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Sankt Laurenz, November 1896
Cédric
In den Strassen war wieder Ruhe eingekehrt. Die meisten Kurgäste hatten das Dorf verlassen, und mit ihnen ihre Familien und Bediensteten. Nur die beiden oberen Hotels hielten auch während der Wintersaison ihre Tore geöffnet. Cédric Jolivet konnte seine Praxis in Ordnung bringen, die Krankenakten sortieren, eine kleine Statistik der Befunde, der Diagnosen, der verordneten Behandlungen und der Resultate anlegen sowie Unterlagen studieren, die ihm entscheiden helfen sollten, wohin ihn seine diesjährige Studienfahrt führen würde. In den Anstellungsbedingungen des Badedoktors war vermerkt, dass der Kurarzt gehalten sei, jedes Jahr auf seine Kosten eine Reise im Interesse der Heilquellen-Gesellschaft zu unternehmen. Er kannte das Prozedere, denn er war vor achtzehn Jahren vom Direktorium des Heilbades Sankt Laurenz zu einem der leitenden Badeärzte gewählt worden und er hatte schon manche lehrreiche Erkundungstouren absolviert.
Am Anfang seiner Tätigkeit im Jahre 1878 beschränkte er sich auf seine Rolle als Kurarzt und er richtete seine Praxis bei den Heilbädern ein. Zwei Jahre später, als der damalige Dorfdoktor von Sankt Laurenz in den Ruhestand trat, wurde Cédric zusätzlich verantwortlich für die medizinische Behandlung der Einheimischen. Morgens hielt er jeweils von zehn bis zwölf Sprechstunde für Kurgäste, nachmittags ab fünf Uhr empfing er die Sankt Laurenzer in einem zu einer Praxis umgestalteten Zimmer eines Hotels im Dorfzrntrum. Nach weiteren drei Jahren, im Frühling, dislozierte er mit seiner Familie in ein Haus, das am unteren Rande des Dorfes lag. Die Raumverhältnisse waren so großzügig, dass er neben den Praxiszimmern auch ein kleines Archiv seiner Dossiers anlegen konnte.
An diesem klaren Herbstabend des Jahres 1896 versuchte er jedoch vergeblich, seine Augen auf seine Unterlagen gerichtet zu halten, sein Blick schweifte ab, er schaute aus dem Fenster, die letzten Sonnenstrahlen streiften die Berggipfel – das Tal war schon in den Schatten getaucht – und er verlor sich für einen kurzen Moment im unendlich scheinenden Blau der einbrechenden Dämmerung. Dann sah er hinüber zur Hotelfassade von nebenan. Er hätte direkt in den Ballsaal sehen können, doch heute war er dunkel und leer, es würde eine Weile dauern, bis er wieder mit den elegant gekleideten Damen und Herren bevölkert war und das Orchester zum Tanz aufspielen würde. Etwas Melancholie stieg auf, denn er mochte die Betriebsamkeit der Hochsaison, obwohl ihm dünkte, dass der Trubel zuweilen überbordete und der Ort von den Menschenmassen zu ersticken drohte. Noch mehr Hektik wie diese Saison wäre fürs Geschäft schädlich, dachte sich Cédric.
Er erinnerte sich daran, wie er zu seinem Haus gekommen war, das ihm an einsamen Abenden erlaubte, als Voyeur hinüber ins gesellschaftliche Geschehen des Grandhotels zu schielen. Das war vor genau vierzehn Jahren. Cédric suchte nach einem geeigneten Domizil für sich und seine kleine Familie – seine Frau und sein Sohn – und seine Praxis. An einem schönen, aber windigen Abend im Oktober des Jahres 1882 spazierte er das schmale Tal hinauf, das vom Heilbad, das etwas unterhalb des Zentrums lag, zum Dorf führte. Er hatte vernommen, dass am Ende dieses kleinen, von einem Bach durchflossenen Einschnitts ein stattliches Stück Wiesenland versteigert würde, das für seine Bedürfnisse zwar zu groß, aber nicht zu steil und ideal gelegen war. Gegen den Bach hin wurde es von einem kleinen Lärchenwald gesäumt, der bis zum See hinunter ging. Auf dem Grundstück stand ein verwaistes Wohnhaus mit Gesinde- und Dienstgebäuden. Schon lange hatte er auf dieses Stück Land ein Auge geworfen, das einem Ausgewanderten gehörte, umso erwartungsvoller war er gestimmt, als er hörte, dass es nun zum Verkauf stünde. Allerdings machte er sich nicht allzu viele Hoffnungen, war er doch erst vier Jahre vorher aus Grenchen am Jurasüdfuß in dieses Hochtal in den Bündner Alpen gekommen, und er gehörte weder zu den Alteingesessenen, die nach wie vor das Geschehen im Dorfe zu bestimmen trachteten, noch zu den quirligen und jungen Wirtschaftsleuten, die aus den benachbarten Regionen ins Tal kamen, um aus dem aufkommenden Fremdenverkehr Kapital zu schlagen. Noch war er besonders vermögend. Auch sein Beruf und seine Stellung halfen wenig, sein Ansinnen des Landkaufs zu verwirklichen, denn als aus dem Schweizer Mittelland Eingewanderter musste man mit den Mächtigen im Dorf behutsam umgehen und sich bestmöglich zurückhalten. Dennoch hoffte er auf eine glückliche Fügung und er besah sich das Wiesenstück an jenem Abend vor der Versteigerung. Cédric stakste mit regelmäßigen Schritten der Länge und der Breite nach von einem Ende zum anderen, um die Dimensionen abzumessen, er vermerkte die Grenzsteine und versicherte sich, dass ihn niemand dabei beobachtete, schließlich wollte er sein Kaufinteresse geheim halten. Allerdings war ihm nicht gewahr, dass er aus dem Fenster des Patrizierhauses unmittelbar daneben sehr wohl beobachtet wurde. Dort wohnte einer der einflussreichsten Dorfadeligen, Hermann von Spermont. Der Adelige schnürte seine Schuhe, warf sich eine Jacke über die Schultern und setzte den Hut auf. Als würde er sich zu einem Abendspaziergang aufmachen, bog er um die Hausecke und betrat das Grundstück.
»Herr von Spermont? Was tun Sie denn hier?«, fragte der Doktor.
»Ich vertrete mir die Füße, Sie persönlich haben mir geraten, dass regelmäßige Bewegung Geist und Körper beieinander hält. Sie wissen, ich bin nicht mehr der Jüngste und immer noch ein viel beschäftigter Mann.«
»Ein kühler Abend heute, nicht? Von hier oben ist die Sicht noch prächtiger als vom Kurhaus aus.«
»Fürwahr werter Doktor. Sind Sie zufrieden mit der Saison?«
»Ach, Herr Junker, das wissen Sie besser als ich, Sie sind ja schließlich der Direktor der Heilquellen und kennen sich mit den Zahlen besser aus. Wir zählten dieses Jahr außerordentlich viele Behandlungen und Übernachtungen. Sehr erfreulich. Wir stoßen allerdings an Kapazitätsgrenzen.«
»Da haben Sie recht, mein Lieber. Es lief gut. Aber ich dachte eher an die Erfolge mit den verschriebenen Kuren.«
»Ja, ja, sehr. Wobei, ähm, ich glaube, wir müssten uns noch mehr dagegen wehren, dass die Schwindsüchtigen zu uns kommen, gegen die Tuberkulose können wir nicht viel ausrichten, dafür gibt es geeignetere Destinationen im Norden des Kantons. Zudem bringen die Patienten nur Krankheiten und Keime in unser Tal. Diese Fälle haben zugenommen. Auch unsere Einrichtungen passen nicht zu deren Beschwerden, wir verfügen über keine Austernbänke, es ist zu luftig und dieser Wind kommt aus dem Süden, bläst also frontal auf die Balkone. Aber wir haben eine Heilquelle mit eisenhaltigem Wasser, darauf müssen wir vermehrt setzen. Und ohnehin, das Klima, der Wind, der Staub, das ist alles nicht ideal für die Phthisiker.«
»Guter Gedanke, Herr Doktor. Ich freue mich auf Ihre Vorschläge«, von Spermont schaute über die Landschaft, »ich habe kürzlich mit Pfarrer Kimmich über Sie gesprochen. Wir dachten, ob Sie sich nicht für den Gemeinderat einsetzen wollen. Wir brauchen noch einen Kurarzt, der mit uns zusammenarbeitet und uns fachlich berät, wie wir mit der Heilquelle weiterfahren sollen. Der Pachtvertrag mit der Gemeinde läuft bald aus. Was meinen Sie? Haben Sie Interesse?«
»Das ehrt mich, werter Herr Junker. Ich werde mir das gerne überlegen.«
»Schön, tun Sie das und lassen Sie hören von sich. – Übrigens«, von Spermont ließ seinen Blick über die Wiese schweifen, »wussten Sie, dass dieses Grundstück, auf dem wir stehen und parlieren, verkauft wird? Mitsamt den Häusern.«
»Dieses Grundstück? Tatsächlich?«
»Ach, kommen Sie, machen Sie mir nichts vor. Ich habe beobachtet, wie sie es ausgemessen haben.«
»Ja, ja, doch, ich habe davon gehört. Interessiert es Sie?«
»Das Land eigentlich schon, aber für die Gebäude habe ich keinen Nutzen. Suchen Sie nicht ein neues Haus, damit Sie ihre Praxis näher bei den Leuten haben und nicht mehr abhängig vom Hoteldirektor sind?«
»Doch, doch, das ist richtig. Sind wir also Konkurrenten? Das wäre mir gar nicht recht, ich kann doch bei einer Versteigerung nicht mit Ihnen mithalten.«
»Also, Herr Doktor, ich habe eine Idee. Kommen Sie doch mit, ich lade Sie ein zu einem Glas Wein von meinem Gut.«
Die beiden Männer traten ins Patrizierhaus, die Eingangshalle und die Gänge waren mit Stuck verziert und an den Wänden hingen in Öl gemalte Porträts der Ahnen der von Spermonts, alles Ehrenmänner, Offiziere, Grafen und Bischöfe. Sie legten ihre Jacken ab und setzen sich ins Wohnzimmer. Es wurde ihnen zwei Gläser Wein von den Rebbergen der von Spermonts, die sie im Bordelais bewirtschafteten, serviert. Der Adelige unterbreitete Cédric den Vorschlag, dass Grundstück gemeinsam zu erwerben. Der Doktor bekäme die Gebäude und jenen Teil, der sich gegen den Lärchenhain und zum Bach hin senkt, das umfasse etwa einen Drittel der Fläche, er selbst übernehme das restliche Stück gegen das Dorf und den Wald gegen den See hin, er habe nämlich im Sinne, ein neues Hotel errichten zu lassen. Cédric überlegte nicht lange und schlug ein. Zwei Fliegen mit einer Klatsche, dachte er sich. Sie besprachen die genauen Modalitäten, hielten sie schriftlich fest und verständigten sich über die Taktik und Vorgehensweise bei der Versteigerung. Cédric habe das Wort für sie beide zu führen, wenn nämlich er, von Spermont, mitböte, stiegen die Preise wohl ins Unermessliche, mutmaßte der Dorfadelige. Nur zu Beginn würde er sich einmal ins Geschehen einmischen und sich dann aber zurückziehen und mit Faxen und Gesten dem Publikum vortäuschen, dass der Preis viel zu hoch getrieben werde, vielleicht dächten sich dann die anderen Bieter, es sei gar nicht so viel wert.
Entzückt über den Plan, kehrte Cédric nach Hause zurück. Allerdings wurde ihm erst jetzt gewahr, dass er sich mit der gewählten Taktik im Kampf um den Einfluss auf das Dorfgeschehen nun eindeutig auf die Seite der alteingesessenen Familien und den Adeligen schlug. Diese beherrschten die Politik und die Kurgesellschaft und zeichneten als Eigentümer der Heilquellen. Und von Spermont war der Mächtigste von allen. Cédric misstraute grundsätzlich Leuten, die nur darum mächtig sind, weil sie zufällig in die richtige Familie hineingeboren wurden. Er glaubte, dass die jungen Eingewanderten, die das Bauwesen und zunehmend die Hotellerie dominierten, dynamischer agierten und vermutlich dereinst die Alteingesessenen verdrängen werden. Und wie lange es von Spermont noch machte, wusste man nicht. Insofern dürfte die Absicht von Spermonts, ein Hotel in Zentrumsnähe bauen zu lassen, eine Kampfansage an die Jungen bedeuten. Wenn das nur nicht böses Blut gebe, dachte sich Cédric. Und eigentlich stand er der Wesensart der Jungen näher, waren sie doch geistig agiler und politisch fortschrittlicher als die manchmal etwas trägen und satten Einheimischen. Jedoch wusste er zu gut, dass seine Position es nicht erlaubte, gegen die Mächtigen der politischen Gemeinde aufzumucken und vor allem aber sich der Wünsche der Kurgesellschaft zu widersetzen. Er musste also strategisch handeln. Und von Spermont war ihm eigentlich sympathisch.
Am nächsten Morgen fand sich die halbe Dorfgemeinschaft auf der Wiese am Rande des Ortes ein. Nachdem das Grundstück besichtigt worden war, versammelten sich Interessierte, Spekulanten und Schaulustige um den Tisch des Wirthauses »Zur Post«. Als geschehe es zufällig, setzten sich Cédric und von Spermont nebeneinander. Auf Kosten der Gantleitung wurde Wein aus dem Veltlin ausgeschenkt. Noch hatte der Bieterkampf nicht begonnen, so ließen sich die Leute ihre Gläser mehrmals nachfüllen, der Lärm- und der Alkoholpegel stiegen kontinuierlich. Der Raum füllte sich mit Weingeruch, Pfeifen- und Zigarrenrauch. Schließlich bahnte sich der Dorfweibel durch den Qualm, setzte sich auf ein kleines Podium und hämmerte auf den Tisch. Er ergriff das Wort und bat um Ruhe. Das Verkaufsobjekt wurde genauer vorgestellt und der Ablauf der Versteigerung erläutert. Und dann fragte der Weibel, ob jemand bieten wolle, der Ansatzpreis betrage elftausendfünfhundert Franken. Aus den hinteren Reihen wurde die Runde eröffnet, zwölftausend lautete das erste Gebot. »Zum ersten, zum zweiten…« Cédric erhöhte auf zwölftausendfünfhundert. Er stand auf und öffnete die Fenster, ein Hauch frischer Luft vertrieb den Rauch. »Zwölftausendachthundert«, sagte von Spermont. Ein weiterer Kaufinteressent, der aus einem Nachbardorf stammte und erst kürzlich als reicher Zuckerbäcker aus Venetien ins Tal zurückgekehrt war, bot dreizehntausend. Der Arzt zog mit, dreizehntausendzweihundert. Aus der hinteren Reihe ertönte »Dreizehntausendsechshundert!« Das war Peter Balzer, der einflussreichste Junge. Ursprünglich stammte er aus dem Churer Rheintal. Begonnen hatte er als Schreiner im Nachbardorf, nun ist er Herr über eine Firma, die schon zahlreiche Aufträge zum Bau von Hotelpalästen ausführen durfte. Wenn Balzer mitbietet, wird es schwierig, dachte sich Cédric. Neben sich hörte er, wie von Spermont theatralisch schnaubte und den Kopf schüttelte. Nicht schlecht, dachte sich Cédric, aber ob die anderen auf die Finte reinfielen? »Dreizehntausendachthundert«, kam es vom vermögenden Herrn aus dem Nachbardorf. Der Dorfweibel blickte zu von Spermont, dieser gab ein Zeichen, dass er aus dem Wettbewerb sei und stöhnte, dass das viel zu viel Geld sei für das bisschen unbrauchbare Fleckchen Land. »Dreizehntausendachthundert zum ersten!« Von Spermont griff mit der rechten Hand an die Hutkrempe, jenes Zeichen, das sie am Vorabend vereinbart hatten und das anzeigen sollte, dass das Limit erreicht sei und sie aufgeben würden. »Dreizehntausendachthundert zum zweiten!« Der Doktor schien es nicht bemerkt zu haben. »Vierzehntausend«, sagte Cédric, von Spermont rollte die Augen. Noch einmal wurde das Gebot des Arztes von Balzer übertroffen, vierzehntausendzweihundert. »Vierzehntausendvierhundert vom Herrn in der zweiten Reihe«, ging der Dorfweibel dazwischen, das war wieder der reiche Zuckerbäcker. »Vierzehntausendvierhundert zum ersten, zum zweiten und zum dri…« – »Vierzehntausendsechshundert« kam es aus den hinteren Rängen von Balzer. Der Adelige wurde nervös, die nun geforderte Summe lag jetzt weit über jener, die sie niemals hatten überschreiten wollen; und nun waren doch tatsächlich ein neureicher Zurückkehrer und Balzer im Bietgeschehen verwickelt, die kannten wahrscheinlich keine Grenzen. Als ob Balzer mit seinen drei Hotels nicht schon genug hätte. Hoffentlich behielte der Doktor die Nerven. »Vierzehntausendachthundert« bot nun der Randulin. »Mein Gott!«, stöhnte von Spermont in sich hinein, »wo endet das?« – »Fünfzehntausend!«, schrie der Doktor in die Runde. Von Spermont blickte Cédric entgeistert an und erbleichte, er glaubte, der Doktor hielte sich nicht an die Abmachung und habe die Taktik geändert, er würde nun das ganze Grundstück und die Gebäude für sich allein ersteigern und das hieße auch: beanspruchen. Konnte er sich das überhaupt leisten? Woher sollte er so viel Geld haben? Seine Hotelträume lösten sich auf. Er zupfte vehement an der Jacke von Cédric, dieser beschwichtigte so unauffällig wie möglich. »Fünfzehntausend zum ersten, zum zweiten und fünfzehntausend zum dritten! Das Grundstück geht an den Herrn Doktor Jolivet.«
Erleichtert klatschte sich Cédric in die Hände. Er entschuldigte sich dafür, dass er sich nicht an die Preisvorgabe gehalten hatte, aber es war ihm zu wichtig, diese Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen und mehr hätte er vermutlich auch nicht geboten, fügte er an und schmunzelte. Von Spermont schmollte erst noch etwas und tat so, als kalkuliere er noch, er gab aber schließlich sein Einverständnis in den Handel. Die Mehrkosten teilten sie auf.
Jetzt, im Jahre 1896, waren jene tausendzweihundert Franken, die Cédric »zu viel« bot, schon mehrfach wieder eingespielt worden. Das Grandhotel von Hermann von Spermont stand immer noch in all seiner Pracht neben Cédrics Haus, der Junker jedoch war schon längst gestorben. Zwar konnte er noch etliche lukrative Saisons mit guten Erlösen erleben und die Hautevolee ein- und ausgehen sehen. Aber unterdessen hatte der junge von Spermont übernommen. Mit ihm konnte es Cédric nicht so gut.
Cédric widmete sich im Dämmerlicht wieder den Prospekten, die er sich von verschiedenen Bädern hatte zukommen lassen. Im vorherigen Jahr war er unter anderem in Karlsbad. Von dort hatte er einige nützliche Erkenntnisse über die abführende Wirkung des sogenannten Glaubersalzes mitnehmen können. Er schleppte eine große Packung des Salzes nach Hause. Dieses Jahr wollte er kein herkömmliches Bad besuchen, er glaubte, dass jene Patienten, die vermehrt hierher zur Kur kommen beziehungsweise kommen sollten, nicht die klassischen Bäderreisenden sein sollten, also Leute, die unter anderem an Erkrankungen des Bewegungsapparates litten, oder deren Galle, Niere oder Leber nicht mehr einwandfrei funktionierten oder die Übergewicht oder Stoffwechselstörungen und dergleichen hatten, nein, hierfür gab es bessere Destinationen wie eben Karlsbad oder Baden-Baden oder Wiesbaden, die zudem viel besser erreichbar waren. In Sankt Laurenz mussten sie das ausnutzen, was den anderen Orten nicht zur Verfügung stand, nämlich die Höhenluft und die Sonne, die an über dreihundert Tagen im Jahr schien. Wer konnte schon damit Reklame machen, dass der Ort auf tausendachthundert Metern liegt? Die Luft rein war? Das Wetter schön? Seine Statistik sagte ihm, Sankt Laurenz müsse sich um die Nervenkranken bemühen. Die Anzahl Leute, die unter neurologischen Belastungen litten, war in den letzten Jahren im Verhältnis zu den Leuten mit anderen Gebresten am meisten gestiegen, bei ihm machte der Anteil schon über die Hälfte aller Patienten aus. Wenn die Ärzte der Heilquelle sich darauf einigen könnten, sich in diesem Gebiet weiterzubilden und die Wechselwirkungen ihres Heilwassers und der aktiven Erholung zu erforschen, hätte er das sehr begrüßt. Um seine Kollegen entsprechend einzustimmen, musste er erst noch selbst die nötigen Kenntnisse erwerben. So suchte er sich Destinationen heraus, die sich diesbezüglich schon einen Namen erarbeitet hatten und die nicht auf ein spezielles Heilwasser zurückgreifen konnten. Das waren meist Orte, bei denen die geographische Lage das einmalige war. Zum Beispiel Seebäder ohne Quelle. Er studierte Prospekte aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich.
Die Zugehfrau hatte Cédrics Abendessen auf den Tisch gestellt und war gegangen. Nach dem Tod von seiner Frau vor zwei Jahren war er auf eine Haushaltshilfe angewiesen. Das Haus war zwar nicht so groß, mit den Nebengebäuden und dem kleinen Garten fiel jedoch einige Arbeit an, um alles in Schwung zu halten. Im Sommer wurde zudem das ehemalige Gesindehaus an Gäste vermietet, die entweder die Hotelpreise nicht zu zahlen vermochten oder die sich in einem privaten und ruhigeren Ambiente wohler fühlten. Auch hierfür war Anna, die aus dem Veltlin stammte, die richtige Kraft. Manchmal fühlte sich Cédric einsam, vor allem nachdem die Saison zu Ende gegangen war, keine Konzerte mehr stattfanden, keine Bälle oder sonstige Vergnügungen organisiert wurden und das Dorf in einen Zwischenschlaf versank. Auch sein Sohn Fréderic war nicht hier. Sein Semester an der Universität in Zürich, wo er Recht und Wirtschaft studierte, würde erst an Weihnachten kurz unterbrochen. In seinen einsamsten Stunden widmete sich Cédric dem Klavierspiel, der Lektüre, dem Studium der Fachliteratur und dem Schreiben. Von der Heilquellen-Gesellschaft wurde er verpflichtet, im Laufe des Winters eine Serie von Artikeln über das Bad in Sankt Laurenz, die Quellen und das Klima in medizinischen Zeitschriften zu veröffentlichen. Vorher war mit der Verwaltung noch abzuklären, welche wissenschaftlichen Zeitungen das sein sollten. Zudem musste er noch bei der Gemeinde vorsprechen, da er einst von Spermonts Vorschlag annahm und sich zusammen mit Pfarrer Kimmich um allgemeine Fragen des Fremdenverkehrs kümmerte. Auf das Gespräch hatte er sich noch etwas vorzubereiten.
Er kramte in seinem Pult nach einem kleinen Heftchen, das er im Jahr zuvor während seiner Reise erstanden hatte. Verfasst wurde die Schrift vom amerikanischen Nervenarzt George Miller Beard und es war in einer erweiterten Auflage vor über zehn Jahren in deutscher Sprache erschienen. Der Titel lautete: Die Nervenschwäche (Neurasthenia). Cédric kannte den Inhalt zwar schon fast in- und auswendig, dennoch wollte er sich noch die eine oder andere Erkenntnis des Neurasthenie-Spezialisten vergegenwärtigen. Er ergötzte sich immer wieder über die typisch angelsächsische, sehr bildhafte Schilderung des Neurologen, und er konnte sie sehr gut nachvollziehen, erging es ihm doch zuweilen ganz ähnlich, wenn er mit seinen Patienten über deren körperliche Beschwerden sprechen musste. Das Problem dieser relativ neuen Krankheit Neurasthenie lag darin, dass Beard über fünfundsiebzig Symptome aufzählte, von Reizbarkeit, Gefühl tiefster Erschöpfung, böser Träume, rastloser Unruhe, Unwohlsein über Anthropophobia, Monophobia, Furcht vor Allem und Jedem, bis hin zu Männerleiden wie Inkontinenz, unwillkürlichem Samenabgang und Impotenz und Frauenkrankheiten wie beispielsweise Irritabilität des Uterus oder der Ovarien. Für die Ärzte, die sich nicht näher mit dieser Theorie befassen konnten oder wollten, war es schwierig, sich ein klares Bild dieser Krankheit zu verschaffen, weil es dieses klare Bild gar nicht gab. Praktisch jeder neurasthenische Patient klagte über eine eigene Kombination diverser Symptome. Fast im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsrechnung musste der Arzt bestimmen, ob eine Nervenkrankheit vorlag oder nicht. Einige Mediziner waren überfordert und ratlos und leugneten schlichtweg die Diagnose Neurastehnie. Andere negierten die medizinwissenschaftliche Aussagekraft der Schrift. Lag beispielsweise bei inkontinenten Männern ein Defekt der Blase oder der Prostata vor oder war es lediglich eine Nervenschwäche? Wie sollte man das herausfinden? Fügen sich diese Symptome mit anderen zu einem einheitlichen Bild? Meist eben nicht. Wie die richtige Kur bestimmen? Cédric hatte sich ein Raster zurechtgelegt, gleichwohl erschwerten die Unübersichtlichkeit und die Fülle der Krankheitszeichen den genauen Befund. Beard war der Meinung, dass das Nervengewebe behandelt werden müsse. Bei der Anämie etwa sei die Mischung des Blutes qualitativ oder quantitativ nicht die richtige, bei der Neurasthenie betreffe es einfach die Nerven. Wie wenn man schon Kraftreserven aufladen könne, müsse man auch das Nervengewebe wieder stärken, dachte der amerikanische Arzt.
Andere Betroffene und auch etwelche Ärzte stuften die Leiden gar nicht als Krankheit ein. Hierfür hatte Beard ein sehr treffendes Bild entworfen, über das Cédric immer wieder schmunzeln musste und er schlug den Artikel auf jener Seit auf: »Neurasthania ist in der That das medicinische Central-Afrika – ein unerforschtes Land, das nur wenige betreten und dessen Schilderungen weder Glauben, noch Verständniss gefunden haben. Das Reich der Neurasthenie war den Blicken Tausender begegnet, seine Umrisse waren oft geschaut und sein Gebiet gestreift worden – aber es blieb ein mysteriöses Land. Was enthielt es? Welches waren seine Grenzen? Welches Verhältniss bestand zwischen ihm und den benachbarten Reichen der Hypochondrie, der Hysterie, der Geistesstörung?« Die medizinische Forschung war seines Wissens noch nicht wesentlich weiter gediehen, einzig in Paris, so hatte er gelesen, habe man neue Erkenntnisse über die Hysterie erlangen können. Vielleicht, so war zumindest Cédrics Hoffnung, trügen diese Erkenntnisse auch zur weiteren Klärung der Neurasthenie bei. Darüber wollte er sich gelegentlich auch noch in Kenntnis setzen. Das Interessanteste an Beards Text war aber für Cédric, dass der Neurologe meinte, dass die Ursache der Krankheit nicht in einem physischen Defekt oder einer physischen Unzulänglichkeit zu finden sei, sondern »der erste und wesentlichste Grund der Nervosität in der modernen Civilisation liegt«. Das war revolutionär. In der »modernen Civilisation«, das hatte Cédric dick unterstrichen und er hielt dies in der Tat für bahnbrechend. Als Nervenarzt wurde man aufgefordert, über die Zivilisation nachzudenken, also nicht-medizinische Faktoren in die medizinische Praxis einzubeziehen. Und darüber wollte er am nächsten Tag mit den Gemeindeoberen reden. Ob sie das verstehen würden? Und ob sie die Konsequenzen für den Fremdenverkehr abschätzen können?
Fortsetzung hier.
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