Grundkurs Epidemiologie 1 und 2

Ein paar grundsätzliche Fakten zur Epidemiologie
Ein erstes Kennenlernen in der NZZaS und der NZZ mit ein paar Protagonistinnen und Protagonisten aus der Fachwelt der Virenforschung und der Epidemiologie im März 2020.
Nicht immer werden Kurven richtig eingeschätzt. Auch am Gotthardpass nicht. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv; Fotograf: Heinz Baumann)
Maskenpflicht in Japans Zügen?

Grundkurs Epidemiologie 1: Stand März 2020 (Quelle: NZZaS)

Mitte Februar 2020 glaubte die WHO noch, den Ausbruch des Coronavirus auf China eingrenzen zu können. Am 20. Februar wurden jedoch die zwei Todesfälle in Iran gemeldet. Fachleute waren alarmiert, musste sich demnach das Virus doch schon länger unentdeckt ausgebreitet haben. Aus China wusste man, dass etwa ein Prozent der Infizierten daran sterben. Zudem war bekannt, dass es ungefähr drei Wochen dauert, bis ein angesteckter Mensch daran stirbt. Das heißt, in der Zwischenzeit haben die zwei Opfer in Iran weitere Personen infiziert, weil diese »keinen Grund (hatten), besondere Vorsichtsmaßnahmen zu befolgen«, sagt die Basler Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft. Bis heute sind in Iran 34 Personen an Covid-19 gestorben. Der Rest ist Mathematik: vor einer Woche gab es schätzungsweise 20’000 Fälle in Iran. Unterdessen sind in Südkorea, Japan und Italien Ausbrüche gemeldet worden und zwar in solcher Zahl, dass davon ausgegangen werden muss, dass sich das Virus schon längere Zeit in jenen Regionen eingenistet hat (Chronik einer angekündigten Katastrophe).

»Ohne Eindämmungsmaßnahmen verdoppelt sich die Zahl der Infizierten nämlich etwa alle 7 Tage.« Ref. Gemäß epidemiologischen Modellrechnungen kann zurückgerechnet werden, wann in China ungefähr die Infektionskette begonnen hatte. Richard Neher vom Biozentrum Basel schätzt, dass dies spätestens im November der Fall gewesen sein muss. Weiter sagt Neher, die Anzahl Fälle würden unterschätzt, die Dunkelziffer ist also hoch. Allerdings verbreite sich der Virus langsamer als die Schweingrippe, dafür war Letztere weniger gefährlich, etwa drei von 10’000 Infizierten starben. Die Sterblichkeitsrate von einem Prozent für SARS-CoV-2 wurde bisher bestätigt, das heißt, dem Virus fallen zehnmal mehr Infizierte zum Opfer als bei der saisonalen Grippe. Nach bisherigen Beobachtungen gibt es bei 14 Prozent der Virusträger einen schweren Verlauf, die Patienten müssen hospitalisiert werden. Wenn sich das Virus im jetzt bekannten Tempo verbreitet, stossen die Gesundheitssysteme westlicher Gesellschaften bald an ihre Grenzen. Kann die Ausbruchschnelligkeit gedämpft werden, können also die Fälle auf der Zeitachse gleichmäßiger verteilt werden, wäre das für die Spitäler weniger problematisch, sagt Neher.

Noch weiß man nicht genug über die Übertragbarkeit des Virus sowie über die Auswirkung der Jahreszeit. In Europa erwartet Neher einen ersten Höhepunkt im Frühsommer und einen zweiten im nächsten Winter. Anders als bei SARS konnte man das SARS-CoV-2 nicht in der ersten Phase stoppen. Ein Grund dafür ist laut Marcel Salathé von der École polytechnique fédéral de Lausanne (EPFL), dass auch infizierte Personen, die keine Symptome haben, ansteckend sind. Das ist ungewöhnlich, heimtückisch und fatal. Salathé sagt, die Epidemie sei nicht mehr aufzuhalten. Hygienevorschriften und Eindämmungsmaßnahmen müssen ergriffen werden, damit entlaste man das Gesundheitswesen und man kauft sich »Zeit, um Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln.« Sollte sich das SARS-CoV-2 wie eine Grippe verbreiten, könnten daran bis zu 800’000 Menschen sterben.

Grundkurs Epidemiologie 2: Die Studie von Neil Ferguson

In der NZZ stellen Helga Rietz, Anja Lemcke und Jonas Oesch ausführlich die berühmt gewordene und viel zitierte Studie von Neil Ferguson vor. Ref. Ferguson und sein Team untersuchte mit Computersimulationen die Ausbreitung des Virus anhand von zwei Modell-Populationen: die eine bezieht sich auf amerikanische, die andere auf englische Populationen und die entsprechenden Gesundheitssysteme. Fünf eindämmende Maßnahmen wurden berücksichtigt: Isolation infizierter Personen; Quarantäne von Mitbewohnerinnen Infizierter; Social Distancing der älteren Leute ab 70; Social Distancing aller Personen und Schließung von Schulen und Universitäten sowie ein Verbot von Großveranstaltungen. Nur wenn mehrere starke Maßnahmen ergriffen werden, lässt sich die Ausbreitung eindämmen: Generelles Social Distancing und Schulschließungen/Veranstaltungsverbot. Die Isolation Infizierter und jene der Mitbewohnerinnen »reichte aber nicht aus, um den Ausbruch in den Griff zu bekommen – auch dann nicht, wenn zusätzlich die Hochbetagten… zum Social Distancing verpflichtet wurden.«

Die Studie zeigt eindrücklich, dass das Resultat durch konsequentes Social Distancing am effektivsten ist. Mit zwei Beispielen wird die Logik der Ausbreitung anhand der mathematischen Berechnungen mit und ohne Social Distancing durchgespielt. Sie beziehen sich auf die bei SARS-CoV-2 beobachtete Infektiosität und es wurde berücksichtigt, dass Symptome erst nach fünf Tagen auftreten oder gar keine spürbar sind. Ohne Einschränkung durch Social Distancing steckt eine infizierte Person in fünf Tagen zwei bis drei weitere Personen an, geht es im gleichen Stil weiter, tragen nach zehn Tagen insgesamt elf Personen das Virus in sich. Nach weiteren fünf Tagen sind es 27, dann 66, dann 164 und nach einem Monat sind es insgesamt 406 angesteckte Menschen. Möglich, dass es dabei zu vier Todesfällen kommt. Mit Social Distancing wird das Virus von Anfang an nur auf halb so viele Personen übertragen. Die Zahlen sehen wie folgt aus: Nach fünf Tagen sind es 2, nach zehn Tagen 4, nach fünfzehn Tagen 7, dann 9, 12 und schließlich nach einem Monat 15 Menschen (dabei werden Ansteckungsketten unterbrochen, wenn eine Person niemand weiteren infiziert). Todesfälle: weniger als einer.

Die kontaktreduzierenden Empfehlungen, so Ferguson, müssten über drei bis fünf Monate gelten, um die Epidemie wirklich einzudämmen. Weiter sagt die Studie, dass zwei Monate nach den Lockerungen die Welle markant ansteigt und wieder ähnliche Maßnahmen ergriffen werden müssten. Erst ein Impfstoff dürfte den Wellengang abflachen lassen (wenn sich den alle impfen lassen). Wirtschaftliche, soziale und psychische Folgen wurden nicht berücksichtigt. Ferguson und seinem Team folgern, dass, als Szenario eins, eine Suppression hilft, bei der die Ausbreitung gestoppt wird. Suppression bedeutet, dass alle Maßnahmen ergriffen werden und solange in Kraft sind, bis die Infektionsketten abbrechen. Das ist in den meisten Ländern nicht der Fall. Also kommt Szenario zwei ins Spiel, die Eindämmung, mitunter auch Mitigation genannt, und die mit dem Bild des »flatten the curve« illustriert wird (Abflachungskünstler). Es werden nicht alle Maßnahmen ergriffen und die Lockerungen erfolgen zu einem früheren Zeitpunkt, ohne dass die Ausbreitung komplett gestoppt wäre. Die Forscher kamen zum Schluss, dass die beiden Gesundheitssysteme (UK, USA) ohne konsequentes Ergreifen einschneidender Maßnahmen beim Höhepunkt der Epidemie an ihre Grenzen stossen würden. Die Haupterkenntnis der Studie ist: »Es genügt nicht, die Ausbreitung der Epidemie zu verlangsamen. Die bessere Strategie ist es, frühzeitig mit harten Maßnahmen die Infektionsketten zu unterbrechen.« Die Untersuchung rät zur Suppression, besagt aber nichts über die Dauer eines Herunterfahrens des öffentlichen Lebens. Sie zeigt auf, wie man Zeit gewinnen kann, um das Virus wirkungsvoll zu bekämpfen (Cluster verhindern, Contact Tracing), sich gegen neue Wellen zu wappnen und die Erkrankten zu pflegen und zu schützen.

Fergusons Studie hat sowohl die englische als auch die US-amerikanische Regierung aufgeschreckt und sie offenbar dazu bewogen, ihre lasche Strategie zu ändern. Im Laufe des März wurden schärfere Maßnahmen ergriffen.

Natürlich wurde die Untersuchung von verschiedener Seite kritisch begutachtet. Beispielsweise mussten für die Berechnungen Parameter herangezogen werden, denen nur Schätzungen zugrunde liegen. Weichen diese Schätzungen zu stark von der Realität ab, komme es zu großen Ungenauigkeiten, wurde moniert. Zudem haben Ferguson und sein Team eher pessimistische Annahmen bezüglich der Einhaltung der Maßnahmen durch die Bevölkerung gemacht (sie gehen zum Teil davon aus, dass nur 50 bis 75 Prozent der Leute mitmachen). Kritisiert wurde zudem, dass das Contact Tracing nicht berücksichtigt wurde (das bei einer zweiten Welle verstärkt zum Einsatz kommen müsste und diese somit schneller abflachen sollte). In Wuhan verfolge man bis jetzt erfolgreich, mit Contact Tracing die Infektionsketten zu orten und zu unterbrechen. Allerdings, so das Gegenargument, sollte man die Unsicherheiten bezüglich Angaben und Zahlen aus China berücksichtigen. Ebenfalls in Südkorea fahre man mit Contact Tracing im Verbund mit Tests eine erfolgreiche Strategie. Allerdings spiele dort eine große Rolle, dass die meisten Infektionen (fast die Hälfte) auf ein Sektenereignis zurückzuführen sind.

Trotz aller Kritik bleibt das Fazit: »Je stärker die Maßnahmen, desto schneller kommt man durch die Krise.« (Ostasien)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Helga Rietz, Anja Lemcke, Jonas Oesch, Die Suche nach Wegen aus der Krise, NZZ, S. 45f (alle Zitate)

Virus

NZZaS, 1.3.2020, S. 46 (alle Zitate)

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

NZZaS, 1.3.2020, S. 46 (alle Zitate)