Michael Stingl über Long Covid

Michael Stingl sieht fast nur noch Long-Covid-Patienten.
Icon Aus der Praxis
Icon Zum Gang der Pandemie
Icon Wissenschaft

Diesen Artikel teilen auf:

Der Wiener Neurologe Michael Stingl behandelt seit vielen Jahren Patienten mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom. Der Schwerpunkt hat sich jüngst auf Long-Covid verlagert. Er ortet in der NZZaS vom 9. Oktober 2021 Zusammenhänge.
Kein Ende in Sicht?

Long Covid ist jetzt auch laut WHO eine definierte Krankheit. Das Krankheitsbild wird als »Post-Covid-19-Condition« bezeichnet. Ab dem 1. Oktober 2021 gibt es dafür eine international gültige Klassifikation: ICD-10. Die Krankheit kommt bei 10 bis 20 Prozent der mit SARS-CoV-2-Infizierten vor. Hierzulande gibt es keine systematische Erhebung, die Zahlen für die Schweiz beruhen auf Schätzungen. Die Symptome treten innerhalb von drei Monaten auf und halten in der Regel mindestens zwei Monate an, schränken die Bewältigung des Alltags erheblich ein, führen zuweilen zu Arbeitsausfällen und lassen sich nicht durch andere Ursachen erklären. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Einschränkungen kaum mehr zurückgehen.

Der Neurologe Michael Stingl sagt, es gebe auch nach eineinhalb Jahren Pandemie noch keine medizinisch schlüssige und objektivierbare Definition von Long Covid. Deshalb gibt es Leute, die behaupten, es sei alles psychisch bedingt. Es gehe eher um Long Lockdown, sagen sie, das mache depressiv und verursache Stress.

Beim Arzt oder bei der Ärztin erfolge die Diagnose häufig durch einen Fragebogen. Dieser sei aber zu ungenau. Müdigkeit, Schwindel und Kopfschmerzen seien als Beschreibungen zu unspezifisch. »Ich mache immer den sogenannten Kreislauftest nach Schellong. Das ist für mich der entscheidende Filter. Das ist messbar und objektivierbar. Er untersucht Veränderungen von Herzfrequenz und Blutdruck, wenn man nach einer liegenden Position aufsteht und einer körperlichen Belastung ausgesetzt wird… Wenn der Puls nach oben geht und/oder der Blutdruck abfällt, dann ist das ein starker Hinweis auf eine Fehlfunktion im autonomen Nervensystem… Die Patientinnen und Patienten, die ich als Long-Covid-Betroffene bezeichnen würde, haben alle eine autonome Dysfunktion. Sie ist für mich das Kennmerkmal von Long Covid. Das autonome Nervensystem ist essentiell, es steuert alle unwillkürlich ablaufenden Lebensvorgänge: Blutdruck, Atmung, Herzfrequenz, Verdauung und vieles mehr. Bei einer Fehlfunktion hat das nicht nur Auswirkungen auf den Kreislauf, es können auch kognitive Probleme wie Schwindel, Konzentrationsprobleme, ein benebeltes Gefühl auftreten. Die autonome Dysfunktion ist auch beim Chronic Fatigue Syndrom ein sehr wesentliches Merkmal.«

NZZaS: »Ist Long Covid denn das Gleiche wie das Chronische Fatigue Syndrom?«

»Wir haben es im Grunde mit einer postviralen Müdigkeit zu tun. Das ist nichts Neues.« Das Phänomen trete nach vielen Krankheiten auf, das sei schon seit der Russischen Grippe im 19. Jahrhundert bekannt. »Jetzt fällt das Problem wegen der schieren Menge an Betroffenen auf. Bei vielen tritt mit der Zeit eine Besserung ein, bei manchen bleibt die Fatigue bestehen.«

Auch wenn es sich um unterschiedliche Viren mit unterschiedlichen Mechanismen handelt, es ende oft mit einem Chronischen Fatigue Syndrom. Eventuell sind es Viren-Reservoirs, die dafür verantwortlich sind, oder Autoimmunreaktionen, die entfacht werden. Genau wisse man es noch nicht. Ein zentrales Merkmal bei Long Covid sei, dass Aktivität zu einer Verschlechterung des Zustands führt, die Grenze zur Erschöpfung sei sehr schnell erreicht, beziehungsweise überschritten. Man dürfe nicht »Pacen«, also möglichst schnell die alte Leistung erbringen wollen. Stingl rät, Energie drosseln und entgegen der Intuition widerstehen, körperliches Training zu praktizieren (z.B. wie bei Rheuma). In der hausärztlichen Praxis sei es denn auch sinnvoll, Schonung zu verordnen. Zum Wirkstoff namens BC 007, der jüngst für Schlagzeilen sorge, sagt Stingel, er eliminiere Autoimmun-Antikörper: Es gebe hoffnungsfrohe Einzel-Berichte, aber noch keine klinischen Tests.

Die Wirkung einer nachträglichen Corona-Impfung, ebenfalls eine angewandte Behandlungsmethode, werde vermutlich überschätzt. »Es gibt Leute, die eine Verbesserung der Symptomatik erleben, aber Heilungen sind wohl eher der Einzelfall. Eine Impfung ist aber bezüglich Schutz vor neuerlicher Infektion absolut zu empfehlen. Ich hoffe, und das ist auch meine Erfahrung, dass es für viele Leute im weiteren Verlauf der Zeit besser wird, auch wenn dies nicht zwingend vollkommene Genesung bedeutet. Ich habe letztens mit einem Kollegen aus den USA telefoniert, und auch dessen Einschätzung war, dass mit der richtigen Therapie etwa 80 Prozent der Leute im Verlauf der Zeit eine Besserung erleben. Bei etwa 20 Prozent erreicht man aber ein Plafond. Mich interessiert der Grund: Sind bei ihnen zum Beispiel die Nerven beschädigt worden, die für die Steuerung des autonomen Nervensystems relevant sind?«

Der Aufwand mit EKG, Herzultraschall, Herz-MRI etc., der allenthalben praktiziert wird, sei nicht zielführend. Dabei gehe es mehr darum, andere Sachen auszuschließen. Für das Auffinden von Auffälligkeiten des autonomen Nervensystems seien sie ungeeignet. »Die autonome Neurologie führt heute ein Schattendasein.« Sie werde in der klassischen Behandlung von Krankheiten wie etwa von Parkinson, von multipler Sklerose oder bei Schlaganfällen kaum berücksichtigt, obwohl zahlreiche Symptome, die jetzt genannt würden, in den entsprechenden Lehrbüchern beschrieben seien.

NZZaS: »Die Beschäftigung mit Long-Covid-Patienten und Patientinnen ist vermutlich keine wirklich dankbare Aufgabe.«

»Ich bin in Österreich belächelt worden, weil ich mich mit Myalgischer Enzephalomylitis und Chronischen Fatigue Syndrom beschäftige. Aber ich nenne die multiple Sklerose als Beispiel. Zu Beginn der 1990er Jahre gab’s nichts, das Gebiet war unattraktiv. Dann begann man die Mechanismen hinter der Krankheit zu verstehen. Wenn man die kennt, kann man Medikamente entwickeln. Wenn man wirksame Medikamente entwickelt, verdienen Pharmafirmen dran. Wenn die Pharmafirmen dran verdienen, ist mehr Geld da für die Forschung. Wichtig ist jetzt, das Thema Long Covid wegzubringen von einer psychosomatischen Diagnose und hin zu Dingen, die man objektivieren kann. Man muss die Krankheitsmechanismen dahinter suchen und Therapieansätze finden.«

Die NZZaS fragt, ob sich etwas verändert habe seit Long Covid.

»Wir Ärzte sind uns gewohnt, über die Patientinnen und Patienten Forschung zu machen, nicht mit den Patienten. Ich finde den Slogan ‘No science about us without us’ sehr treffend. Wenn ein Patient mit ME/CFS oder mit Long Covid zum Arzt geht, wird er in den allermeisten Fällen sehr viel mehr über seine Krankheit wissen als der Arzt. Ich habe viel gelernt von dem, was Patienten und Patientinnen mir erzählen. Es ist vielleicht ein Paradigmenwechsel in der Medizin, dass wir nun gemeinsam mit ihnen die Forschungsfragen definieren.«

Aber es gibt sicherlich auch Fälle, in denen alle bisher erwähnten Therapien nicht anschlügen, dann müsse man vielleicht doch Psychopharmaka oder eine Psychotherapie in Erwägung ziehen.

Zudem gebe es vermutlich bei Kindern seltener schwere Verläufe, dass heiße aber nicht – und hier stimmt er der Virologin Isabella Eckerle zu –, dass man jetzt alle Kinder bedenkenlos anstecken lassen solle.

Die NZZaS fragt zum Schluss, wieviele der Angesteckten Long Covid bekämen.

»Wenn Sie eine Viruserkrankung haben, an der jedes Jahr 5000 Leute erkranken, und ein Prozent trägt Folgeschäden davon, dann ist das im Individualfall zwar schrecklich, es wird aber gesamtgesellschaftlich nicht auffallen. Jetzt fällt es auf, weil es für SARS-CoV-2 keine Hintergrundimmunität gibt und das Virus durchmarschieren kann. Jedes Einzelschicksal ist eine Tragödie. Oft sind es junge fitte Leute. Alle Erkrankten verdienen es, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Egal, ob es 20 Prozent, 10 Prozent oder nur 1 Prozent sind: Es kommt vor, und es sind viele. Long Covid wird uns noch lange beschäftigen.«

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)