Huldrych Günthard über die fehlende Unterstützung

Der Infektiologe Huldrych Günthard spricht über die mangelnde Rücksichtnahme auf das Geschehen in den Intensivabteilungen und sagt, dass die Politik und das BAG zu zögerlich gehandelt haben.
Der stellvertretende Direktor der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich bleibt erfrischend offen und ehrlich. Interview in der Sonntagszeitung vom 9. Oktober 2021.
Vielleicht müsste jemand mal den Schalter umlegen.

Huldrych Günthard glaubt, dass bis im Sommer 2022 die Pandemie vorüber sein könnte. Voraussetzung ist allerdings, dass sich noch mehr Leute als bis anhin impfen lassen, und »dass keine neue Variante auftaucht, gegen die die Impfung nichts nützt.» Davon geht er aber nicht aus, denn »die letzten Mutationen deuten darauf hin, dass das Virus keinen schlimmeren Weg nimmt. Aber genau wissen, kann man das natürlich nie…«

SoZ: »Können wir das Virus in den Griff bekommen, auch wenn es in der Dritten Welt (sic!) noch wütet?«

»Ja. Wenn die Immunität so gut ist, dass man keine schweren Erkrankungen mehr hat, interessiert das Virus hier niemanden mehr… Mit der Impfung kriegt man das gemäß dem aktuellen Wissensstand etwas besser hin als mit einer Infektion, am besten ist wohl beides.«

Also das man sich impft und nachher infiziert, aber besser wohl umgekehrt, »dann hat man eine sehr gute Immunantwort.«

SoZ: »Sie plädieren für den sofortigen Start der Booster-Impfung.«

»Ich verstehe wirklich nicht, worauf wir noch warten. Die Daten sind eindeutig, vor allem bei älteren Leuten, die geimpft wurden… Zumindest organisieren sollte man das Ganze sofort, damit die Logistik wieder hochgefahren werden kann… Ich befürchte vor allem, dass es dann plötzlich wieder schnell gehen muss. Wir sehen jetzt immer mehr Impfdurchbrüche bei älteren Menschen, und es werden wieder große Personengruppen geimpft werden müssen, was Zeit braucht… Wenn wir erst Ende Jahr beginnen, kreieren wir wieder enormen Stress für unser Personal und die Impfzentren…«

SoZ: Werden die neuen Covid-Medikamente die Impfung überflüssig machen?

»Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass das angekündigte Medikament die Pandemie groß beeinflussen wird, aber dem Individuum kann es sehr viel helfen. Damit das Mittel aber wirkt, müssten die Leute sehr rasch zum Arzt gehen – zu einem Zeitpunkt, bei dem sie sich noch gar nicht richtig krank fühlen…«

SoZ: »Wie erklären Sie sich das Misstrauen«, das gegenüber der Medizin – beispielsweise von Impfgegnern – geäußert wird?

»Es ist mir immer noch ein Rätsel, obschon ich sehr viele Gespräche führe. Ist es die Auflehnung gegen staatliche Bevormundung? Sich aus Trotz nicht impfen, dürfte einiges erklären. Dass dies dann gewisse Parteien noch ausnützen, um sich von anderen zu separieren und ein paar Stimmen zu gewinnen, finde ich völlig daneben… Wichtige Parteiexponenten (der SVP) haben sich ja impfen lassen… Es ist scheinheilig, wenn sie sich selber schützen, aber dann zum Teil sagen, man solle sich gegen die Maßnahmen wehren, die zu vermehrtem Impfen führen.«

Die meisten Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation bereuen es, nicht geimpft gewesen zu sein. Gleichwohl ließen sich oftmals deren Verwandte und Bekannte nicht überzeugen. Junge glaube zudem, sie seien stark genug. Im Spitalalltag werden Schutzkleidung zuweilen abweisend angesehen. Eine persönliche Beziehung sei schwierig aufzubauen. Das erschwere die Arbeit.

Zudem geht Günthard auf die schnelle Entwicklung des Impfstoffs ein. Die USA und Deutschland hätten Milliarden in die Forschung und Herstellung gesteckt. Die Studien hätten eine enorme Qualität. »Für mich ist diese Impfstoffentwicklung eine große Leistung der Menschheit. Aber viele Leute sind überfordert und haben offenbar Angst.«

Die Voraussetzungen in der Intensivabteilung seien schwierig. So sei zu erklären, dass nur gerade 30 Prozent bereit sind, an Studien mitzumachen. »Grund ist wahrscheinlich eine Kombination aus kulturellem Hintergrund (viele Patienten kommen ursprünglich aus Ländern im Balkan, a.s.), einem gewissen Misstrauen und der emotionalen Distanz durch Schutzkleidung und Hygienemaßnahmen.« Es brauche aber mehr Daten, denn »nur so lernen wir, ob neue Therapien etwas bringen oder nicht. Mit einer intelligenten Digitalisierung können wir sofort alle Krankheitsverläufe vergleichen und wissenschaftlich auswerten… Zwar wird schon vieles digital erfasst, aber in so unterschiedlichen Systemen und in unterschiedlicher Qualität, dass man die Daten oft nicht brauchen kann. Hinzu kommt der übertriebene Datenschutz.« Günthard will keine chinesischen Zustände, aber es wäre vorteilhaft, erhobene Daten digital zugänglich zu machen, wie das in Dänemark der Fall sei.

Es sei schwierig, neben der Arbeit auf der Station noch Forschung zu betreiben. Zudem fehle das Geld. Meist komme es von Pharmafirmen, oder aber von staatlichen Stellen. Gerade aktuell laufe eine internationale Studie, die vom US-amerikanischen National Institute of Health finanziert wird. Dabei werden verschiedene Medikamente miteinander verglichen. Leider fehlen jedoch Personal und Geld, um alles zu tun, was sinnvoll wäre. »Ich hoffe schon, dass sich durch Covid auch etwas in der klinischen Forschungslandschaft bewegt… Der Nationalfonds finanziert immer wieder nationale Forschungskompetenzzentren zusammen mit Universitäten mit sehr viel Geld. Das ist super. Wir wollten vor ein paar Jahren schon ein solches Kompetenzzentrum für virale Erkrankungen aufbauen und haben uns um das Fördergeld beworben. Wir hätten ein Netzwerk von Forschenden… geschaffen, die auf diesem Gebiet spezialisiert sind – also genau das, was der Schweiz in dieser Krise gefehlt hat… Doch der Antrag wurde abgelehnt. Die Gutachter fanden das Thema zu wenig relevant.«

Günthard glaubt, es hätte weniger Todesopfer gegeben, hätte dieses Zentrum schon existiert. Vielleicht wäre gar eine Taskforce nicht mehr nötig gewesen. Zudem wären innerwissenschaftliche Uneinigkeiten schon früh erkannt worden und man hätte diese Unstimmigkeiten entsprechend früh klären können.

SoZ: »Was waren für Sie rückblickend die größten Fehler der Politik?«

»Zum Teil hat man die Entscheidungen zu zögerlich getroffen. Das hat mit den Masken begonnen, als man die Wirksamkeit infrage stellte…, dann die rudimentäre Digitalisierung… Das BAG hat schlichtweg den Job nicht gemacht. Bei der Schweinegrippe hatten wir das gleiche Problem. Und was ist zehn Jahre später? Datenübermittlung per Faxgerät! Das war schon erbärmlich… (Beim Contact Tracing, a.s.) war der Anfang verständlicherweise schwer, da man das noch nie gemacht hatte. In der ersten Welle konnte man üben, dann gab es eine Entspannung. Anstatt dass man sich in dieser Zeit auf die nächste Welle vorbereitete, die jeder kommen sah, machte man nichts… Das BAG handelte vor allem reaktiv und wenig vorausschauend.«

Ebenfalls die Teststrategie würde nur sehr zögerlich umgesetzt. Es brauchte den Kanton Graubünden, der das Tempo erhöhte.

Allgemein fühlt sich Günthard von der Politik eher allein gelassen. Es gab kaum Unterstützung. Manchmal sei er auch in seinem Berufsstolz getroffen worden, wenn er etwa das Gefühl hatte, die Patienten nicht adäquat behandeln zu können. Die Spitäler bekamen kein zusätzliches Geld, keine zusätzlichen Stellen. Das funktioniere in anderen Ländern und Kantonen besser (z.B. Genf). Gleichwohl sind die Sterblichkeitszahlen im internationalen Vergleich gut. »Etwa 13 Prozent aller Covid-Patienten, die ins Spital kamen, sind gestorben.« Zudem habe man fortlaufend gelernt. So sei auch die Mortalität in der zweiten Welle um mindestens 20 Prozent gesunken.

In weiteren Passagen schildert Günthard die konkrete Arbeit im Spital. Die Stimmung unter den Abteilungen war teilweise getrübt. Gewisse Bereiche wurden heruntergefahren, da man Platz für Covid-Patienten schaffen musste. Viele Operationen mussten verschoben werden. Über die Auswirkungen (z.B. Todesfälle wegen ausbleibender Operationen) sind Günthard keine Daten bekannt. »Was viele nicht verstehen wollen: Die einen Abteilungen hatten plötzlich viel zu viel zu tun, die anderen zu wenig… Einige (aus anderen Abteilungen) sind dann zu uns gekommen und haben uns super unterstützt. Aber das ist nicht einfach, die Medizin ist heute dermaßen spezialisiert. Der Stress wurde für uns dadurch eher noch größer: Plötzlich mussten wir auch noch Ärzte betreuen, die kaum Übung in der Behandlung von Lungenentzündungen hatten. Ich selber habe oft wochenlang schlecht geschlafen.«

Für den 24-stündigen Wochenenddienst oder den Nachtdienst hat er 48 Franken zusätzlich erhalten. »Pro Stunde?«, fragt die SoZ. »Nein, pro Tag.«

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Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)