Vorbemerkung: Der ehemalige Leiter der Abteilung Übertragebare Krankheiten des Bundesamtes für Gesundheit Daniel Koch war (und ist es immer noch) kein großer Freund der universitären, theoretisch ausgerichteten Forschung zur Ausbreitung des Virus. Bei seinen Entscheidungen betreffend der Maßnahmen gegen die Pandemie durch das SARS-CoV-2 stützte er sich vorwiegend auf Erkenntnisse der angewandten Forschung und auf die Erfahrungsberichte aus den Krankenhäusern.
Sehr spät erst, nämlich am 18. März 2020, trafen sich Vertreter des BAG mit den Epidemiologen zu einem Gedankenaustausch. Das Ergebnis blieb zwiespältig. Koch erwähnte immer wieder, dass er den Ratschlägen der universitären Wissenschaftler kritisch gegenüberstehe (Wissenschaft im Dienst der Gesundheit). Beispielsweise kritisierte er die Zahlen des Berner Epidemiologen Christian Althaus, der am 26. Februar in der NZZ sagte, dass Berechnungen des Worst-Case-Szenarios für die Schweiz von ungefähr 30’000 Todesopfern ausgehen. Zu einem der engsten Berater von Daniel Koch gehörte der Infektiologe des Genfer Unispitals Didier Pittet. Erinnert sei diesbezüglich an die Aussagen von Pittet im Interview in Le Temps am 26. Februar. Pittet kritisiert die Berechnungen von Christian Althaus. Der Epidemiologe gehe von einer Infektionsrate von 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung aus. Das sei nicht realistisch. Man habe zurzeit gerade mal einen nachgewiesenen Fall in der Schweiz. Die Schätzungen von Althaus seien »aus der Luft gegriffen und alarmistisch«. Man müsse nun ruhig bleiben und weitere Tests und Abklärungen rund um den Patienten machen. Man solle nicht dramatisieren. Zwar sei man vorbereitet auf das, was kommen könnte, aber man wisse immer erst hinterher, ob die Vorbereitung auch gut war.
Erinnert sei zudem auch an Bundesrat Alain Bersets Reise nach Rom am 25. Februar 2020. Das italienische Ministerium für Gesundheit hatte die Gesundheitsminister der Nachbarländer sowie Deutschlands eingeladen, um sie darüber zu informieren, wie das Land auf die Pandemie reagiere. Die Reise verlief ernüchternd. Berset wurde auf dem Rückflug nach Bern klar, dass die Situation im südlichen Nachbarland aus dem Ruder lief und dass die Schweiz vermutlich bald auch von einer Welle erfasst werden könnte. Als er zudem kurz darauf vom französischen Gesundheitsminister erfuhr, dass Frankreich die Schulen schließen würde, entschied er sich, dass auch die Schweiz entschlossener der Pandemie entgegentreten müsse. Dies, obwohl das BAG (unter anderem wohl auch auf Rat von Pittet) zur gleichen Zeit noch beschwichtigte. Letztlich war es Berset, der darauf drängte, das Tempo zu erhöhen, und das BAG und Koch jene, die bremsten.
Didier Pittet ist der Mister Handhygiene. Sein Spezialgebiet ist die Hygiene in Krankenhäusern. Als Leiter der Infektionsprävention hat er Mitte der 1990er-Jahre festgestellt, dass sehr viele Ansteckungen innerhalb der Spitalmauern auf jenes Personal zurückzuführen sind, welches die Hände nur unzureichend wäscht. Unter diesen Voraussetzungen können Viren und Bakterien sehr gut wandern. Seine Berechnungen gingen davon aus, dass sich weltweit täglich eine halbe Million Patienten in Krankenhäusern mit Erregern infizieren und daran etwa 50’000 Menschen sterben. Die Hände zu waschen, reiche jedoch nicht, das sei sehr aufwendig und man müsse das 22 Mal in der Stunde tun, sagt Pittet. Also musste eine Alternative ersonnen werden. Die bestand im Einsatz von Alkohol. Mit dem damaligen Hausapotheker der Klinik, William Griffith, entwickelte Pittet ein Desinfektionsgel, das seither nicht nur in Genf, sondern weltweit eingesetzt wird. Die Formel ließ er nicht schützen, denn mit einem Patent Geld zu machen, stand nicht im Vordergrund. Er stellte seine Formel auch der Weltgesundheitsorganisation zur Verfügung, die sie noch so gerne auf dem Globus verbreitete. Im Gegenzug wurde Pittet Berater der WHO.
Das Personal im Genfer Spital desinfizierte sich ab 1995 die Hände fast doppelt so häufig, die Erkrankungen durch Erreger nahm um die Hälfte ab. Das »Geneva Hand Hygiene Model« war und ist ein durchschlagender Erfolg: 80 Prozent Ethanol oder 75 Prozent Isopropanol, dazu 1,45 Prozent vom Weichmacher Glycerol, der Rest ist Wasser. Die Produktion eines 100 Milliliter-Flacons kostet einen Euro. Es gibt unterdessen zahlreiche Produzenten und selbst Parfumfirmen stellen das Mittel her, natürlich mit den entsprechenden Duftessenzen und gegen Aufpreis. Der Vorteil des Gels ist, dass er auch in Gegenden eingesetzt werden kann, die wasserarm sind. Und dass er praktisch auf der ganzen Welt produziert werden kann, also auch ärmere Länder nicht von der Preispolitik großer Firmen oder von teuren Zöllen abhängig sind. Zur Herstellung von Ethanol kann auch Zuckerrohr dienen. Die WHO und Pittet haben unterdessen die Gründung von 40 Ethanol-Fabriken initiiert.
Nebenwirkungen? In Russland musste dem Alkohol ein Würgemittel beigemischt werden, da der Rohstoff-Schwund in den Gel-Labors hatte unterbunden werden müssen. Und in islamischen Ländern muss ein Religionsgelehrter die Produktion des alkoholhaltigen Gels absegnen.
Pittet geht bald in Rente. Aber einmal Infektiologe, immer Infektiologe. Pittet will nun die Operationssäle möglichst keimfrei machen. »Es gibt noch so viel zu tun.«