Lektüren: Gerhard Matzig, »Im Einklang mit der Natur«

Argumente gegen die Impfung
Was es bedeuten kann, wenn die eigene Gesundheit über alles andere gestellt wird. Oder mit der Achtsamkeit übertrieben wird. Oder der Körper als unverletzbar angesehen wird. Nicht nur eine Polemik von Gerhard Matzig in der SZ vom 26. November 2021.

Die erfolgreiche und achtsame Architektin in München will sich partout nicht impfen lassen. Der Impfstoff wurde an Tieren getestet, vielleicht, sie weiß es nicht mit Sicherheit. Deshalb aber. Da spielt es offenbar keine Rolle, dass sie mit einem Piks nicht nur sich selbst, sondern auch andere schützt. Tierschutz kommt vor Menschenschutz, vor Gesellschaftsschutz, vor Schutz der medizinischen Infrastruktur, vor Schutz der Volkswirtschaft, der Kultur, der Bildungsstätten. Im Vereinigten Königreich wird ethischer Veganismus übrigens als philosophische Überzeugung, und damit als Religion, eingestuft. Ist also schutzwürdig. Gleichwohl gibt es für bestimmte Berufsgruppen eine Impflicht. Sogar die Tierrechtsorganisation Peta schreibt: »Solange Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben sind, macht es wenig Sinn, ein Medikament aus ethischen Gründen zu verweigern.«

Ein weiteres Argument gegen eine Impfung: (meist) junge Männer sagen, sie seien sportlich, fit und gesund (in der Schweiz sagen das auch ältere, nicht so sportliche Männer, und lassen sich deshalb nur einmal impfen). Und es gelte, den Respekt für die körperliche Unversehrtheit einzuhalten. Das sagt auch der Bayern-Spieler Joshua Kimmich. Der Bestsellerautor Richard David Precht hat geäußert, er finde den Druck, der auf Eltern ausgeübt werde, die Kinder impfen zu lassen, übertrieben. Kinder dürften beim Aufbau ihres eigenen Immunsystems nicht gestört werden. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler (sie ist geimpft) und Precht betonen die geistige Freiheit, die es zu wahren gilt.

Zurück zu den jungen, fitten Männern: Sie glauben außerdem, die Statistiken hätten gezeigt, dass sie nicht betroffen seien. Glauben trifft auf Wissen. In säkularen Zeiten eine schwierige Konstellation. Ausgerechnet jetzt, wo Rationalismus gefragt ist, verbreitet sich sehr viel Irrationales, Emotionales und psychisch Auffälliges. Dabei wird allgemeine, wissenschaftliche Erkenntnis in individuell gefühltes Wissen umgedeutet. Das ist weder sinnvoll noch zielführend. »Ohne den Windchill-Effekt des Gefühligen ist das ganze deutsche (und österreichische und schweizerische, a.s.) Corona-Desaster nicht zu erklären.«

Einer der oben erwähnten jungen Männer sagt auf Radio Bayern 2, die Impfstoffe seien die schlechtesten der Welt. Woher will er das wissen? Wir hegen einen Verdacht: vom digitalen »Informationsdiscounter«. Und dann unterstellen wir dem jungen Mann noch bösartig einen egozentrischen Starrsinn, an dieser Meinung festhalten zu wollen. Mit Überzeugung. Vielleicht auch mit Fanatismus. Kommt noch ein Prise Selbstoptimierung hinzu, richtet er sich in diesen hyperindividuellen Zeiten »ein Leben als Bricolage der gefühlten Überlegenheit« ein.

Der Begriff Bricolage geht auf Claude Lévi-Strauss zurück. Der Bricoleur sieht sich als Gegenspieler des Ingenieurs. Er setzt der Welt der Zahlen, der Messbarkeit, der Gewissheiten und der Rationalismen den Aspekt des Zweifels und den Akt des Zweifelns entgegen. Dummerweise hat sich jedoch dieser Zweifel bei vielen Leuten verselbstständigt und bezieht sich gar nicht mehr auf die Zahlen der ernstzunehmenden Wissenschaft (wobei es einige der entscheidenden und relevanten Zahlen auch beim Informationsdiscounter zu holen gäbe, a.s.). Die Folge davon ist, dass Intensivmediziner wie Cihan Celik oder in der Schweiz etwa Huldrych Günthard oder Stephan Jakob dem Publikum im Fernsehen mit drastischen Worten auseinandersetzen müssen, was es bedeutet, auch als junger, fitter Mann mit Covid-19 auf der Intensivstation zu liegen. Alle Mediziner hören von den Patienten immer wieder den gleichen Satz: »Hätte ich mich doch impfen lassen.« Sogar der sehr kontrollierte Jens Spahn ließ sich zur Aussage hinreißen: »Was muss eigentlich noch passieren, damit ihr es kapiert?«

Allerdings darf man das nicht zwingend verwechseln mit Dummheit. Denn es gibt ein paar kluge Leute, die sich nicht impfen lassen. Matzig: »Die Pandemie der Ungeimpften ist auch eine Pandemie der besonders Achtsamen, deren besondere Achtsamkeit auf das je eigene Besonderssein zielt.«

Der Ehemann von Angela Merkel sagte in der italienischen Zeitung La Repubblica, dass die tiefe Impfquote auch mit Faulheit und Bequemlichkeit zu tun habe. Vielleicht aber auch mit dem Gegenteil: mit der agilen, umtriebigen, belehrenden, sich moralisch überlegen fühlenden Emsigkeit. Diesen zuweilen auch missionarischen Tatendrang legen häufig Leute an den Tag, die sich mit sich und der Umwelt, der Natur, dem Universum im Einklang fühlen. Alles wird zu einem umfassenden ICH. »Es ist die Zeit des von Algorithmen gesteuerten Narzissmus, da man sich vom Smartphone sagen lässt, wieviel Riboflavin man noch zu sich nehmen muss und wie man geschlafen hat. Es ist auch die Zeit, da das Achtsame ins Asoziale umschlägt.«

Dramatisch wird es, wenn diese eher linksgrüne, esoterische und alternative Szene sich von gewissen Rechtspopulisten vereinnahmen lässt, wie das offenbar in der baden-württembergischen Protestszene geschehen ist. Hier treffen sich, wie der SPIEGEL schreibt, zwei Milieus, in denen »Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit« in einer je eigenen Interpretation eine wichtige Rolle spielen. In Süddeutschland richtet sich der Blick zudem zurück auf die Anthroposophie und auf Rudolf Steiner, der schon 1917 der Impfung einen Spiritualitäts-austreibenden Effekt unterstellte (jüngst sagte ein Anthroposoph, die Impfung störe den Inkarnationsvorgang, a.s.).

Das Bricolage-Denken ist also schon alt. Die Moderne als das Zeitalter der technischen Errungenschaften wird seit jeher kritisch begleitet. Diese Kritik ist richtig und wichtig. Es braucht ein Korrektiv. Auch der Glaube an die Technik ist letztlich ein Glaube. Jedoch: »Die aktuelle Impfverweigerung aber ist ein Zivilisationsbruch, der auf einem hoch übersteigerten Hang zum Gesunden basiert. Irgendwie krank.«

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)