Die Stadt und die Nerven: Wirtschaft

Vorstudien zur Neurasthenie I
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In den Nachforschungen zur Neurasthenie wurden verschiedene Gebiete berücksichtigt. Hier: Wirtschaft
Industriegebiet in Tientsin (China) um 1926 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv; Fotograf: Schmid)
Industriegebiet am Dreispitz um 1924, Basel (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv; Stiftung Flugbild Schweiz, Fotograf: Walter Mittelholzer)

Ökonomischer Wandel

Die mannigfaltigen politischen und ökonomischen Entwicklungen während des 19. Jahrhunderts haben bekanntlich in vielerlei Hinsicht erhebliche Veränderungen für das alltägliche Leben hervorgerufen. Diese Umwälzungen haben in unterschiedlichen Ausprägungen auch die Schweizer und deren Luftkurorte erreicht. Ein Stichwort wird in diesem Zusammenhang zentral: die Nervenkrankheit Neurasthenie.

Zuerst soll kurz umrissen werden, wie sich die alltagsweltlichen Veränderungen manifestierten. Für den einzelnen Menschen haben sich die äußeren – und infolgedessen auch die inneren – Lebensbedingungen stark verändert. Die materiellen Lebensbedingungen verbesserten sich für eine breiter werdende Mittelschicht, stagnierten oder verschlechterten sich jedoch für untere Schichten, die politischen Befindlichkeiten differenzierten sich und die individuellen Anforderungen unterlagen einem enormen Anpassungsdruck in der Arbeitswelt. Zahlen

Die Bevölkerung in Europa hatte im 19. Jahrhundert wegen einer geringeren Sterberate und gleichbleibender Geburtenraten sehr stark zugenommen und erreichte eine bis dahin unerreicht hohe Zahl. Die Einwohnerzahlen etwa der Schweiz waren zwischen 1870 und 1914 von 2.65 Millionen auf über 4 Millionen gestiegen, jene des Deutschen Reichs von 24,6 Millionen im Jahre 1864 auf 51,4 Millionen 1910; Großbritanniens Bevölkerung wuchs im selben Zeitraum von 23,1 Millionen auf 40,8 – während jene von Frankreich sich lediglich von 37,4 Millionen auf 39,2 erhöhte. Diese Entwicklung ist sogleich als eine Ursache aber auch als Wirkung der industriellen Revolution zu verstehen.

Die Bevölkerungsexplosion hatte zwei Wanderbewegungen zur Folge: Einerseits kehrten Menschen wegen mangelnder Einkunftsmöglichkeiten dem Land den Rücken und zogen in die industrialisierten städtischen Gebiete. Dies führte zu einer Urbanisierung der Gesellschaft – aber auch zu sozialen Spannungen zwischen Reichen und Armen in den Städten und zu gesundheitspolitischen Problemen. Die Industrie-, Finanz- und Handelszentren erlebten einen beispiellosen Zustrom an Menschen. Berlin zählte 1870 eine Million Einwohner, um 1900 bereits drei Millionen; Paris mit seinen Vororten umfasste 1863 zwei, 1885 drei und 1904 vier Millionen Menschen; London im Jahre 1800 eine Million und 1900 6,7 Millionen Menschen und selbst Zürichs Einwohnerzahl verdreifachte sich zwischen 1870 und 1900 auf 150.000 Personen Ref. Andererseits wanderten Europäer, besonders in Zeiten prekärer Ernährungslage, nach Übersee aus; ein Phänomen, das auch in der Schweiz zu beobachten war: Bis 1900 emigrierten schätzungsweise 190 000 Schweizer allein in die USA (bis 1930 kamen nochmals circa 90 000 Personen dazu).

Bedeutende Verschiebungen gab es demzufolge auch zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen: während in Deutschland 1882 noch 42,5 Prozent im Primär-, 35,5 Prozent im Sekundär- und 22 Prozent im Tertiärsektor tätig waren, waren es fünfundzwanzig Jahre später noch 28,6 Prozent in der Landwirtschaft, aber 42,8 Prozent in Industrie und Bergbau und 28,6, Prozent in den Dienstleistungsbreichen, absolut entsprach dies einer Zunahme im Sekundär- und Tertiärsektor von 18,1 Millionen Menschen. In Großbritannien vollzog sich dieser Wandel bereits ab Ende des 18. Jahrhunderts und schon um 1850 sank der Anteil der Landwirtschaft an der gesamten Wirtschaftsleistung auf etwas einen Fünftel, jener der Dienstleistungen stand schon bei fast einem Drittel. Diese Wanderung weg von der Landwirtschaft war häufig mit einer sozialen Desintegration verbunden: Da die Leute den Wohn-, den Arbeitsort und den sozialen Status wechseln mussten, änderte sich auch ihre soziale Umgebung. Dieser einschneidende wirtschaftliche Strukturwandel hatte erhebliche gesellschaftliche Umwälzungen zur Folge. Begleitet wurde er von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die von der Wirtschaft – im Industrie- und Dienstleistungssektor – umgesetzt wurden: bei Maschinen, im Bergbau, in der Gewinnung von Elektrizität, in der Chemie, in der Medizin.

Armut und neuer Reichtum

Zuerst in den ländlichen Regionen, später auch zunehmend in den großstädtischen Ballungsgebieten stellte sich bald die sogenannte »Soziale Frage«. Der Pauperismus, die Sicherung der Existenz der ärmsten Schichten (die mitunter bis hin zu den ehemals mittleren Lohnklassen der Maschinenschlosser, Buchdrucker und Maurergesellen reichte, die für ihren Lebensunterhalt nicht mehr aufkommen konnten) und die Arbeitsverhältnisse in den untersten Lohnklassen wurden für die meist konservativen (häufig konstitutionell-monarchischen) oder liberalen Machthaber zu einem politischen Problem. Die Arbeiterbewegung formierte sich, Gewerkschaften wurden gegründet. Wollte man Unruhen, wie beispielsweise den Aufstand der Pariser Commune in den Jahren 1870/71, vermeiden und den relativen gesellschaftlichen Frieden wahren, waren die Regierungen gezwungen, erste, bescheidene Bemühungen einer Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung einzuleiten, um das ärgste Elend zu lindern.

Auch bei freischaffenden Berufsgruppen änderten sich das Lebensgefühl und die Lebensumstände. »Die räumliche und sozialen Umwälzungen in der modernen Industriegesellschaft und vor allem in den großen Städten weckten seit den 1890er-Jahren – zunächst unter Künstlerinnen, Intellektuellen und Sozialreformerinnen – Beunruhigung und Abwehr.« Ref.

Mit der Verlagerung weg von der Landwirtschaft begann der Aufstieg bürgerlicher Berufe. In Industrie-, Handels-, Versicherungs- und Bankhäusern wurden Ingenieure, Techniker, Unternehmer, Juristen, Ökonomen und Kaufleute gebraucht, Ärzte und Krankenpersonal für die Spitäler wurden ausgebildet, der Verkehr musste sichergestellt werden, die staatlichen Dienste, Schulen und Universitäten wurden ausgebaut (wenn auch um 1900 die Staatsquote in Deutschland bei gerade mal 8 Prozent lag). »Das überproportionale Wachstum der Sektoren Verkehr, Handel und verschiedener anderer Dienstleistungen steht im Zusammenhang mit der wachsenden horizontalen und vertikalen Spezialisierung von Produktion und Konsum und der hiermit verbundenen räumlichen und zeitlichen Verlängerung der Produktions- und Distributionswege.« Ref.

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Diese und die folgenden Zahlen wurden entnommen aus: Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1976

Knut Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen 1800–1914, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1976

Daniel Kurz, Die Disziplinierung der Stadt, Zürich 2008

Virus

Vgl. Daniel Kurz, Die Disziplinierung der Stadt, Zürich 2008

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

Vgl. Daniel Kurz, Die Disziplinierung der Stadt, Zürich 2008