In den letzten zehn Jahren erfuhr das Wort Diskriminierung in den Medien eine beachtliche Karriere und ist heutzutage zu einem politisch »heißen« Begriff geworden. Nicht alle verstehen ihn aber gleich: Die einen verbinden Diskriminierung mit der politischen Aufgabe, die Gesellschaft gerechter zu gestalten, sie also von Diskriminierung jeglicher Art zu befreien. Andere beklagen sich darüber, dass eine – meist gebildete städtische – Elite das Wort Diskriminierung in Politik, Medien und Wissenschaft als einen sprachlichen Kampfbegriff einsetzt, um ihre Agenda durchzusetzen.
Zudem sind die Situationen, Ereignisse und Geschehnisse, in denen auf den Ausdruck zurückgegriffen wird, hinsichtlich der Relevanz häufig unübersichtlich und zuweilen umstritten. Ein Parkplatz suchender Motorradfahrer fühlt sich von einer Verkehrspolitik, die dem Vespafahrer erlaubt, auf dem Trottoir zu parkieren, er aber nicht, genauso diskriminiert, wie eine hochqualifizierte Kaderfrau, die für ihre Arbeit weniger Lohn erhält wie ihr Kollege, der die gleiche Funktion innehat. Es droht eine Nivellierung von Bedeutung. »Die exzessive Verwendung trivialisiert das wuchtige Wort.« Dabei kannte die Schweizerische Verfassung bis 1981 kein einziges Diskriminierungsverbot. Man subsumierte alles unter dem Begriff der Gleichheit. Unterschiedliche Behandlungen verschiedener Bevölkerungsgruppen waren zulässig, solange es hierfür »sachliche Gründe« gab.
Das hieß aber auch, dass etwa »biologische Unterschiede« zwischen Mann und Frau oder die ungleichen sittlichen Bewertungen, wie Homo- und Heterosexualität gesehen werden, als »sachliche Gründe« zu verstehen waren. So galt erst ab der Verfassung von 1981 ein Verbot der Geschlechterdiskriminierung, im Zivilgesetz wurde allerdings der Ehemann immer noch als Familienoberhaupt bezeichnet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den meisten Leuten bewusst, was es heißt, wenn zwischen Bevölkerungsgruppen so barbarisch unterschieden wird, dass es in die Katastrophe führt. So wurde im Rahmen der Vereinten Nationen 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert. Um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, wurde eine Liste erstellt, die neben den gewünschten Geboten auch Verbote mit verdächtigen oder verbotenen Begründungen aufzählte, mit denen auf problematische Weise zwischen Gruppen unterschieden wurden. Die Kriterien betrafen etwa die Religion, die Hautfarbe oder die soziale Herkunft. Die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, der die Schweiz 1974 beitrat, stützte sich ebenfalls auf solche Listen. Zwar nicht auf Stufe Verfassung, sickerte die Geist der Konvention gleichwohl immer spürbarer in die Schweizerische Rechtsprechung ein. In der neuen Bundesverfassung von 2000 wurde schließlich in Artikel 8 ein allgemeines Diskriminierungsverbot erlassen, das sich auf die Vorgaben der internationalen Menschenrechte abstützt.
Zwei Politik-kulturelle Entwicklungen, die beide mit der Idee der Gleichheit zusammenhängen, sind hinter diesem Aufstieg des Begriffs der Diskriminierung zu orten. Einerseits hat sich nach dem Ende des Kalten Kriegs der Schwerpunkt in der Politik von den Auseinandersetzungen über der Idee der Freiheit hin zur Diskussion über Idee der Gleichheit verschoben. Der freiheitliche Westen hatte sich nach dem Mauerfall gegen das kommunistische System durchgesetzt. Fortan musste also nicht mehr um die Freiheit gekämpft werden, sie zu haben wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Dabei war sie auch im Westen kein unumstrittener Begriff, man denke etwa an die Protestbewegungen in den 1960er-Jahren, als beide Seiten sich auf ihn bezogen. Als Leitvokabel war die Freiheit in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen also auch in der westlichen Hemisphäre von zentraler Bedeutung. Nach 1989 verlor sie auf globaler Ebene jedoch etwas an Einfluss. (Wobei man seit dem Aufkommen moderner autokratischer Mächte doch wieder vermehrt um die Idee der Freiheit bangen muss.) Dafür erfuhr die Idee der Gleichheit einen Aufschwung. Noch zu Zeiten des Kalten Kriegs wurde die Gleichheit in den marktwirtschaftlich orientierten Staaten eher schief angesehen, beriefen sich doch sowohl die Sowjetunion als auch China auf sie, setzten sie gar ins Zentrum ihrer Ideologie. Nicht dass sie in der sogenannt freiheitlichen Welt keinerlei Bedeutung gehabt hätte, man denke etwa an das Wohlstandsversprechen während der Hochkonjunktur. Breite gesellschaftliche Schichten erfuhren eine markante Verbesserung ihrer Lebenssituation. Gleichwohl blieb die Idee der Gleichheit in den Ländern eher ein innenpolitisches Phänomen, das sich zudem vor allem auf ökonomische Bereiche bezog.
Andererseits – und hier beginnen sich zwei Gleichheitsideen übereinander zu schieben – breitete sich ab den 1970er-Jahren zunehmend ein Gefühl aus, »wonach die Gleichheitsidee verstärkt gleiche Berücksichtigung des Spezifischen des Einzelnen verlangte.« Die Gleichheitsfrage entkoppelte sich von der rein sozialen Frage wirtschaftlicher Prägung. Vielgestaltige Bewegungen entstanden, die sich inhaltlich zum Teil stark unterschieden. Entwicklungspolitische und ökologische Themen rückten in den Mittelpunkt, und ebenso die Frage nach den Geschlechterverhältnissen.
»Das binäre Programm des Kalten Krieges – Freiheit gegen egalitären Sozialismus – geriet unter Druck.« Nicht etablierte Minderheiten, die bis anhin keine besonderen Rechte genossen, begannen, sich für ihre Interessen zu engagieren. Auf globaler Ebene fand etwa in der UNO ein Mehrheitswechsel statt. Im Prozess der Dekolonisierung verfügten plötzlich die Länder aus dem globalen Süden und die Schwellenländer über mehr Stimmen als ihre ehemaligen Kolonialherren, was Letzteren nicht behagte. Das war verbunden mit einem Perspektivenwechsel. Einst war sich die westliche Welt gewohnt, zu definieren, nach welchen Kriterien zu entscheiden ist. Diese Gewissheit über die prägende Rolle in allen Weltregionen wurde angezweifelt. Diese Verwandlung hinterließ Spuren. Und manche fragten sich verwundert: was ist das Fremde und was das Eigene? Oder: Welche sind die maßgebenden Motive und Inhalte, nach denen gehandelt wird? Die Politik über ethnische oder kulturelle oder religiöse Themen war nicht mehr an die soziale Frage gebunden wie ehedem, sondern wurden eben ethnische, kulturelle oder religiöse. Zudem fasste die Überzeugung Fuss, dass Minderheiten nicht mehr per se als etwas Negatives, Defizitäres, mit Mangel Behaftetes, zu Reparierendes aufzufassen ist. Es ging nicht mehr »nur« um Toleranz gegenüber Minoritäten, sondern um einen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und gleiche Rechte. Im Kulturbetrieb etwa wurde schon sehr früh erkannt, dass eine Andersheit, eine Diversität auch einen Vorteil bedeuten kann.
Unterfüttert wurden diese Entwicklungen durch nicht zu unterschätzende theoretische und intellektuelle Bestrebungen, Machtstrukturen zu analysieren und zu kritisieren. In den Anfängen entlarvten in den Vereinigten Staaten vor allem Vertreter und Aktivisten, die sich auf die »Critical Race Theory« beriefen, die Mechanismen »struktureller Gewalt«, in Europa waren die Ideengeber eher in der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule zu suchen. Erst in jüngster Zeit orientiert man sich auch auf dem alten Kontinent häufiger an der CRT. Auslöser der CRT war ein Vorfall an einer Universität. Ein weißer Dozent, der einen Kurs über rechtliche Fragen in Zusammenhang mit Rassenproblemen ausschrieb, zog sich als Lehrbeauftragter zurück. Die Unileitung berief einen weißen Kollegen als Ersatz. Bei schwarzen Studenten regte sich heftiger Protest. Dass nur Weiße das »Konzept Rasse« vermitteln können, wurde nicht akzeptiert. Das Argument: Ein weißer Professor – welcher Gesinnung er immer auch anhängen mag – sei immer ein Repräsentant weißer Unterdrückung.
Diese Gedankenfigur wurde auch auf andere Themen übertragen. Wer über eine »Minderheit« sprechen und wer sie wie bezeichnen dürfe, wurde etwa auch von der Genderbewegung aufgegriffen. In den Fokus geriet folgerichtig die Sprache. Denn mit Sprache und ihren Begriffen manifestiert sich immer auch Herrschaft. Ab wann gilt ein Begriff als herabsetzend? Als vorteilhaft erweist sich zudem, »die eigene Gruppe als die einer Opfergruppe zu beschreiben.« Das »Opfersein« (Buchtitel von Svenja Goltermann) verlor zunehmend den Makel des Selbstverschuldens, da man Opfer von struktureller Gewalt wurde. Die Opferrolle wurde gewissermaßen gesellschaftsfähig und zudem häufig vom Individuum auf die Gruppe ausgedehnt. So wird eine Verletzung eines Gruppeninteresses zu einem relevanten politischen Problem für die gesamte Gesellschaft. Denn wo es Opfer gibt, gibt es auch Täter.
Diggelmann stellt fest, dass sich die Situation trotz Fortschritten in der Gleichberechtigung verschiedenster Gruppen nicht beruhigt hat. Er referiert das Paradox des Demokratietheoretikers Alexis de Tocqueville: »Tocqueville hatte festgestellt, dass der Abbau von Ungleichheiten die Sensibilitäten gegenüber verbleibenden Ungleichheiten eher steigert als mindert. Er schrieb dies der inneren Unruhe zu, die sich jede egalitäre Gesellschaft einhandle. Wenn Menschen gleich sind, muss größerer Erfolg des Nachbarn immer als Folge größerer Anstrengung oder Geschicklichkeit erscheinen.«
Freiheit und Gleichheit, so Diggelmann, müssen in einer liberalen Gesellschaft immer wieder neu verhandelt und austariert werden, da sie sich teilweise gegenseitig bedingen und ausschließen. Und dies geschieht zum Beispiel mittels Debatten über Diskriminierung. »Jede Intervention im Namen der Gleichheit hat das Freiheitsproblem mitzudenken, das sie erzeugt – und jeder Ausbau von Autonomieräumen das Gleichheitsproblem.«
Dieser Prozess der Ausdifferenzierung und Justierung ist unumkehrbar, auch wenn dieses Aushandeln zuweilen mühsam und nervenaufreibend ist. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht für alle Gruppen und alle Gruppeninteressen die gleichen Standards gelten. Die Gleichheit orientiert sich nicht mehr an einer Vorstellung eines – bildlich gesprochen – DIN-Standards. Es gibt keinen Normlebensentwurf und keine Normverhaltensweise, nach denen sich alles zu richten hat. Verbindlichkeiten können kaum mehr abstrakt definiert, sondern müssen an konkreten Fragen verhandelt werden. Das hat auch sein Gutes: Die Gesellschaft erhält die Möglichkeit, human zu werden, nicht alles über einen Leisten zu schlagen oder wie Diggelmann sagt: ihre Barschheit gegenüber Nichtmajoritäten abzustossen. Die Justierung zu finden und die Balance zu wahren ist anspruchsvoll. Letztlich aber ein Gewinn für Freiheit und Gleichheit. Oder eine Wiedergeburt der guten und sachlichen Gründe.