielt sich an der Reling fest. Die Wellen wurden immer höher und gewaltiger, sie begannen, das Schiff hin und her zu werfen. Plötzlich wurde es still, kein Ton und kein Rauschen war mehr zu vernehmen, und Nat war ganz allein. Die Passagiere und die Besatzung schienen weggespült, weggefegt, vom Wasser oder vom Sturm verschluckt worden zu sein. So musste es sich im Auge eines Hurrikans anfühlen. Dann begann er, sich im Kreis zu drehen, aber nicht nur er, das ganze Schiff drehte mit. Immer noch an der Reling geklammert, schaute er aufs Wasser hinaus. Das Meer hatte sich geöffnet, ein riesiger Strudel hatte sich gebildet, das Schiff wurde mitgerissen und Nat in die Tiefe gezogen. Um seine Arme, seine Beine und schließlich auch um seinen Hals schlangen sich plötzlich Tentakel einer Riesenkrake. Er wollte sich von ihnen befreien, glitt aber an deren Oberfläche immer wieder ab, er bemerkte, dass die Fangarme aus dicken Kabeln bestanden. Gerade wollte er um Hilfe rufen, als er sich schweißgebadet im Bett aufrichtete.

Verdattert stand er auf, ging zum Fenster, schaute auf die dunkle Strasse hinaus. Draußen war kein Leben vernehmbar. Vielleicht bellte irgendwo ein Hund, sonst nichts. Er betätigte die Kordel und setzte sich erschöpft in den nächsten Sessel. Ein paar Augenblicke später betrat Marie den Raum.

»Marie, bitte bringen Sie mir einen Beruhigungstee, ich habe miserabel geschlafen, ich brauche etwas, was meinen Herzschlag wieder auf normale Werte zurückholt.«

»Sehr wohl Monsieur, ähm, wie wäre es mit einer Melissen- und Lavendelmischung?«, fragte Marie und leuchtete mit einer Kerze ins Zimmer. »Sie sind ganz bleich, Monsieur. Ist Ihnen wohl? «

»Jaja, es geht gut. Ich hatte vermutlich etwas kalt und habe schlecht geträumt. Bringen Sie mir einfach einen Tee, dann können Sie wieder auf Ihr Zimmer.«

»Ihr Schlafanzug ist durchgeschwitzt. Soll ich einen neuen bringen?«

»Jaja, bringen Sie einen neuen, aber sagen sie Madame nichts davon, sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen.«

»Wie Sie wünschen, Monsieur. Ich zünde eine Kerze an – und dann bin ich gleich zurück.«

Einige Minuten verstrichen, während denen Nat sich seines Schlafanzugs entledigte und sich mit dem Wasser aus dem Becken das Gesicht, Nacken und Arme wusch. Marie kam zurück und goss ihm eine Tasse Tee ein.

»Monsieur, Sie sind ja schon nackt.«

»Nun haben Sie sich nicht so, es ist nicht das erste Mal, dass Sie mich so sehen…«

»Schon, aber… Mein Gott, Monsieur, Sie zittern ja. Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Jaja, ich weiß, ich weiß, ich zittere, es ist kalt. Legen Sie den Pyjama aufs Bett, ich ziehe ihn gleich an. Sie können jetzt gehen. Und nehmen Sie den gebrauchten mit.«

Mit dem frischen Schlafanzug setzte er sich wieder in den Sessel und wartete, bis der Tee die richtige Temperatur angenommen hatte. Er glaubte, es sei alles wieder normal. Aber kaum hatte er ein paar Schlucke getrunken, begann er wieder zu weinen. Das war ihm noch nie passiert, grundlos und wie ihm schien völlig aus dem Nichts heraus schluchzte er. Er verstand die Welt nicht mehr. Bei einer unkontrollierten Bewegung entglitt ihm die halbleere Tasse, sie fiel zu Boden und zerbarst und der Tee verteilte sich auf den Holzplanken. Unfähig, auf das Malheur zu reagieren, sank er noch tiefer in den Sessel. Es mochten Minuten verstrichen sein, in denen nichts geschah. Nat konnte sich kaum mehr bewegen. Und dann begann das Zittern wieder. Zwar nur leicht, aber unangenehm spürbar. Mit letzter Kraft stand er auf und mühte sich zum Bett. Völlig ausgepumpt sank er in die Federn. Er deckte sich zu. Jetzt war er so erschöpft, dass er wieder einnicken konnte.

Als er am Morgen aufwachte, lag er gekrümmt auf dem Boden, zur Hälfte von der Bettdecke geschützt. Wie er dorthin gekommen war, konnte er sich nicht vergegenwärtigen. Er versuchte aufzustehen, es gelang ihm jedoch nicht, zu schwer waren seine Beine und Arme, also blieb er auf dem Parkett liegen. Eigentlich hätte er zur Toilette gehen, sich also aufraffen müssen, aber es gelang ihm nicht. Er ließ den warmen Wasserstrahl in seinen Pyjama fließen. Dann drehte er sich auf den Rücken und döste wieder ein.

»Monsieur, Monsieur? Sie liegen ja auf dem Boden… Und hier sind auch noch Scherben. Mein Gott, was ist denn hier passiert?«

»Ach Marie, Sie haben mich erschreckt. Ich bin vermutlich aus dem Bett gefallen, ich habe es gar nicht bemerkt. Ist es schon spät?«

»Ja, sehr spät. Ich bringe Ihnen Ihren Hausanzug und frisches Wasser, damit Sie sich waschen können. Geben Sie mir doch Ihren Schlafanzug.«

Mühsam wand sich Nat aus seinem Pyjama, gab ihn der Hausangestellten und warf sich eine Bettdecke über.

»Es ist übrigens so spät, dass Ihr Assistent sich Sorgen gemacht hatte. Er wartet vorne in der Halle. Soll ich ihm was ausrichten?«

»Ach, Monsieur Dubuffet. Sagen Sie ihm, er solle ins Office gehen, er weiß, was dort zu tun ist. Falls ich mich am Nachmittag besser fühle, komme ich nach. Danke Marie.«

»Geht es Ihnen wirklich gut? Oder soll ich einen Arzt rufen?«

»Nein, nein, es geht. Ich fühle mich etwas niedergeschlagen, das ist alles. Ist Madame schon außer Hause?«

»Ja, sie ist mit der Kutsche ausgefahren, die beiden Töchter sind mitgegangen. Ich habe ihr ausgerichtet, dass Sie in der Nacht nicht schlafen konnten und daher sich jetzt noch im Zimmer ausruhten.«

»Sehr gut Marie, das haben Sie gut gemacht. Danke.«

»Gestatten Sie mir eine Bemerkung, bevor ich gehe, Monsieur. Sie sehen wirklich nicht sehr gesund aus. In diesem Zustand können Sie sich nicht unter Leute mischen. Und heute Abend geben Sie eine kleine Soirée. Ich würde einen Doktor benachrichtigen.«

»Also gut, dann rufen Sie bitte nach Doktor Humbert, aber erzählen Sie meiner Frau nichts davon. Ich glaube nicht, dass es schlimm ist. Und falls wirklich etwas nicht in Ordnung wäre, erführe sie es noch früh genug.«

»Ich werde umgehend veranlassen, dass Doktor Humbert vorbeikommt.«

»Danke Marie. Bringen Sie mir jetzt bitte frische Sachen und das Wasser, ich erfriere sonst noch. Sammeln Sie bitte noch die Scherben ein, sonst geschieht noch was.«

»Sicher Monsieur.«

»Und bringen Sie mir nochmals Tee und etwas Kleines zu Essen.«

Die Unterhaltung mit Marie hatte in Nat ein paar zaghaft sich meldende Lebensgeister geweckt. Nachdem er sich frisch gemacht und angekleidet hatte, fühlte er sich noch etwas besser, aber den Drang, etwas zu unternehmen, verspürte er nicht. Er war matt und müde. Marie brachte ihm den Tee und ein mit Käse belegtes Brot. Träge kaute er auf dem Teig herum, brachte aber keinen Bissen hinunter. So blieb er denn tatenlos in seinem Sessel sitzen und blickte im Zimmer herum. Nat, dem Passivität und Müßiggang zuwider waren und diese als Zeitverschwendung betrachtete, widerstrebte dieses Herumsitzen, er war aber nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Er konnte sich nicht entsinnen, wie lange er dagesessen haben mochte, als Marie Doktor Humbert ankündigte.

»Ach, Herr Doktor. Guten Tag, guten Tag. Sie sind schon da, das ging aber schnell. Ich versichere Ihnen, es fehlt mir nichts.«

»Guten Tag Herr Adams. Marie hat gesagt, es gehe Ihnen schlecht.«

»Halb so wild, Herr Doktor. Ich glaube nicht, dass es etwas Ernsthaftes ist.«

»Wir werden sehen. Was liegt Ihnen denn auf dem Magen?«

»Auf dem Magen nichts, es muss woanders sein«, erwiderte Nat und lächelte gequält über sein Spässchen.

Nat begann zu erzählen, was in der Nacht vorgefallen war, der Arzt hörte zu und machte sich Notizen. Nat wirkte konfus, als er versuchte, seine Befindlichkeit in Worte zu fassen. Darüber zu reden, war er nicht gewohnt. Was er spürte und dachte und wie er sich fühlte, blieb unklar. Doktor Humbert musste vermehrt um präzisierende Angaben bitten. Danach untersuchte er Nats Körper; Temperatur, Puls, Herz, Lunge, Leber, Niere, Respirationsorgane, Nervensystem. Er nahm eine Ampulle Blut und forderte ihn auf, etwas Urin in ein Glas zu lösen.

»Soweit ich beurteilen kann, scheint kein organischer Mangel vorzuliegen. Das ist jedoch nur ein vorläufiger Befund und noch keine verbindliche Diagnose. Wir werden das jetzt genauer prüfen, das dauert etwas.«

»Sehen Sie Herr Doktor, ich habe es gewusst, es ist nichts. Nur ein kleines vorübergehendes Unwohlsein.«

»Das habe ich nicht gesagt, Herr Adams. Das müssen wir abklären. Sie schauen mir etwas mitgenommen, anämisch aus, wir werden das im Blut sehen.«

»Gut, gut. Machen Sie das. Vielleicht sollte ich mal an die frische Luft, das hilft vielleicht.«

»Nun, schaden tut’s sicher nicht. Ich wollte nur noch sagen, falls wir keine organischen Mängel finden, so besteht auch die Möglichkeit, dass funktionelle Defizite vorliegen.«

»Was heißt denn das?«

»So, wie Sie mir Ihre Nacht beschrieben haben, mit den Albträumen, dem oberflächlichen Schlaf, den Weinkrämpfen, den Schüttelfrösten, dem unkontrollierten Wasserlassen, scheint doch irgendwo ein Mangel im Funktionieren ihres Körpers zu liegen. Ihre Papille hat etwas langsam reagiert, der Reflex bei der Patellasehne war zögerlich. Sie müssen genau darauf achten, wenn Sie merken, dass etwas nicht ganz stimmt, wenn Sie merken, dass Sie in Apathie verfallen, dauernd müde und reizbar sind oder melancholisch werden oder wenn sie Augenflimmern kriegen, oder Ohrensausen. Wir müssten das dann genauer unter die Lupe nehmen. Bis die Resultate vorliegen, würde ich Ihnen erst einmal Ruhe verordnen. Erholen Sie sich, gehen Sie nicht zur Arbeit, Sie können sich das leisten. Oftmals verschwinden solche Symptome mit der Zeit von allein.«

»Zeit, mein lieber Doktor, ist das einzige, über das ich nicht im Übermaß verfüge. Ich kann mir keine Pausen erlauben. Ich stecke in schwierigen Verhandlungen mit Vertretern des amerikanischen Parlaments und der amerikanischen Regierung, mein Projekt steckt in der entscheidenden Phase, ich kann da nicht einfach kürzertreten.«

»Sie brauchen Ruhe – und zwar sofort. Das weitere entscheiden wir später anhand der Befunde.«

»Heute bleibe ich zuhause, das hab’ ich schon abgesprochen.«

»Das ist nicht genug.«

»Ich fahre übernächste Woche nach New York. Ich kann mich auf dem Schiff ausruhen.«

»Wie lange dauert eine Überfahrt?«

»Von Liverpool aus mit den neuen, schnellen Schiffen sieben Tage… Erst habe ich noch in Kopenhagen zu tun.«

»Das reicht bei weitem nicht. Und falls der Wellengang hoch ist, kann man sich nicht richtig erholen.«

»Ich schon, seekrank wurde ich noch nie. Und dann muss ich aus geschäftlichen Gründen weiter nach San Franzisko, und dann vielleicht nach Honolulu. Ich bin mindestens vier bis fünf Monate unterwegs.«

»Sie sind Ihr eigener Herr, Monsieur Adams. Ich teile Ihnen nur meine medizinischen Ansichten mit. Ich kann Ihnen nichts vorschreiben. Aber wenn Sie wollen, dass es Ihnen bessergeht, sollten Sie meine Ratschläge befolgen und erwägen, die Reise zu verschieben. Ich könnte mir vorstellen, dass die Resultate auf einen Kuraufenthalt hindeuten. Das hat noch niemandem geschadet.«

»Kuraufenthalt? Den ganzen Tag rumsitzen und nichts tun? Was denken Sie sich, mein Lieber, da kennen Sie mich schlecht. Das kommt nicht in Frage.«

»Ich kenne Sie gut, gleichwohl empfehle ich Ihnen, längere Auszeiten in Ihrem Alltag einzuplanen.«

»Danke Herr Doktor, ich weiß Ihren Rat zu schätzen. Bitte teilen Sie mir Ihre Ergebnisse baldmöglichst mit. Guten Tag, Herr Doktor.«

»Monsieur Adams, ich empfehle mich.«

 

Fortsetzung folgt.

Hier geht’s zu den anderen Kapitel des Romanfragments: 1. Kapitel; 2. Kapitel

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Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)