Lektüren: Stefan Zweifel, »Wir werden alle Chinesen«

Mit dem Motto: »Die Sause macht Pause« könnte man den Essay von Stefan Zweifel zusammenfassen.
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In der NZZ vom 14. April 2020 meint Stefan Zweifel, dass die Grundprinzipien liberté und égalité suspendiert, die fraternité zur Solidarität umgedeutet worden sind.

Stefan Zweifel schreibt in seinem Essay, dass die westlichen Demokratien sich gerade einer Schnellbleiche unterziehen, das Fach heißt: Blinder Gehorsam gegenüber dem Staat. Vielleicht hatten die französischen Intellektuellen doch recht, als sie nach 1968 scharenweise dem Maoismus verfielen, »unwillentlich und gegen ihr eigenes Denken in einer Art Todestrieb«. Und heute? Sind die Grundprinzipien liberté und égalité Zweifel/Gumbrecht suspendiert, die fraternité zur Solidarität umgedeutet worden. Nach einem Chinabesuch von Roland Barthes 1974 bemängelte er die dröge Uniformiertheit und die Absenz von jeglicher – auch erotischer – Differenz im Lande Maos sowie das Fehlen jeglicher Information. Sein Fazit: »Für diese Revolution müsste ich alles opfern, was mir lieb ist.« Die Angleichung unserer Verhaltensformen basieren in Zeiten von Corona auf Selbstüberwachung und Selbstbestrafung. Der Einzelne wird durch das Selbst gesteuert und gleichzeitig durch das Selbst kontrolliert (Norbert Elias und der Zivilisationsprozess). Laut Foucault wäre das »die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht.« In Zeiten der Pest wurde, wie Foucault ausgeführt hatte, die Bevölkerung in ihren Häusern eingesperrt, das Essen, falls jemand krank wurde, geliefert, Körperkontakt unterbunden (Nähe und Kontakt und Distanz). Social Distancing und Lockdown avant la lettre. Auf der nächsten Stufe der Überwachung stand das Panoptikum: Jeder Mensch kann vom Staat überall überwacht werden – und er soll sich auch überwacht fühlen, das fördert die Selbstdisziplin. Schließlich folgt auf der nächsten Stufe die »medizinische Polizeiwissenschaft«, was wir als »Biopolitik« bezeichnen (Vgl. auch Bernhard Pörksen). Auf die heutige Situation bezogen, soll dies alles dazu dienen, »die Maschine des Kapitals möglichst lange laufen zu lassen und möglichst bald wieder hochzufahren.« Trump ist in der Zwickmühle, denn er will vermeiden, dass es am Schluss heißt: China first. Wie kann er das bewerkstelligen?

Die Postmodernen und die Vertreter der erotisch-politisch Transgression aller Tabus und Grenzen wie de Sade und Bataille, »die den Humanismus der Aufklärung dekonstruierten« sind ausrangiert worden. Es darf nur noch in die Armbeuge gehustet werden. Auch Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit« als Form der Pest, die uns mit dem Virus eines organlosen Körpers infizieren soll, bei dem der Kopf die Kontrolle über den Unterleib verliert, können wir nur noch vor einem zugesperrten Theater lesen. 1933 hält Artaud eine Rede über »Das Theater und die Pest«. Sein Vortrag gestaltet er so, als hätte er selbst die Pest. »… ich wollte die Pest geben, das Erlebnis der Pest, damit sie durch den Schrecken aufwachen. Denn sie wissen nicht, dass sie tot sind,« erklärte er später. Heute erledige dies das Robert-Koch-Institut Daniel Koch . Jeglicher Rausch, jedes Überborden, seien es Drogen, Erotik oder Kunst, scheint aus unserem kulturellen Gedächtnis zu entschwinden. Ansteckungskurven und Spitalbettenstatistiken, Bilder von aufopfernden Ärzten und Pflegern, Bilder von für Angehörige verschlossene Spitaltüren, aber auch Bilder aus New York(Vgl. auch Splitter) und Bergamo erlauben keine »dionysische Gedankenvolten«. Sogar Kinder hätten Phantasien von totalen Überwachungsstaaten, in dem jeder andere der »unsichtbare Feind« werde. Es droht die »komplette Entsolidarisierung mit dem Fremden und den Fremden«. Jeder andere, jede andere ist nicht mehr ein Versprechen von Liebe und Nähe, sondern wird zur potenziellen Bedrohung. Auch die Gesichtsmaske wird zu dieser Entindividualisierung beitragen. Zweifel zitiert George Bataille, der 1946 schrieb: »Von jetzt an ist China weiter von uns entfernt, aber gleichzeitig ist es Vorbote des Sturms. Verblendet, wer davon nicht unterrichtet wird.« Könnte die Krise auch eine kathartische Chance in sich bergen? Auf alle Fälle wird gestritten werden. Dass aber die nun zu erfahrenden Balkonferien den Konsumdrang zurückschrauben werden, darf bezweifelt werden. Wenn die Maschinen wieder zu rattern beginnen, werden alle guten Vorsätze in Nullkomanichts verdampfen. Schließlich sind wir Süchtige, wir brauchen den Stoff. Was wird sich in den Köpfen der Kinder abspeichern von dieser Zeit des Social Distancing? Werden sie zu einer Art »Mitmachmenschen«? Werden wir alle zu Chinesen und zu Nietzsches »letzten Menschen«? Jener Mensch, der züchtig und kontrolliert lebt? Und wenn er anders lebt und fühlt, »freiwillig ins Irrenhaus« geht? Ja, vermutlich. Wir werden gegen das »Dionysische immun sein. Nicht aber gegen den Tod.« Gleichwohl findet Zweifel die Strategie des Bundesrats pragmatisch überzeugend. Und gleichwohl wird die »Disziplinierungsmacht« Spuren in uns hinterlassen.

Die situationstische Parole »Arbeitet nie« wird durch das Homeoffice ersetzt. Guy Debord hat in seinem letzten Film eine Illustration der gegenwärtigen Sackgasse formuliert: »Wir gehen im Kreis und verzehren uns im Feuer – des künftigen Konsums.«

Fazit in aller Kürze: Die Sause macht Pause.

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In der Schweiz: quasi das Daniel-Koch-Institut

Zweifel meint, die Alten, die weggesperrt werden, hätten nicht die gleichen Freiheits-Rechte (Bewegung) wie die Jungen, Gumbrecht meint umgekehrt, dass durch den Schutz der Älteren die Jungen solidarisch handeln und somit das Gleichheitsprinzip, das jedes einzelne Leben gleichviel zählt, aufrechterhalten wird.

Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)