Die Wuhan Files

Zahlensalat, Fehlinformationen, Nachlässigkeit und eine Grippewelle
Geleakte interne Dokumente zeigen, wie die chinesischen Behörden auf den SARS-CoV-2-Ausbruch in Wuhan reagierten. Neben dem Versagen der Gesundheitsämter war noch eine Grippewelle am Anrollen. Am 1. Dezember 2020 berichtet CNN darüber.
Chinesisches Restaurant in New York City

Keine Sicherheitshürde scheint zu hoch zu sein, keine Bürokratie gefeit vor Whistleblowern, auch nicht die chinesische. Jetzt wurden offizielle Dokumente des Center for Disease Control and Prevention der Provinz Hubei geleakt. Ref. Der CNN-Experte für internationale Sicherheit Nick Paton Walsh hat sie gesichtet, hier werden die wichtigsten Fakten zusammengefasst und ergänzt.

The Lancet hatte im Frühjahr berichtet, dass der erste Covid-19-Patient am 1. Dezember 2019 mit jenen Symptomen, die später als typisch für diese Krankheit betrachtet würden, in einer Klinik in Wuhan behandelt worden war (Chronik einer angekündigten Katastrophe). Ein Jahr später sind Unterlagen veröffentlicht worden, die ein genaueres Bild auf die Ereignisse jener Tage in der mittelchinesischen Provinz Hubei zeichnen. Die 117 als vertraulich eingestuften Seiten (»Internal document. Please keep confidential«) zeigen bruchstückhaft, was die zuständigen Gesundheitsämter der Öffentlichkeit berichteten – und was eben nicht, und wie sie von übergeordneten Stellen gemaßregelt wurden. Dabei geht es um nicht zutreffende Zahlen, um Beschreibungen der Situation, um die Irreführung der Öffentlichkeit und Unterdrückung von wichtigen Informationen sowie um fragwürdige Abläufe innerhalb der lokalen Behörden, vor allem des Center of Disease Control and Prevention (CDC). Kurz zusammengefasst bestätigen die Dokumente jene Befürchtungen, die man schon lange hegte, die aber von den Amtsstellen unter einem undurchdringlichen Mantel des Schweigens gehalten werden. Die da wären:

  1. Die chinesischen Behörden gaben ein zu optimistisches Bild der Lage.
  2. Bis zum 10. Januar dauerte es 23 Tage, bis ein Patient ein Testergebnis erhielt. Ergänzt sei hier, dass die Nachweismethoden zu Beginn der Pandemie noch sehr rudimentär waren. Das neue Virus selbst konnte erst ab Mitte Januar diagnostiziert werden, denn es gab noch keine SARS-CoV-2-spezifischen PCR-Tests, bei denen zwei bestimmte Gensequenzen untersucht werden. Die chinesische Forscherin Shi Zhengli vom Wuhan Institute of Virology (WIV) identifizierte den Erreger am 7. Januar 2020 als SARS-verwandt. Am 12. Januar wurde die Gensequenz veröffentlicht, nur gerade vier Tage später wurde auf Basis der Sequenzierung der erste diagnostische PCR-Test von Christian Drosten vorgestellt. Unterdessen gibt es mehrere ähnliche Tests, sie gelten nach wie vor als Goldstandard. Die meisten Resultate, die zu Beginn des Jahres in China gemeldet wurden, waren negativ. Allerdings wurde später anhand der verbesserten Methoden festgestellt, dass viele dieser negativen Befunde falsch waren (also falsch negativ), es waren demnach viel mehr Leute erkrankt als ausgewiesen.
  3. Die Behörden versagten bei der Bewältigung der Krise. Die Amtsstellen sind sowohl personell als auch finanziell unterdotiert, die bürokratischen Prozesse laufen zu langsam und das Warnsystem funktionierte nur mangelhaft.
  4. Die ganze Situation wurde verschlimmert durch eine starke Grippewelle, von der ab Anfang Dezember 2019 die Provinz Hubei erfasst wurde.

Offenbar waren die Behörden komplett überfordert, ihre Entscheidungen waren kaum nachvollziehbar und die kommunizierten Informationen hinterließen zahlreiche weiße Stellen des Nichtwissens und des Nichtsagenwollens. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass das Wissen und die Erkenntnisse über das Virus und den Verlauf der Krankheit und deren Eigenschaften und der Behandlung anfangs noch nicht verlässlich und fundiert waren. Gleichwohl wurde im Weißbuch der chinesischen Regierung vom 7. Juni 2020 über die Bewältigung der Krise noch geschrieben, dass China verantwortungsvoll gehandelt habe, die Behörden die Öffentlichkeit gut informiert habe und allgemein effizient reagiert wurde. Fehler und falsches Handeln wurden nicht eingestanden. Die geleakten internen Quellen sprechen eine andere Sprache.

Zuerst zu den Zahlen: Es werden in den Papieren drei Zeitpunkte herausgepickt und genauer unter die Lupe genommen: der 10. Februar, der 17. Februar und der 7. März.

Am 10. Februar meldete China für die ganze Volksrepublik 2478 Fälle, davon fallen auf die Provinz Hubei 2097 bestätigte Infektionen. Zu diesen 2097 Infektionen kommen in der Provinz offiziell noch 1814 vermutete Übertragungen, macht insgesamt 3911 mögliche Ansteckungen. Die internen Unterlagen nennen andere Zahlen und differenzieren noch weiter aus: Sie sprechen allein für Hubei von 2345 bestätigten, von 1772 klinisch diagnostizierten (aufgrund von Röntgenaufnahmen oder CT-Scans), von 1796 vermuteten und von 5 unbestätigten Fällen, also von insgesamt möglichen 5918 Ansteckungen. Das ist immerhin ein Unterschied von 2000 Infektionen. Fachleute sind der Meinung, dass die Verdachtsfälle eher konservativ berechnet sind. William Schaffner etwa, Professor für Infektionskrankheiten an der Vanderbildt University, sagt, die Daten wären höher, wenn man die Maßstäbe der US-Epidemiologen anwenden würde. Zudem sei eine klare Unterscheidung zwischen Verdachtsfällen und klinisch Diagnostizierten sehr schwierig zu treffen. Die Erfahrungen in den USA zeigen, dass davon auszugehen ist, dass die Mehrzahl der vermuteten Infektionen den Diagnostizierten zugeschlagen werden müssen.

Protokolle chinesischer Ärzte besagen, dass Patienten als Verdachtsfall eingestuft wurden, wenn sie Kontakte mit Infizierten, Fieber und Lungenbeschwerden hatten. Erst aussagekräftigere Röntgenaufnahmen oder CT-Scans, auf denen Entzündungen nachgewiesen werden können, machten die vermuteten zu klinisch diagnostizierten Covid-19-Erkrankten. Mit der Methode, Verdachtsfälle zu ignorieren und/oder klinisch diagnostizierte mit den vermuteten Fällen zu mischen, konnten die Zahlen gesenkt werden. Erst Mitte Februar wurden die klinisch diagnostizierten den bestätigten Fällen zugewiesen. Ebenfalls die Differenz der gemeldeten Todesopfer der Provinz Hubei ist markant. Hier beruft sich das Papier auf den 17. Februar: Offiziell waren es 93 Tote, im internen Report sind 196 nachgewiesen.

Die Daten der Todeszahlen, die am 7. März publiziert wurden, sind ebenfalls bemerkenswert. Offiziell waren bis dann insgesamt 2986 Opfer gemeldet worden. Im internen Report waren es aber 3456 Tote, davon 2675 bestätigte, 647 klinisch diagnostizierte und 126 Verdachtsfälle sowie 8 positiv Getestete (aber noch nicht bestätigt). Auch die Fallzahlen differieren stark an diesem Datum: den 41 bestätigten und 42 vermuteten offiziellen Infektionen stehen 41 bestätigte, 42 vermutete und 32 positiv getestete Fälle in den geleakten Papieren entgegen. Die Kategorie klinisch diagnostiziert erscheint nicht mehr.

Das Problem verschärft sich durch den Umstand, dass die Testresultate sehr lange auf sich warten ließen, also die gemeldete Zahl der Ansteckungen überhaupt nicht aktuell waren. Anfangs ging es bis zu 23 Tage, bis ein Ergebnis eintraf. Das CDC kommt selber zum Schluss, dass in retrospektiven Überprüfungen von negativ diagnostizierten Patienten in etlichen Fällen das Resultat auf die andere Seite kippte.

Chinesische Gesundheitsexperten klagten schon im Februar darüber, dass die zur Verfügung stehenden Tests basierend auf die Analyse von Nukleinsäuren (dabei wird der genetische Code identifiziert) sehr ungenau waren und kaum bei der Hälfte der tatsächlich Infizierten positiv anzeigten. Der steigende Bedarf nach PCR-Test konnte nicht befriedigt werden, daher wurden die Methoden ausgeweitet und immer mehr klinische Verfahren wurden mit einbezogen. Die Ungenauigkeiten blieben bestehen. Immerhin wurde bis zum 7. März die Dauer der Wartezeit massiv gekürzt. Auch erschienen die untersuchten Fälle noch gleichentags in der Statistik; es fragt sich nur, ob in der internen oder der veröffentlichten…

Nun zu den internen Berichten: Ein vertraulicher Report der Regierung über die Arbeit des CDCs gelangte zur folgenden Einschätzung: »Das Hubei CDC ist finanziell unterdotiert, das richtige Testmaterial fehlt und die Angestellten sind unmotiviert und fühlen sich von der gesamtchinesischen Bürokratie vernachlässigt.« Ein weiterer interner Bericht vom Oktober kommt zum Schluss: »Die riesige Lücke beim Personal und bei den Betriebsmitteln des CDCs in den Provinzen hat die normale Ausübung der Funktionen des öffentlichen Gesundheitswesens ernsthaft beeinträchtigt.« Bemängelt wird die Informationspolitik des CDCs. Zudem wurden nicht die richtigen Maßnahmen getroffen, um die Bevölkerung ausreichend über die Ereignisse und die Verhaltensregeln zu unterrichten. Die Frühwarnsysteme haben versagt und die Überwachung des Epidemien-Verlaufs war lückenhaft. Das CDC hat seine führende Rolle bezüglich »Alarmierung, Einleitung epidemiologischer Untersuchungen, Gesundheitsüberwachung und -bewertung, Formulierung von Präventions- und Kontrollmaßnahmen sowie politischen Empfehlungen« nicht wahrgenommen. Es sei zudem lausig kommuniziert worden. Das Bild stellt sich also weit düsterer dar als es das offizielle China in ihrem Weißbuch malte.

Nicht in den Files erwähnt, aber wichtig ist der allgemein bekannte und erbärmliche Umgang mit Kritikern. Zum Beispiel der Augenarzt Li Wenliang, der bis zu seinem Tod immer wieder kritisch über die Lage in Wuhan berichtete. Schon früh wurde er von der Ärztin Ai Fen vom Wuhan Spital über eine neue Lungenkrankheit unterrichtet, die sie vermehrt in ihrer Station behandeln musste. Ai Fen war es schließlich auch, die Gewebeproben ins Wuhan Institute of Virology schickte. Dort stellte die SARS-Spezialistin Shi Zhengli fest, dass es sich beim neuen Erreger um einen Corona-ähnlichen Virus handelte. Nicht nur Li Wenliang, sondern viele Kollegen, mit denen er diese Informationen teilte, sowie die besagte Ärztin Ai Fen mussten ein Schweigegelübde abgeben. Die Polizei warf ihnen vor, sie würden Unwahrheiten verbreiten und die Bevölkerung verunsichern. Nicht alle hielten sich daran. Eben auch Li Wenliang. Bekanntlich steckte sich er sich am Virus an und starb am 7. Februar.

Auch über die zahlreichen überlasteten und überarbeiteten sowie infizierten und gestorbenen Klinikangestellten wird in den veröffentlichten Files geschwiegen. Von Ai Fen gibt es ein eindrückliches Protokoll, in dem sie von den Schwierigkeiten in ihrem Klinikalltag mit Covid-19-Kranken berichtet. Ref.

Insgesamt wurde aber die Politik der Nicht-Information durchgesetzt. Je tiefer jemand in der Hierarchie steht und deshalb von den Vorgängen direkt betroffen ist und etwas Substanzielles dazu sagen könnte, desto weniger kommt er zu Wort. Umgekehrt: Je höher eine Person gestellt und gleichzeitig weiter von der gewünschten Kompetenz entfernt ist, desto lauter darf diese Person kommunizieren.

Und: Ein Unglück kommt selten allein. Anfang Dezember 2019 wurde Hubei von einer Grippewelle erfasst. Es wurden mehr als 2,02 Prozent mehr Erkrankte verzeichnet als sonst in dieser Jahreszeit. In den drei Städten Yichang, Xianning und Wuhan waren das ungefähr 10’500 Fälle. Diese Welle wurde verstärkt von der damals noch nicht bekannten SARS-CoV-2-Welle. Die Behörden hatten offenbar alle Hände voll zu tun, die Grippe zu bekämpfen. Nur wenige kamen überhaupt auf die Idee, dass es sich bei einem Patienten, der sich mit Covid-19-Symptomen herumschlug, gar nicht um einen Grippeerkrankten handeln könnte. Man war gar nicht darauf eingestellt, nach anderen Erregern zu suchen.

Erst Mitte Dezember begannen sich diverse Spitalärzte zu fragen, wieso gewisse Patienten überhaupt nicht auf die üblichen Grippemittel ansprachen und sehr starke Beeinträchtigungen der Lungenfunktion festgestellt wurden. Trotz Bemühungen, im Nachhinein bei den vermeintlichen Grippepatienten nach entgangenen SARS-CoV-2 Fällen zu suchen, blieben die Ergebnisse nichtssagend. Es ist nicht möglich, genaue Zahlen zu eruieren. Aber es ist davon auszugehen, dass die Grippewelle die Verbreitung des Coronavirus beschleunigt hat. Die Ausbreitung konnte sozusagen unter dem Radar erfolgen. Und da die Arztpraxen und Kliniken von überdurchschnittlich vielen Erkrankten aufgesucht wurden, besteht zusätzlich der Verdacht, dass sich das Sars-CoV-2-Virus in den Gesundheitsinstitutionen stark ausbreiten konnte. Es ist wohl nicht so, dass der ab 1. Januar geschlossene Huanan Wet Market die Quelle der Pandemie ist. Das zeigte schon die Untersuchung des Lancet, die nur etwa zwei Drittel der Fälle auf den Markt zurückführen konnte, der Rest steckte sich woanders und vor allem auch schon früher an.

Und zum Schluss: Honi soit qui mal y pense. Eine böswillige Frage, die sich noch stellt: Wem nützt es, dass diese Files zugänglich geworden sind? Oder: Schaden diese Files der chinesischen Regierung wirklich? Oder könnte man auch befürchten, dass es bei den Files um eine öffentliche aber gleichwohl indirekte Maßregelung der örtlichen CDCs seitens der Regierung? Ein Fall für Verschwörungsgläubige.

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https://www.cnn.com/2020/11/30/asia/wuhan-china-covid-intl/index.html

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

https://www.cnn.com/2020/11/30/asia/wuhan-china-covid-intl/index.html