Lektüren: Samantha Rose Hill, »Where loneliness can lead«

Samantha Rose Hill schreibt am 16. Oktober 2020 auf aeon.com über Totalitarismus und Einsamkeit
Die totalitäre Herrschaft muss erreichen, dass der Einzelne seine »Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen« zerstört, »indem sie ihn skeptisch und zynisch macht, so dass er sich nicht mehr auf sein eigenes Urteil verlassen kann.«

Kurz nach Veröffentlichung ihrer Untersuchung über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft wurde Hannah Arendt im Frühling 1955 zu einer Gastprofessur an die University of California in Berkeley eingeladen. Das Thema des Totalitarismus stand im Zentrum ihrer Veranstaltung. Sie war sehr beschäftigt und sie fühlte sich unwohl dabei. Sie vermisste bei ihren Kollegen einen gewissen Sinn für Humor und über dem universitären Leben türmten sich die dunklen Wolken des McCarthysmus. Zudem waren ihr fünf Veranstaltungen pro Woche, die sie geben musste, zu viel. Und statt der erwarteten 30 drängten sich 120 Studenten auf die Bänke. Dass ständig alle Augen auf sie gerichtet waren, bereitete ihr Unbehagen. Der einzige Lichtblick war ein ehemaliger Hafenarbeiter, der sich dem Philosophiestudium zugewendet hatte. Ihrem Mann Heinrich Blücher schrieb sie: »… sehr charmant, aber nicht besonders gescheit«.

Arendt kannte das Alleinsein, sie war nie ein besonders geselliger Mensch und beschrieb sich selbst als Außenseiterin. Sie erachtete dieses Alleinsein oder diese Einsamkeit als Teil des Menschseins. Darüber zu sprechen oder zu schreiben, ist jedoch schwierig, meinte sie, denn jeder empfindet diesen Zustand anders. Zudem besteht die Gefahr, dass die Einsamkeit – positiv betrachtet – meist zu schönfärberisch und zu verklärend in die eigene Biographie integriert oder – negativ gewendet – als ein Befinden diagnostiziert wird, von dem man geheilt werden muss.

Rose Hill blickt kurz auf die Geschichte des Wortes in der englischen Sprache zurück. Zu Beginn wurden vor allem Kirchgänger mit dem Begriff konfrontiert, etwa wenn ihnen mit der Hölle, in der man einsam und alleine vor sich hin leidet, gedroht wurde. Literarisch prominent wurde die Einsamkeit erstmals in Shakespeares Hamlet verwendet. 1694 definierte der Naturalist John Ray Einsamkeit als Orte oder Personen, die weit weg von irgendwelchen Nachbarn waren, der Aspekt der menschlichen und geografischen Bezugslosigkeit spielte dabei eine wichtige Rolle. Bis ins 19. Jahrhundert wurde der Begriff meist in den Kontext einer Handlung gestellt, zum Beispiel, wenn man an einen fernen Ort reist, an einen lonely place. Noch heute träumen viele vom einsamen Strand. Erst spät – in der Romantik etwa – begann man, die Einsamkeit mit einer subjektiven Empfindung oder einem Gefühl zu verbinden. Mit ihr wurde aber auch gedroht, beispielsweise wenn sie in Zusammenhang mit Isolation gebracht wurde. Oder es wurde damit gedroht, von der Welt oder von Gottes Liebe ausgeschlossen zu werden. Das Einsamsein wurde meist negativ konnotiert. In der Genesis heißt es: »Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.« Also stellt er Adam Eva zur Seite.

Der Eremit oder der Einsiedler wurde aber nicht als einsam betrachtet, sondern als alleinlebend. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts säkularisierte sich der Begriff und Einsamkeit wurde auch als ein Gefühl der Entfremdung verstanden. Bis Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff, auch dank des Individualismus, immer geläufiger und wurde ein Bestandteil der Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Einsamkeit als eine typische Gefühlslage, die zur modernen Gesellschaft gehört, wird in künstlerischen Werken thematisiert, etwa in Melvilles Bartleby der Schreiber, in T. S. Eliots Das wüste Land oder in den Bildern von Edward Hopper.

Arendt näherte sich von zwei Seiten der Einsamkeit: als etwas, was man bewusst wählt und das positiv erlebt wird, und als etwas, was man erfährt, das einem zustösst und das dementsprechend negativ empfunden wird. In einer Auseinandersetzung mit dem Werk von Marx, zu dem sie ein Buch schreiben wollte, begann sie darüber nachzudenken, ob es zwischen Einsamkeit, Ideologie und totalitärer Herrschaft einen Zusammenhang geben könnte. Sehr wohl, schloss sie, denn der Totalitarismus, wie er im Nationalsozialismus und im Stalinismus ausgestaltet wurde, ist auf vereinsamte Menschen angewiesen (Populisten wissen das). Beide Herrschaftssysteme rechneten mit den vergessenen Menschen, die zu einer Masse verklumpen und in der das einzelne Individuum sozusagen verschwindet. Mit Isolation und Gewaltherrschaft werden jene idealen Bedingungen geschaffen, die nötig sind, um die vereinsamten Leute mit ideologischer Propaganda zu füttern.
Arendt unterteilte ihre Vorlesung in Berkeley in vier Kapitel: erstens diagnostizierte sie einen Verfall politischer Institutionen; zweitens zeichnete sie die Entstehung der Masse nach; drittens versuchte sie zu erklären, wie imperialistische Kräfte dies für ihre Zwecke ausnutzen wollten und viertens folgerte sie daraus, dass politische Parteien zu Gruppierungen degenerierten, die lediglich ihre eigenen ideologischen Interessen durchsetzen wollten. Das Verhältnis von politischer Theorie und politischer Praxis wurde gemäß Arendt immer prekärer und die Bereitschaft stieg, die politische Theorie als das Nachdenken und Erklären darüber, was ist, durch die Meinung und die Ideologie zu ersetzen, wo es darum geht, was wünschenswert ist, was einmal sein wird. Und gemäß diesen ideologischen Vorgaben soll anschließend gehandelt werden. Die theoretische Überprüfung politischer Inhalte und »Wahrheiten« wurde ideologisch unterfüttert, der Einschätzung und Bewertung der Wirklichkeit liegt ein voreingenommenes und nicht vorurteilloses Weltbild zugrunde. Ideologisches Denken lässt sich prinzipiell weder von Erfahrung beeinflussen noch von der Wirklichkeit belehren. Es verstellt den Blick auf die Tatsachen.

Adressat solcher ideologischen Botschaften wurde der einzelne Mensch in der Masse. Der totalitäre Herrscher musste zuerst dafür sorgen, dass der Einzelne von allem Weltbezug und vom menschlichen Miteinander »befreit« wurde. Erst dann wird er für die ideologische Fütterung empfänglich. Hier präzisiert Arendt und führt eine wichtige Unterscheidung ein: Sie trennt Einsamkeit von Verlassenheit. Kann der einsame Mensch noch handeln und mit sich selbst interagieren, aktiv sein, sich frei fühlen und sich von anderen unterscheiden, ist das für den Verlassenen kaum mehr möglich. Der Mensch in der Masse fühlt sich im Stich gelassen. Erst der Verlassene ist massentauglich. Diese Verlassenheit – und nicht die Einsamkeit – ist das Grundgefühl des Menschen in der Masse. Totalitarismus baut auf die Verlassenheit und nicht die Einsamkeit.

Von Einsamkeit und Verlassenheit ist noch die Isolation zu unterscheiden. Isolation als positiven Zustand verstanden, beschreibt eine Situation, in der ich nicht mit einem anderen interagieren will oder kann, weil es diesen anderen nicht gibt. Aber in der (selbstgewählten) Isolation, in der ich der Welt den Rücken zukehre, kann ich kreativ werden oder Bücher lesen oder meditieren. Ich kann diese Isolation auch wieder verlassen. Totalitäre Herrschaft braucht die Isolation negativ und umfassend. Und zwar, um den einzelnen von seinen Mitmenschen zu trennen. Obwohl das Bedürfnis bestünde, untereinander zu interagieren, zusammenzuarbeiten, zusammen etwas auszudenken und zu unternehmen, wird dieses Verlangen vom Machthaber unterdrückt, beziehungsweise werden die Bedingungen so gestaltet, wie er es will. Das, wie Arendt es nennt, eiserne Band des Totalitarismus zerstört die Fähigkeit, sich zu bewegen, zu handeln und zu denken. Die Welt wird zum Unort, in dem weder eigenes Denken noch eigene Erfahrungen erwünscht sind.

Um dieses Gefühl der negativen Isolation zu erreichen, setzt die totalitäre Herrschaft die Ideologie ein. Denn, wie schon erwähnt, setzt die Ideologie die Wirklichkeit außer Kraft, erklärt nicht, was ist, sondern was sein soll, verunmöglicht, Erfahrungen zu machen und schafft eine andere Realität. Die totalitäre Herrschaft muss außerdem erreichen, dass der Einzelne seine »Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen« zerstört, »indem sie ihn skeptisch und zynisch macht, so dass er sich nicht mehr auf sein eigenes Urteil verlassen kann.« Der vermasste Einzelne verliert seine Beziehung zu sich selbst, den Realitätssinn und seine Einbildungskraft, er leugnet Pluralität und zerstört den Raum zwischen sich und den anderen, der es ihm erlaubte, auf sinnvolle Weise zu Mitmenschen in Beziehung zu treten. Arendt schreibt: »Das ideale Subjekt der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern ein Mensch, für den die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion (d.h. die Realitätserfahrung) und die Unterscheidung zwischen wahr und falsch (d.h. der Maßstab des Denkens) nicht mehr existiert.« Mit anderen Worten: der Mensch verliert seine Orientierung und seine Eigenständigkeit. Und seine Freiheit.

Beunruhigend ist der Gedanke, dass auch der progressive, kritische und wache Geist vor den Schalmeienklängen des Totalitarismus nicht gefeit ist. Denn wenn jemand mit der Realität nicht zufrieden ist, immer etwas Besseres verlangt, wenn jemand nicht bereit ist, der Welt, so wie sie ist, gegenüberzutreten, dann lockt das ideologische Denken. Und vielleicht wird man anfällig für die organisierte Einsamkeit.

Arendt beklagte sich darüber, dass sie in Berkeley ständig unter Beobachtung stand und kaum Raum für ihre produktive Einsamkeit fand. Sie fürchtete um ihre Beziehung zu sich selbst, sie fürchtete, sich in der Gemeinschaft zu verlieren. Sie fand den privaten Rückzugsort nicht, den sich braucht, um zu denken. Paradoxerweise fühlte sie sich in Berkeley dann am einsamsten, wenn sie in Gesellschaft war. Aber diese Einsamkeit erlaubte es ihr nicht, nachzudenken. Sie näherte sich in beunruhigender Weise einem Massengefühl. So schließt sie schon sehr dialektisch anmutend: »Was die Einsamkeit (in der Masse, a.s.) so unerträglich macht, ist der Verlust des eigenen Selbst, das erst in der Einsamkeit verwirklicht werden kann.« Dieser konstruktive und kreative Prozess, den wir nur durchleben, wenn wir alleine sind und uns mit uns beschäftigen, wird von der totalitären Herrschaft unterbunden.

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Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)