Verschiedentlich ist auf der textvitrine.ch auf die Virenforschung im Allgemeinen und auf gain-of-function-Experimente im Speziellen eingegangen worden (Stichwort: Laborthese). Dabei hat sich gezeigt, dass innerhalb der Virologie unterschiedliche Auffassungen bestehen, inwiefern mit genetischen Manipulationen von Viren wichtige Erkenntnisse für die Bekämpfung und Prävention gesundheitlicher Gefährdungen durch solche Erreger gewonnen werden können. Erwiesenermaßen kommt es immer wieder zu Zwischenfällen bei der Laborarbeit. Dabei ist es mitunter schon zu Virenausbrüchen gekommen.
Es stellen sich also mindestens zwei Fragen, nämlich wie gefährlich solche risikobehafteten Untersuchungen für die Umgebung sind und ob staatliche Stellen solche Projekte unterstützen sollen. Weder das US-amerikanische National Institute of Health (NIH) noch das National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) unterstützt die gain-of-function-Forschung. Dies hat auch Anthony Fauci vom NIAID vor einem Senatsausschuss bestätigt. Die US-amerikanischen Institute müssen entscheiden, was sie als gain-of-function einschätzen, ab wann ein gain-of-function-Experiment ein Virus gefährlicher macht (vergleiche hier). Hierzu gibt es unterschiedliche Ansichten. Nicht nur zwischen den staatlichen Institutionen und der Forschung, sondern auch zwischen verschiedenen Forscherinnen und Forschern.
2018 haben die EcoHealth Alliance, die University of North Carolina und das Wuhan Institute of Virology zusammen mit weiteren Partnern ein Forschungsprojekt eingereicht. Dabei sollte in ein SARS-verwandtes Virus eine sogenannte Furin-Spaltstelle eingebaut werden. Frühere Untersuchungen an anderen Coronaviren haben gezeigt, dass diese Furin-Spaltstelle eine wichtige Rolle bei der Übertragung des Virus auf den Menschen spielt.
Pikanterweise wollten die Antragssteller die finanzielle Unterstützung weder vom NIH noch vom NIAID. Sondern von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), der Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums. Das Geld wurde nicht gesprochen. Auch die DARPA sagt, dass sie solche Forschung grundsätzlich nicht unterstütze. Es stellt sich die Frage, weshalb das Projekt bei der DARPA eingereicht wurde.
Ende September 2021 wurden die Antragsunterlagen von der DRASTIC-Gruppe geleakt. Für sie ist dies der Beweis, dass die Laborthese eben doch zutrifft.
Im Folgenden werden drei Artikel aus der NZZ, dem SPIEGEL und The Atlantic zusammengefasst, die auf diese Enthüllungen und deren Bedeutung eingehen. Dabei zeigt sich, dass es sich wohl weniger um den sagenumwobenen rauchenden Colt handelt, der beweist, dass das Virus im Labor hergestellt wurde, sondern eher um eine aufschlussreiche Geschichte, wie sich verschiedene Institute und Forscher hinsichtlich risikobehafteter Forschung positionieren.
Da nicht nur einzelne Aspekte aus den Artikeln herausgepickt wurde, kommt es zu inhaltlichen Wiederholungen.
NZZ, 25. September 2021
Stefanie Lahrtz: Offenbar Experimente mit Coronaviren geplant
Stefanie Lahrtz geht auf die Enthüllungen von DRASTIC ein. »Daszak wollte offenbar in Zusammenarbeit mit mehreren Forschern aus den USA sowie Experten des Wuhan Institute of Virology (WIV) in Coronaviren von Fledermäusen diverse genetische Elemente einbauen.« Allerdings weiss man nicht, ob die geplanten Experimente durchgeführt worden sind. Wissenschaftliche Veröffentlichungen dazu gibt es nicht. »Die im Antrag erwähnten Viren sind keine Vorläufer von SARS-CoV-2.« Die Echtheit des Förderantrags wurde von einem ehemaligen Mitarbeiter der Trump-Administration bestätigt. Lahrtz weist darauf hin, dass es Zweifel an der Transparenz und der Kooperationsbereitschaft der WIV-Forscher und der chinesischen Behörden gibt. Zudem rückt Peter Daszak immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Labortheoretiker. Seine engen Verbindungen zum WIV werfen Fragen auf. Daszak schweigt bisher zur Veröffentlichung des Antrags. »Unbestritten ist, dass manche Gain-of-Function-Forschung, eventuell auch jene, die gemäss dem neuen Antrag hätte gemacht werden sollen, gefährlich sein kann. Die genetische Veränderung von potentiell für den Menschen infektiösen Viren kann durchaus neue Viren hervorbringen, die ein Pandemiepotenzial haben.«
DER SPIEGEL, 25. September 2021
Veronika Hackenbroch, Alexander Sarovic: Neue Dokumente – woher stammt das Virus von Wuhan?
Neue Unterlagen zur Zusammenarbeit zwischen der EcoHealth Alliance (Peter Daszak), dem Wuhan Institute of Virology (Shi Zhengli) und der University of North Carolina (Ralph Baric) u.a. wurden von der DRASTIC-Gruppe, einem Netzwerk von Rechercheuren, veröffentlicht. Dabei geht es um einen Förderantrag an das Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), der sich auf einen Betrag von über 14 Mio USD belief. Er wurde jedoch abgelehnt. Ziel des Teams um Daszak wäre gewesen, im Labor in SARS-verwandten Coronaviren eine Furin-Spaltstelle einzubauen, die es dem Virus erlaubt hätte, menschliche Zellen zu infizieren. Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, meint, dass man solche Anträge »nicht aus dem Blauen heraus schreibt.« Demnach wäre es denkbar, dass einzelne Vorhaben schon umgesetzt worden sind. Beweise dazu fehlen jedoch. Es wäre aber wichtig zu klären, so Wikelski weiter, »welche Experimente durchgeführt worden sind und welche nicht«. Der Schwerpunkt der gentechnischen Veränderungen hätte nicht am WIV, sondern in den Labors der Universität von North Carolina in Chapel Hill stattgefunden. Das entlastet zwar das WIV, gleichwohl liefert die Veröffentlichung mögliche Argumente für die Labortheoretiker. Zoonose-Vertreter wenden ein, dass es eine solche Furin-Spaltstelle bei gewissen Coronaviren bereits gibt (z.B. im sogenannten HCoV-HKU1), sie ist also nicht außergewöhnlich und ist durch natürliche Entwicklung entstanden. Im Antragsschreiben selbst weist Daszak darauf hin, dass es sich weder um eine »dual-use« noch um eine »gain-of-function«-Forschung handle.
In einem weiteren Projekt der EHA, das zwischen 2014 und 2020 durchgeführt wurde, veränderten die Forscher ein SARS-verwandtes Virus namens WIV1. Die neuen Erreger wurden an Mäusen getestet, sie waren gefährlicher als das Ursprungsvirus. Die Experimente fand nicht am WIV sondern am Wuhan University Center for Animal Experiment statt. »Keines der Experimente hätte die Coronaepidemie herbeiführen können«, schreibt der SPIEGEL weiter. Allerdings fragt sich etwa die Virologin Karin Moelling von der Universität Zürich, nach welchen Kriterien Forscherkollegen einen Versuch als gain-of-function einstufen oder eben nicht. »Wir brauchen dringend klare Regeln. Die Frage, welche Forschung zu gefährlich ist, um durchgeführt zu werden, oder in welchen Fällen höhere Sicherheitsauflagen im Labor notwendig sind, ist wahnsinnig wichtig.«
The Atlantic, 25. September 2021
Daniel Engber, Adam Federman: The Lab-Leak Debate just got even messier
Daniel Engber und Adam Federman nehmen die DRASTIC-Meldung über das Forschungsvorhaben von Peter Daszak und anderen ebenfalls auf. Demzufolge hat die Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums (DARPA) den Antrag auf Unterstützung eines Forschungsprojektes bezüglich der Übertragbarkeit von Fledermaus-Viren auf Menschen abgelehnt. Dabei wollten die Forscher bei Coronaviren genetische Manipulationen vornehmen, die die Übertragung auf den Menschen verbessern soll. Diese Forschungsanlage passt haargenau ins Argumentationsschema der Laborthese: ein gain-of-function-Experiment, dass außer Kontrolle gerät, dabei entweichen genetisch veränderte Viren aus dem Labor. Hauptdarsteller und übliche Verdächtige: Peter Daszak (EcoHealth Alliance) als Projektverantwortlicher, Ralph Baric (University of North Carolina) als gain-of-function-Spezialist und Shi Zhengli (Wuhan Institute of Virology) als Virenlieferantin und spätere Leiterin der Experimente der in den USA veränderten Viren in ihrem Labor. Hinzu gesellt sich noch das National Wildlife Health Center, ein Labor in Wisconsin. Zu schön, um wahr zu sein, urteilt The Atlantic.
Die Autoren haben nachgefragt. Die Unterlagen stimmen. Das Projekt wurde wie beschrieben eingereicht, die Behörden haben abgelehnt. Aber die Enthüllungen liefern keine neuen Argumente zur Laborthese. Gleichwohl erlauben sie erhellende Einblicke in den Forschungsbetrieb.
Das Augenmerk der involvierten Forscherinnen war 2018, also bevor SARS-CoV-2 offiziell die Weltbühne betrat, auf die richtige Frage gerichtet: auf jene Stelle im Spike-Protein (Furin-Spaltstelle), die von menschlichen Enzymen geöffnet werden kann und damit die Übertragung ermöglicht. Und diese Stelle wollten die Forscher tatsächlich mittels einer genetischen Technik in ein Virus einsetzen. Labortheoretiker Nicholas Wade sagte: »Diese genetische Manipulation steht am Ursprung des Rätsels, woher das Virus stammt.« Kritikerinnen der Laborthese haben diesem Argument entgegnet, dass einfache evolutionäre Mechanismen das Vorhandensein dieser Stelle in SARS-CoV-2 gut erklären können, es gebe keine logischen Gründe, wieso diese Entwicklung in einem Labor stattgefunden haben sollte.
Es gibt keine Hinweise, dass das abgewiesene Projekt trotz negativem Bescheid der DARPA in Angriff genommen worden ist. Und wenn ja, ob es je in jenem Stadium angelangt ist, wo diese Manipulation vorgenommen worden wäre. Diese Eingriffe am Spike-Protein hätte im Labor von Baric stattgefunden, also mehr als 12’000 Kilometer weit entfernt von Wuhan. Die Molekularbiologin Alina Chan, die die Labor- und die Zoonosethese genauer überprüft haben will, meint, dass es nicht das erste Mal gewesen wäre, dass ein manipuliertes SARS-verwandtes Virus im Wuhaner Institut getestet worden wäre. Das Labor hatte Erfahrungen damit und war entsprechend ausgerüstet. Andere Wissenschaftler fügen an, dass der Zeitplan des Projekts so definiert war, dass das Institut in Wuhan im Herbst 2019 die veränderten Viren bekommen hätte, also just vor dem Ausbruch der Pandemie.
Wieder andere Exponenten sehen den Ablauf kritischer. Mikrobiologe Alex Crits-Christoph etwa meint, es sei unrealistisch zu glauben, dass bis November 2019 die veränderten Viren im Wuhaner Institut angekommen wären. Zudem sei das Virus, um das es sich gehandelt hätte, nur ungenau spezifiziert worden, hätte also erst noch gefunden und isoliert werden müssen. Vaughan Cooper, spezialisiert auf pathogene Evolution, sagt, er glaube immer noch an eine natürliche Herkunft des Virus, ihn irritiere aber der Mangel an Aufrichtigkeit in der Forschergemeinschaft.
Und hierbei kommen wir zum zentralen Punkt. Weshalb musste ein Whistleblower auf den Sachverhalt aufmerksam machen? Das deutet auf eine getrübte Stimmung unter den Forscherinnen hin. Dazu passt folgendes Detail: Peter Daszak hat sich im Mai 2020 über die Bedeutung der Furin-Spaltstelle mokiert und den Labortheoretikern vorgeworfen, die künstliche Herstellung eines solchen Virus überhaupt erst aufs Tapet gebracht zu haben. Dabei ist er es, der schon zu solchen Fragen geforscht hat und eineinhalb Jahre vorher ein entsprechendes Gesuch eingereicht hat. Zu seiner Entlastung kann angeführt werden, dass die Resultate dieser Forschung veröffentlicht und für alle Interessierten einsichtig sind. Aber dass er als nicht sehr neutraler Exponent in der WHO-Expertengruppe eingesessen und nicht in den Ausstand getreten ist, als die Gruppe die Rolle des WIV untersucht hat, ist wiederum merkwürdig. Chan findet dieses Verhalten »shoking«.
Die Autoren folgern, dass es richtig und wichtig gewesen ist, diese Informationen zu veröffentlichen. Zu viel sei unter dem Mantel der Verschwiegenheit geblieben, zu viel Geheimniskrämerei und Verschleierungstaktik betrieben worden. Die Enthüllungen hätten dazu geführt, die Vertrauenswürdigkeit der involvierten Personen zu beschädigen. Offenheit und Zugang zu allen relevanten Daten und Fakten seien unerlässlich, sonst würde das Chaos nur noch größer.
Fazit
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind der Meinung – und deshalb ist diese Enthüllung gleichwohl interessant –, dass mit dem geplanten Projekt wichtige Fragen über die Gefährlichkeit und die Legitimation solcher Vorhaben aufgeworfen werden, die die Forschergemeinschaft diskutieren muss. Diese Auseinandersetzung sollte jedoch zuerst innerwissenschaftlich, offen und mit allen relevanten Daten und Fakten geführt werden. Transparenz ist gefragt. In Forscherinnenkreisen wundert man sich zurecht, weshalb ein Whistleblower solche Informationen der Öffentlichkeit zuspielen muss. Wieso also nicht schon vorher in kleinerem Rahmen unter Spezialisten über das Thema debattiert wurde. Erst die breite Diskussion über die Laborthese führte dazu, dass in wissenschaftlichen Kreisen diese riskante und gefährliche Forschungsmethode überhaupt eingehender thematisiert worden ist. Und das ist der falsche Weg.