Die Krux mit der Freiheit – und die Rolle der Wissenschaft

Ein Versuch
Ein kurzer Tour d’Horizon zum Begriff der Freiheit – und was diese mit geöffneten Restaurantterrassen zu tun haben könnte.
»Freiheit für alle!«
Die Freiheit der Wahl oder die Qual der Wahl?
Am Cavloc-See: Terrasse geschlossen (Thomas Burla)

Kurzes zur Philosophie

1620 formulierte der englische Philosoph Francis Bacon jenes Zitat, auf das in jüngster Zeit gerne und vermehrt explizit oder implizit verwiesen wird: »Nur der Natur gehorchend, können wir sie beherrschen.« Ref. Mit diesem programmatischen Satz lenkt Bacon den Blick der damaligen Philosophie und Wissenschaft weg von einem metaphysischen Verständnis der äußeren Natur, bei dem es eher um eine Anschauung der göttlichen Ordnung geht, und hin auf die systematische Beobachtung der realen und natürlichen Phänomene selbst. Der Verstand soll die sinnlich wahrnehmbaren Gesetze der Natur begreifen, ohne auf geistige oder mythische Überhöhungen oder auf Aberglauben und Theologie fussende Natur-Erfahrungen Rücksicht nehmen zu müssen. Damit wird die Natur entzaubert und auf rationale, analysierbare Gesetzmässigkeiten zurück-, beziehungsweise zurechtgestutzt. Wenn wir die Gesetze erkennen, können wir uns die Natur besser zunutze machen. Bacon schließt mit diesem Gedanken trotz seiner Theologenkritik an das alttestamentarische Dominium terrae an, das besagt, dass der Mensch die Welt mit ihren Tieren unterwerfen soll (Genesis 1,28). Ähnliches hat zu einer ähnlichen Zeit auch René Descartes gedacht. Er schrieb, der Mensch solle Herrscher über die Natur sein und sie in Besitz nehmen. Ref. 

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno von der Frankfurter Schule haben in den 1940er-Jahren Francis Bacons Ansatz als instrumentelle Vernunft bezeichnet. Sie sei isoliert und technisch-rational ausgerichtet und berücksichtige kaum die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Machtverhältnisse, in die solche systematischen Beobachtungen eingebettet sind. Mehr noch: diese Art der Aufklärung wende sich auch gegen den Menschen selbst, denn: »Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen.« Ref. In der Tat stellte Bacon in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen die Rückkoppelung der empirischen Beobachtung auf ein theoretisches Ganzes oder auf die Gesellschaft nicht in den Vordergrund. Die Einzelbeobachtung steht im Zentrum. Insofern gilt er heutzutage vor allem auch als ein Denker, der sich mit der Wissenschaftsmethodik auseinandersetzte. Und insofern ist er als Vordenker des Empirismus zu sehen.

Bevor jedoch Horkheimer und Adorno ihre Kritik an Bacon formulieren konnten, musste das baconsche Wissenschaftsverständnis die dialektische Mühle durchlaufen. Dabei spielt der im Titel angekündigte Begriff der Freiheit eine zentrale Rolle – und deren Abhängigkeit von einerseits gesellschaftlichen Verhältnissen und anderseits von Naturgesetzen.

Als James Watt Ende des 18. Jahrhunderts den Wirkungsgrad der Dampfmaschine entscheidend verbessert hat, kann das sehr wahrscheinlich auf empirische Experimente und Einzelbeobachtungen des schottischen Erfinders im baconschen Sinne zurückgeführt werden. Wenn wir jedoch die gesellschaftliche Wirkung dieser Erfindung messen, ist diese enorm. Ausgehend vom Kohlebergbau setzte sich die Dampfmaschine bis Ende des 19. Jahrhunderts allgemein in Industrie und Transport als Energiespender durch. Mit dieser Entwicklung sind gewaltige gesellschaftliche Veränderungen verbunden. Die Einzelbeobachtung von James Watt wird unweigerlich gekoppelt an weitreichende ökonomische, politische, soziale und ökologische Umwälzungen. Die Stichwörter heißen: Industrialisierung und Urbanisierung (Die Stadt und die Nerven: Wirtschaft). Überspitzt gesagt, hat ein einzelner Wissenschaftler mit einem isolierten Experiment mit der Dampfmaschine die Geschichte der gesamten Gesellschaft maßgeblich beeinflusst.

Die philosophische Analyse dieser Wechselbeziehung vom Einzelnen auf das Ganze liefern über 200 Jahre nach Bacon die Dialektiker. An den englischen Naturphilosophen anschließend, propagieren sie, dass wir nur in Kenntnis der natürlichen Gesetze vernünftig handeln können. Aber die Dialektiker interessieren sich nicht nur für die Erkenntnis der Natur und für die Naturbeherrschung, wie das in Bacons Auffassung anklingt, sie fügen auch praktische Begriffe wie das Handeln und übergeordnete Begriffe wie etwa die Freiheit in ihre Perspektive ein. Denn wo es um Beherrschung und Unterwerfung geht, muss es gemäß der dialektischen Logik immer auch um das Gegenteil gehen, eben um Freiheit und Handlungsoptionen. Und damit bringt die Dialektik die von Horkheimer/Adorno angemahnte gesellschaftliche Dimension in die Diskussion.

»Die Freiheit (ist) die Einsicht in die Notwendigkeit« Ref., schreibt Friedrich Engels in seiner Schrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, die als eine der wichtigsten Grundlegungen der dialektischen Methode gilt. Engels bezieht sich ausdrücklich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem er attestiert, den Zusammenhang zwischen Freiheit und Notwendigkeit dialektisch sehr treffend analysiert zu haben Bürgerliche Freiheit . Hegel präzisiert jedoch, dass die Notwendigkeit als solche nicht gleichbedeutend mit Freiheit ist, aber sie ist eine Voraussetzung, um Freiheit überhaupt erlangen zu können. Mit Hannah Arendt kommen wir weiter unten auf diesen Aspekt zurück.

Gemäß Engels gewinnen wir Freiheit nicht, indem wir uns frei und unabhängig von den Naturgesetzen wähnen und demzufolge uns völlig losgelöst von allen Fesseln zu bewegen meinen, sondern frei werden wir nur, wenn wir im Wissen und unter Berücksichtigung dieser Gesetze handeln. Begreifen wir diese Notwendigkeit nicht, verkennen wir die Zweckmäßigkeit einer bestimmten, vernünftigen Handlung, es droht Blindheit – und Unfreiheit. Zu den Naturgesetzen gehören – dialektisch folgerichtig – nicht nur jene der äußeren Natur, zu ihnen zählen auch – wie Engels hervorhebt – jene des »körperlichen und geistigen Daseins des Menschen«.

Wenn wir vor einer Entscheidung die Chancen und Risiken unserer Handlungsoptionen und die möglichen Konsequenzen rational bedenken oder, anders gesagt, wenn wir eine Situation erkunden und erkennen und anschließend aufgrund dieser Analyse rational handeln, erlangen wir auch die sogenannte »Freiheit des Willens«. »Freiheit des Willens heißt daher nichts andres, als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können«, sagt Engels. Wir müssen uns nach den Natur- und den anderen Gesetzen richten – man könnte auch sagen: den realen Bedingungen –, dann erst sind wir in der Lage, uns frei zu bewegen, finden wir den Weg zur Emanzipation. Und da, gemäß Engels, der Mensch ein vergesellschaftetes Wesen ist, gilt diese Emanzipation nicht nur hinsichtlich der natürlichen und geistigen, sondern auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Gesetze. Das Gedankengebäude wird also mit einer überindividuellen Perspektive erweitert.

Es ist wie beim Schachspiel. Das Schachbrett ist beschränkt, umfasst acht mal acht Felder, abwechselnd weiß und schwarz, von a1 bis h8. Jede Figur kann gewisse Züge ausführen, die einen diagonal, andere längs, andere quer, wieder andere können hüpfen usw. Innerhalb all dieser Regeln und Bedingungen gibt es aber unzählige Möglichkeiten, wie sich ein Spiel entwickelt. Es gibt Millionen Varianten, die zu einem Schachmatt führen. Und immer ist es ein Spiel von Aktion und Reaktion der Spieler, von gegenseitiger Bezugnahme und Respektierung der Regeln, von psychischen Momenten, immer steht auch der kleinste Bauernzug in einem größeren Zusammenhang und immer wieder öffnen sich neue Wege und neue Aussichten. Ein Schachspieler, eine Schachspielerin erachtet das kaum je als eine Einschränkung der Freiheit, sondern als das Gegenteil.

Auch Slavoj Žižek, ein Marx und Hegel nicht abgeneigter Philosoph, fragt rhetorisch: »Ist eine gewisse Form der Verknechtung, der Entfremdung nicht der einzige Rahmen, in dem wir wirklich in Freiheit leben können?« Ref.  Dass Freiheit mit – pointiert formuliert – Entfremdung und Unterwerfung zu tun hat, mag paradox klingen, ist es aber nicht, wenn wir uns die gegenteilige Sichtweise vor Augen führen. Wenn wir die Gesetze des sozialen, geistigen und des körperlichen Daseins sowie der Natur in unserem Tun nur wenig beachten oder ganz ignorieren, dauert es nicht lange, bis wir an zahlreiche geistige, soziale und natürliche Grenzen und darüber hinaus geraten. Je nach Risikotoleranz wagen wir mehr oder weniger. Tendenziell riskieren wir in Unkenntnis über eine Sache mehr als in deren Kenntnis. Bezüglich der Naturgesetze etwas lapidar gesagt: Wenn wir auf einer Wanderung an einen Abgrund gelangen, ist es vorteilhaft, den Schritt über die Kante nicht zu tun, denn der Aufprall wird hart und schmerzvoll – obwohl es uns vielleicht gerade nach Schweben in der Luft ist und bis zum Abgrund ist ja auch alles gut gegangen. Aber Schwerkraft bleibt Schwerkraft. Vernünftige Menschen sehen davon ab, den Schritt ins Leere zu tun. Freiheit heißt nicht Gesetzlosigkeit, sonst droht ihr Egoismus und Willkür.

Mitunter wissen auch Politikerinnen um solche Gesetze. So sagte Angela Merkel im Bundestag: »Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, … weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten nicht, und das wird auch weiter gelten.« (Aus einer Debatte vom 16. Dezember 2020 im deutschen Bundestag) Das seien die Grundpfeiler der Aufklärung, führte Merkel weiter aus. All das Gewese und Geraune, das um ein Phänomen gemacht wird, wird also – ganz im Sinne von Bacon –idealerweise beiseitegeschoben. Interessant ist aber auch, was Merkel nur verklausuliert gesagt hat: Wie steht es mit den psychischen, sozialen und politischen Gesetzen? Die kann man je nach politischer Macht und ideologischem Gusto biegen oder ganz außer Kraft setzen. Die Erkenntisgewinnung wird in diesen Feldern schwieriger, denn die Fakten scheinen form- und verhandelbarer zu sein. Merkel verschweigt jedoch, dass auch naturwissenschaftliche Forschung in das politische Tauziehen um die Macht hineingezogen werden kann (Zum 6. August 1945 sowie Positivismus-Streit).

Nicht immer – um nicht zu sagen: praktisch nie – ist die Situation so eindeutig und so unpolitisch – so perfekt – wie am Abgrund. Das weiß sicherlich auch die nüchterne Angela Merkel – und das haben umgekehrt auch einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrem Bestreben, ihr fachliches Wissen in Politik und Gesellschaft zu tragen, schmerzlich erfahren. Epidemiologen wie Christian Althaus oder Marcel Salathé etwa mussten sich lange mühen, bis ihre Stimme erhört wurde. Der wissenschaftliche Diskurs spielt sich in anderen Gremien und Foren ab, als der gesellschaftliche und der politische. Dort gelten andere Regeln und andere Gepflogenheiten (Wissenschaft im Dienst der Gesundheit).

Die Situationen sind also mehrheitlich nicht perfekt, die Notwendigkeiten nicht vollumfänglich einsichtig. Diese Unkenntnis des gesamten Sachverhalts kann uns verunsichern, denn wir wissen nicht, welche Entscheidung wir treffen sollen, da wir nicht alle Konsequenzen abschätzen können, nicht über alle Gesetzmäßigkeiten Bescheid wissen, nicht alle Fakten sichtbar vor uns auf dem Tisch liegen haben. Wir können also nicht erkennen, wie ein bestimmtes Phänomen zusammengesetzt ist, welche sachlichen, geistigen und sozialen Aspekte entscheidend sind. Es gibt diese unbekannten Unbekannten, die der Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier anspricht, er nennt eine solche Situation auch radikale Ungewissheit (Zwei ergänzende Ansichten zweier Ökonomen). Unsere Freiheit des Willens wird von radikalen Ungewissheiten tangiert, denn diese schränken unsere Handlungsoptionen ein. Die alles umfassende Logik, nach der die Dinge geschehen und die von uns häufig als Unlogik wahrgenommen wird, durchschauen wir nicht und das empfinden wir als mühsam und störend. Wie erreichen wir gleichwohl die größtmögliche Freiheit?

Wir stellen uns den unverwüstlichen Landschaftsmaler Bob Ross vor, bekannt aus Rundfunk und Fernsehen. Ross will die Farben auf seine Palette geben, um – zum Beispiel – einen Wiesensee zu malen (was eventuell so aussehen könnte). Um die Nuancierungen herauszuarbeiten, gedenkt er, die Farben miteinander zu mischen und sie mit verschiedenen Instrumenten auf die Leinwand zu bringen. Aber jemand hat über Nacht eine radikale Unordnung in sein Farbtuben- und Pinselsortiment gebracht. Er steht vor einer breiten Auswahl von Öltuben, die einen sind leer, andere nicht. Die einen sind angeschrieben, andere nicht. Vielleicht fehlt eine Farbe, die er unbedingt benötigte, er weiß aber nicht welche. Vielleicht sind einige Farben falsch bezeichnet. Zudem stehen nicht alle Pinsel und Spachteln zur Verfügung. Eine unsichtbare Hand schmuggelt im weiteren Verlauf des Malprozesses gelegentlich eine neue Tube, einen neuen Pinsel auf die Palette. Grundsätzlich orientiert sich Ross an den Beschriftungen. Und siehe da, aus der blauen Tube kommt vielleicht tatsächlich blaue Farbe. Glück gehabt. Aber aus der vermeintlich weißen Tube tröpfelt lila heraus. Und aus der mit »schwarz« angeschriebenen Tube kommt gar nichts. »Mist«, denkt er sich. Ein wahres Chaos. Verunsicherung macht sich breit. Er kann sich nicht auf die übliche Gültigkeit der Informationen stützen, zudem tauchen immer wieder Dinge auf, von denen er keine Ahnung hatte. Aber er würde gerne weiter malen. Was tun?

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten:

  1. Die Analyse. Er testet geduldig jede Tube. Die unbrauchbaren legt er beiseite, die falsch angeschriebenen korrigiert er. Bis alles schön geordnet ist und er weiß, mit welchen Farben und Pinseln er arbeiten kann und mit welchen nicht, und wie er sich die fehlenden Nuancierungen möglichst angemessen zusammenmischen kann. Denn er weiß, wie man Farben mischt. Kommt eine neue Tube hinzu, testet er auch sie, aus der unbekannten Unbekannten (bevor er sie sieht) wird zuerst eine bekannte Unbekannte und schließlich nach dem Test eine bekannte Bekannte. Und vielleicht lösen sich mit der Zeit viele Probleme fast von selbst.
  2. Versuch und Irrtum. Ross beginnt frisch und fröhlich ein paar Farben aus den Tuben auf die Palette zu drücken und beginnt unverdrossen zu malen. Bei jedem Griff zu einer neuen Tube steht Ross vor der Frage, was wohl passieren, welche Farbe zum Vorschein kommen möge. Nun kann es geschehen, dass er nicht den gewünschten Effekt erzielen kann. Ein Drama bahnt sich an. Die Farben für den schönen Wiesensee würde er niemals treffen. Vielleicht würde er dann den See grau malen und hinterher sagen, es handle sich halt um einen Wiesensee bei Nacht, oder vielleicht haut er komplett daneben und malt pinkfarbene Bäume und Sträucher. Aber eigentlich kennt Bob Ross die Gesetze und er würde liebend gerne so virtuos mischen, wie er das immer tut. Und er zöge es vor, die Bäume und Sträucher in verschiedenen Grüntönen zu malen. Aber die Unzuverlässigkeit der Bezeichnungen und all die unbekannten Unbekannten machen ihm einen Strich durch die Rechnung.

Dem Bob Ross, der nach der ersten Methode handeln würde, würde es gelingen, eine gewisse Systematik und Regelmäßigkeit auf die Palette und schließlich auf die Leinwand zu bringen. Und wenn er weiß, womit er rechnen kann, entstünde vielleicht auch ein Wiesenseebild, dass seinen Vorstellungen nahekommt. Aber ein paar Fragen würden gleichwohl unbeantwortet bleiben, ein paar Farbtöne träfe er nicht oder nur ungenügend, ein paar Pinselstriche blieben zu dünn oder zu dick.

Verhielte er sich nach der zweiten Methode, würde der Pegelstand der Verzweiflung stetig steigen. Denn er mag es nicht, wenn auf der Leinwand nicht das passiert, was er will. Er ist den Launen und der Willkür der Tuben und Pinsel und der unsichtbaren Hand, die immer wieder neue Dinge auf die Palette zaubert – denn so würde er es empfinden – komplett ausgeliefert. Und er beginnt zu wettern.

Jetzt mag man einwenden, dass in der Kunstgeschichte manche Expressionisten x-welche Farben für den Wald oder den Schnee eingesetzt haben, man denke nur an Kirchners Bild Davos im Winter, und diese Art der Malerei habe die Entwicklung schließlich nachhaltig vorwärtsgebracht. Das ist aber nicht die Absicht von Bob Ross. Bei Kirchner handelt es sich im strengen Sinne um Kunst und im nicht ganz so strengen Sinne um Fiktion. Oder, gemäß Theodor W. Adorno, um die Suche nach dem Nicht-Identischen. Dort gelten andere Gesetze Das Nicht-Identische. Das Pink bei Kirchner ist wissentlich so aufgetragen worden. Je nach dem gehören solche Grenzverletzungen zum Repertoire eines Künstlers. Erst dieses nicht Einordnen-können öffnet das Feld zu neuen ästhetischen Horizonten, Möglichkeiten und Inhalten. Bob Ross hat in der Geschichte dieser Art der Malerei keinerlei Ambitionen und folgerichtig keine einschneidenden Entwicklungen ausgelöst, dieser Aspekt interessierte ihn nicht.

Aber eines ist klar geworden: Das Bild der (idealisierten) Wirklichkeit, dem Ross nahekommen will, erreicht er nur, wenn er sich den Gesetzmäßigkeiten, die ihm die zur Verfügung stehenden Farben und Pinsel bieten, unterwirft. In einem ersten Schritt muss er sich also über diese Regeln und Gesetze informieren, dann aufgrund des Vorhandenden die Möglichkeiten abschätzen. Erst innerhalb dieses Rahmens kann er sich frei entfalten. Wenn er sich nicht schlau macht über die Tuben- und Pinselauswahl, wird er ewiger Sklave der Bedingungen bleiben.

Die Aufklärung, die Angela Merkel wahrscheinlich meint, orientiert sich an dieser Auffassung von Vernunft. Ein rationales Verhalten ist abhängig von der Gegenwart und Wirkungsmacht natürlicher Gesetze und dem Wissen des Menschen darüber. Eben beispielsweise von der Schwerkraft. Es umfasst aber auch das Wissen über menschliche und soziale Funktionszusammenhänge. Und dies schränkt uns ein. Aber was bleibt, wenn wir uns unterordnen, ist die größtmögliche Freiheit.

Kehren wir kurz zum Beispiel des Schachs zurück: Der Bauer kann nun einmal nur ein Feld vorrücken (mit einer Ausnahme) und sich nur dann diagonal bewegen, wenn er eine andere Figur schlägt. Und keine Figur kann innerhalb des Spiels die acht-mal-acht Felder große Spielfläche verlassen – außer sie wird geschlagen. Wäre doch schön, gäbe es noch weitere Varianten, mag man einwenden. Es führte zu Chaos, zu Willkür, zu absoluter Haltlosigkeit und Beliebigkeit. Die theoretische Üppigkeit an Wahlmöglichkeiten darf uns nicht dazu verleiten, dies als Freiheit zu missdeuten. Über reichlich viele Optionen zu verfügen, so verlockend das klingt, heißt nicht zwingend, sich freier bewegen zu können.

Klar können Politiker und Magistratinnen, trotz hoher Inzidenz- und R-Werten und einer hohen Auslastung der Kliniken, die Pandemie für beendet erklären, wie das etwa Nanendra Modi oder Jair Bolsonaro getan haben. Alles wieder öffnen, alle nicht-pharmazeutischen Maßnahmen aufheben. Frei nach dem Motto: Entledigt uns von den Fesseln. Und ja, das sieht nach Freiheit aus. In Hannah Arendts Vortrag Die Freiheit, frei zu sein Ref., dessen Abschrift 2018 zu einem kleinen Bestseller geworden ist, stellt uns einen zweistufigen Freiheitsbegriff vor – und hier schließen wir wieder an Hegel an. Zuerst müssen die Menschen frei von Not, frei von Furcht und frei von Unterdrückung werden. Freiheit wird in einem ersten Schritt zu einem Akt der Befreiung. »Kompliziert wird es dann, wenn es der Revolution um Befreiung und Freiheit geht, und da Befreiung ja tatsächlich eine Bedingung für Freiheit ist, – wenngleich Freiheit keineswegs zwangsläufig das Ergebnis von Befreiung ist –, ist es schwer zu entscheiden, wo der Wunsch nach Befreiung, also frei sein von Unterdrückung, endet und der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen, beginnt.« Die Befreiung haben sowohl die Französische als auch die Amerikanische Revolution geschafft. Dann aber ist in Frankreich einiges schiefgelaufen und die erhoffte politische Freiheit konnte nicht erreicht werden, kehrte sich in ihr Gegenteil. Die Bedingungen in Amerika waren besser, so dass nach der Befreiung tatsächlich die politischen Freiheiten erkämpft werden konnten.

So gesehen ist die Aufhebung der Corona-Maßnahmen ebenfalls ein Akt der Befreiung. Die zweite Stufe ist aber in Indien und Brasilien kläglich verfehlt worden. Die Bedingungen nach der Befreiung waren schlecht. Die Menschen wurden ungeschützt in die Fänge des Virus getrieben, wurden von der Wucht der Pandemie nur noch mehr erdrückt, denn der Erreger konnte sich besser ausbreiten. Das Resultat der Befreiung kippt in ihr Gegenteil und führt in die pure Abhängigkeit vom Virus. Aus lauter Sach-Unkenntnis und (mitunter) willentlicher Ignoranz der natürlichen und gesellschaftlichen Gesetze werden die Menschen geradezu gezwungen, sich schutzlos dem Wirken des Virus zu unterwerfen. Hier hätte die Einsicht in die Notwendigkeit geholfen.

Darüber, wie hoch die Ungewissheitstoleranz oder die Risikotoleranz sein soll, wird heftig gestritten. Und dies bei praktisch null Prozent Fehlertoleranz. Die Auseinandersetzung verläuft in vielen Ländern seit der zweiten Welle entlang politischer Überzeugungen. Die Linke will tendenziell eher weniger Risiko eingehen, verlangt vom Staat rücksichtsvolles, beschützendes Handeln gegenüber den Betroffenen, fordert staatliche finanzielle Unterstützung und propagiert Solidarität. Die Rechte ist risikoaffiner, beruft sich auf Eigenverantwortung und Eigeninitiative und wittert überall, wo der Staat in Zeiten der Pandemie vermehrt dreinredet, »Seuchensozialismus« (dieser Begriff warf NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in die Runde). Insofern nichts Neues unter der Sonne.

Hannah Arendts zweite Stufe der Freiheit wird mit der aktiven Teilnahme am politischen Geschehen erreicht. Hierbei geht es um einen stetigen Aushandlungsprozess zwischen den Menschen; und hierbei übernehmen wir Verantwortung über uns selbst und die Gesellschaft. Insofern ist der Allgemeinsatz, die Freiheit ende dort, wo diejenige des anderen beginne, etwas ungenau. Denn: wenn ich auf dem Gehweg Fahrrad fahre, weil auf der Straße kein Velostreifen eingezeichnet ist, schränke ich zwangsläufig die Freiheit der Fussgängerin ein. Also müsste dort das Fahrradfahren prinzipiell verboten werden (– oder das Autofahren). Der Fokus sollte aber nicht auf die Grenze zwischen der Freiheit des Fahrradfahrers und der Freiheit der Fußgängerin gerichtet sein, sondern auf die ständige Auseinandersetzung zwischen den beiden und das ständige Sich-Beziehen und Rücksicht-Nehmen auf den anderen. Die Grenzen sind beweglich und fließend. Sie beide sind dafür verantwortlich, dass das möglich wird. Der Fahrradfahrer weicht aus, weil er sich von den stärkeren und schnelleren Autos bedroht fühlt. Er selbst wird dann in der Fußgängerzone zum bedrohlichen Stärkeren. Zuweilen ist er sich dessen zu wenig bewusst, so wie es Automobilisten gibt, die sich der Gefahren, die sie für Fahrradfahrer darstellen, auch nicht immer bewusst sind. Um diese schiefe und ungerechte Machtverteilung muss es bei dieser Auseinandersetzung gehen. Hier beginnt der Kampf um die politische Freiheit. So gesehen vollzieht sich Freiheit nur in einem dialektischen Prozess.

Indem wir mit Sachkenntnis verhandeln und entscheiden, emanzipieren wir uns von den Natur- und anderen Gesetzen, und wenn wir die Entscheidungen mit der Mitwirkung am öffentlichen Leben zusammenbringen, werden wir frei. Insofern ist beispielsweise die hitzig diskutierte Öffnung von Restaurantterrassen ein Akt der Befreiung, aber beginnt mit einem Gläschen Weißwein an lauem Lüftchen und Blick auf den Alpenbogen wirklich auch die Freiheit?

 

Noch kurz was zur Wissenschaft

Jetzt stellt sich noch die Frage nach der Sachkenntnis, die uns erlaubt, frei zu werden. Woher kommt sie? Wenden wir uns kurz der Wissenschaft zu. Für sie gilt, so man auf die empirische, also auf Bacon und auf Beobachtung, Befragung und Experiment basierende Forschung zurückgreift, dass sie immer nur so viel weiß, was sich mittels rationaler, systematischer, quantitativer oder qualitativer Methoden widerlegen lässt. (Wir sind uns dabei aber der gesellschaftlichen und politischen Abhängigkeiten wissenschaftlicher Fragestellungen und Setzungen von Forschungsschwerpunkten sehr wohl bewusst.) Das dank Studien erlangte Wissen ist vorübergehend und nur beschränkt haltbar. Das klingt unlogisch und gemahnt an Sokrates’ »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Eigentlich weiß man wirklich nur, was man nicht weiß, denn alle gewonnenen Erkenntnisse sind lediglich (noch-)nicht widerlegte Thesen. Die Wissenschaft tappt sich also Schritt für Schritt vorwärts, formuliert Hypothesen, die sich vorläufig bestätigen. Der methodologische Pate dieses Wissenschaftsverständnisses Karl Popper meint, eine Theorie könne nicht verifiziert werden, sie könne sich aber bewähren. Ref. Zum Beispiel durch eine misslungene Falsifikation oder dadurch, dass mit anderen Methoden die gleichen Ergebnisse herausgekommen sind. Erst wenn eine These falsifiziert wird, beispielsweise mittels neuer Experimente oder begründeter Methodenkritik, wird ihre Aussagekraft eingeschränkt oder gar für nichtig erklärt. Der Erkenntnisprozess verläuft systematisch, geordnet, offen – und nicht willkürlich. Er unterliegt einem ständigen Kommunikationsprozess zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, ist also in einem überindividuellen Kontext angesiedelt. Der Diskurs ist zuweilen heftig, intensiv und erinnert eher an Streit denn an Wohlfühloasen.

Zu Beginn der Pandemie haben noch sehr viele, auch viele Corona-kritisch eingestellte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – darunter auch ein paar Möchtegernexperten – mitgemischt. Um Letztere ist es aber in ernstzunehmenden Kreisen ruhiger geworden, ihre Forschungsbeiträge wurden häufig als ungenügend eingestuft, oftmals wurden das unzureichende Datenmaterial, ungenügend definierte Stichproben, unglücklich gewählte Zeitspannen oder die Methoden bemängelt. Gleichwohl werden sie nach wie vor von Corona-skeptischen Gruppen munter zitiert. Da liegt dieser eigentümliche und schon an anderen Orten viel zitierte Widerspruch: Man fordert lauthals mehr Freiheit und begründet dies mit Erkenntnissen, die bereits widerlegt oder stark korrigiert werden mussten. Man begibt sich also, folgt man der oben beschriebenen Logik, um so mehr in die Abhängigkeit des Virus. Wo der wissenschaftliche Austausch nicht stattfindet oder gewährleistet wird, ist höchste Vorsicht geboten.

Im Normalbetrieb werden also Studien veröffentlicht, Hypothesen formuliert und überprüft, die Kolleginnen und Kollegen analysieren sie und rechnen nach, stimmen zu oder verwerfen sie. Das ist im Kern kein demokratischer Prozess, obwohl es danach aussieht, da meistens sich doch eine Mehrheit durchsetzt. Aber das Kriterium ist nicht die Anzahl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eine Theorie auf Bewährung setzt, sondern die Plausibilität, die Qualität, die Solidität, die Validität und die Wahrhaftigkeit derselben.

So stellt man sich die Normalwissenschaft vor, wie das auch der Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn 1962 in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen beschrieben hat. Kuhns Schrift ist ein Klassiker und sie figuriert bis heute auf den Leselisten wissenschaftstheoretischer Vorlesungen und Seminaren. In diesem Normalbetrieb werden die zur Frage stehenden Rätsel gelöst. Der Rahmen, in dem die Forschung stattfindet, bezeichnet Kuhn als Paradigma. Dieses besteht aus Übereinkünften, Mustern, Tatsachenfestschreibungen, Regeln etc., an denen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler orientieren und worin auch eine Übereinstimmung besteht. Neuerungen ergeben sich, wenn Phänomene oder Fragen auftauchen, die mit den üblichen Instrumenten der Erkennung nicht mehr erfasst, geschweige denn erklärt werden können. So kommt es immer wieder zu wissenschaftlichen Revolutionen. Die Kopernikanische Wende, die klassische Newtonsche Physik oder die Relativitätstheorie sind die bekanntesten Beispiele. In solchen Revolutionen wird die herkömmliche wissenschaftliche Sichtweise auf den Kopf gestellt, eine neue Terminologie muss formuliert werden und das »alte Wissen« wird relativ.

Kuhn nennt solche Brüche Paradigmenwechsel. Dieser Wandel vollzieht sich meist prozesshaft, die neuen Koordinaten müssen erst gefunden, das bisherige Wissen muss neu justiert und die Daten müssen neu eingeordnet und modifiziert werden. Es kommt zu Korrekturen bisheriger Erkenntnisse, zuweilen verschwinden ganze Theorien. Das Schachbrett wird auf zehn-mal-zehn Felder erweitert, es werden neue Figuren eingefügt und getestet, andere werden unter Umständen ersetzt, erhalten eine andere Funktion. Die Sicht auf die Wirklichkeit wird eine andere, Kuhn spricht von einer Wandlung des Weltbildes. Gerade eben, im Frühling 2021, ist bekannt geworden, dass die Teilchenphysik nach 20 Jahren Forschung an einer solchen Schwelle stehen könnte. Ohne das Thema durschauen zu können, geht es offenbar um dies: Das magnetische Moment eines Myons (ein bestimmtes Elementarteilchen) ist vermutlich größer als bisher angenommen. Dank neuer Messverfahren konnte dieser Wert genauer ermittelt werden. Sollte dies der Fall sein, könnten einige physikalische Rätsel, beispielsweise die Frage nach der Dunklen Materie oder der Dunklen Energie, neu untersucht werden. Der hier Schreibende weiß nicht, worum es sich genau handelt, es geht aber ums Prinzip.

Im Wissen um das Sarsvirus gab es gewissermaßen viele kleine Mini-Revolutionen. Zahlreiche Fragen, beispielsweise zur Übertragung des Virus, konnten mit den herkömmlichen Antworten nicht befriedigend gelöst werden, neue Ansätze wurden gesucht und gar alte, bisher vernachlässigte Erklärungen wieder hervorgeholt. Zu Beginn etwa ging man bei Covid vom Influenza-Paradigma aus. Tröpfchen- und Schmierinfektion standen im Vordergrund. Deshalb auch Händewaschen, Niesen und Husten in die Armbeuge sowie Abstandhalten. Aber man stellte fest, dass dies nur unzureichend die Dynamik der Ausbreitung erklären konnte. In der Folge kamen immer häufiger Untersuchungen, die die Aerosole in den Vordergrund rückten. Das Virus hockt sich auf Nanopartikel, die wir ausatmen, und die wir mit blossem Auge nicht wahrnehmen können. Und plötzlich schien vieles klarer zu werden. Das Tragen einer Maske wurde zur unverzichtbaren Maßnahme.

Da ist wieder dieses Denkmuster: Solange wir nicht wissen, wie genau die Übertragung stattfindet – und man weiß es bis heute, Jahresmitte 2021, nicht ganz genau, aber die Aerosole-These hat sich bewährt –, sind wir nicht frei von diesem Virus. Aber würden die zahllosen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht mit Hochdampf an den unbeantworteten Fragen herumstudieren und -experimentieren, tüfteln, neue Erklärungen formulieren, würden wir immer noch wie Deppen im Dunkeln tappen. Wir stünden verloren vor einer Palette von Maßnahmen, erkennten die richtigen Gebote nicht, würden wild drauflos mischen, leere Tuben ausdrücken, unbrauchbare Pinsel benutzen und es käme nichts Gescheites dabei heraus – und einige meinten, sie seien frei. Es ist nicht so, wie manche Politiker monieren, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler uns unsere Freiheit nähmen, es ist gerade umgekehrt, sie setzen alle Hebel in Bewegung, um sie uns zurückzugeben. Die zunehmende Sachkenntnis über das Virus und wie wir es eindämmen, ungefährlicher machen, kontrollieren und bekämpfen, gibt uns Schritt für Schritt die Freiheit zurück. Und zwar im engel-hegelschen Sinne, als Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit und im arendtschen Doppelsinne, die Freiheit, frei zu sein, und mitzuwirken.

 

Ein Hauch absoluter Freiheit

Diese dialektisch verstandene Freiheit, die sich nicht in einem Zustand, sondern letztlich in einem Handeln konkretisiert, kann eine ideale, absolute Freiheit als Zustandsbeschreibung gegenübergestellt werden. Alfred Anderschs autobiographisch unterlegte und nicht ganz Pathos-freie Erzählung Die Kirschen der Freiheit, die er einen »Bericht« nennt, geht diesem Freiheitsverständnis auf die Spur. Der Ich-Erzähler begeht gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei Tarquinia in Italien Fahnenflucht. Der Fahrradsoldat provoziert einen Reifenschaden, den er, während der Rest des Schwadrons weiterradelt, zu flicken vorgibt. Er nutzt die Gunst der Stunde, um die Truppe zu verlassen. Der Deserteur bewegt sich für kurze Zeit zwischen die Fronten, auf der einen Seiten die abziehenden Deutschen, zu denen er nicht zurück will und nicht zurück kann, auf der anderen die herannahenden Alliierten, wo Gefangenschaft droht. Aber noch ist er dazwischen. So nimmt der Deserteur jenen flüchtigen Augenblick, bevor er entscheidet, zu den Alliierten aufzubrechen, als das Inbild der Freiheit wahr. Dieser Moment währt nur kurz: »In jenem winzigen Bruchteil einer Sekunde, welcher der Sekunde der Entscheidung vorausgeht, verwirklicht sich die Möglichkeit der absoluten Freiheit, die der Mensch besitzt. Nicht im Moment der Tat selbst ist der Mensch frei, denn indem er sie vollzieht, stellt er die Spannung wieder her, in deren Strom seine Natur kreist.« Ref. Als er noch in der deutschen Wehrmacht war, war er unfrei, wenn er sich den Alliierten stellt, wird er wieder unfrei. Das Dazwischen, das Nomansland gibt es aber nicht auf Dauer. Insofern ist jede Entscheidung ein Schritt in eine neue Unfreiheit, in eine neue Sklaverei. Der Soldat findet in einer Mulde eines Talhanges einen Kirschbaum. Die rollenden Panzer der Alliierten hört er schon brummen. Er pflückt ein paar reife Früchte: »Ich habe Zeit. Mir gehört die Zeit, solange ich Kirschen esse. Ich taufte meine Kirschen: ciliege diserte, die verlassenen Kirschen, die Deserteurs-Kirschen, die wilden Wüstenkirschen meiner Freiheit. Ich aß ein paar Hände voll. Sie schmeckten frisch und herb.«

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In der marxistischen Logik, wie sie nach Engels entwickelt wurde, wird die Freiheit vorwiegend in Verbindung mit Verknechtung verstanden, ist also gewissermaßen der ins Negative gedrehte bürgerliche Freiheitsbegriff. Denn im Kapitalismus kann es für die Arbeiter und Arbeiterinnen gar keine Freiheit geben. Sie können ihre Arbeitskraft zwar »frei« verkaufen, bleiben dabei aber abhängig von den Gesetzen des Kapitals. Und mehr freie Zeit, die allenfalls erkämpft wird, ist nicht vergleichbar mit Freiheit. Freizeit heißt nicht Freiheit. Allerdings gewinnt die Freiheit verstanden als Prozess der Emanzipation und Befreiung zunehmend an Bedeutung.

Die Integration der Kunst als Ausdruck dieses Nicht-Identischen in den spätkapitalistischen Diskurs ist ein Paradox und muss scheitern, denn würde sie integriert, ist sie nicht mehr nicht-identisch – und wird zum Instrument.

Merkel verschweigt damit auch das Thema, inwiefern Wissenschaft überhaupt werturteilsfrei sein kann, wie dies im Positivismus-Streit in den 1960er-Jahren zwischen Adorno/Horkheimer von der Kritischen Theorie und Popper als Vertreter des Kritischen Rationalismus verhandelt wurde. Im Streit ging es vorwiegend um die Sozialwissenschaften. Sehr verkürzt zusammengefasst sind Erstere der Meinung, dass auch die Wissenschaft eingebunden ist im marktwirtschaftlichen (kapitalistischen) System und deshalb sehr wohl bewusst oder unbewusst Werturteile in der Forschung transportiert beziehungsweise repräsentiert werden; Letzterer glaubt, dass durch die größtmögliche Transparenz der angewendeten (empirischen) Forschungsmethoden verzerrende Effekte gesellschaftlicher Einflüsse minimiert oder gar eliminiert werden können. Erstere bestreiten, dass empirische Methoden überhaupt neutral sein können, da sie selbst schon gewissermaßen ideologisch kontaminiert sind; Letzterer verteidigt die Freiheit und Unabhängigkeit der Forschung gegen Vereinnahmungsversuche der Politik und der Wirtschaft.

Die Zeit, 2. September 2021

Und weitere Zitate: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit, Zürich 1968 (Erstausgabe 1952), S. 84ff

Karl Popper, Logik der Forschung, S. 198ff, Tübingen 1989 (9. Auflage), 1. Auflage 1934

Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, München 2018

Und weitere Zitate: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Berlin 2017, S. 110ff

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M, 1969, S. 10

René Descartes, Discours de la méthode et Essais. Charles Adam und Paul Tannery (Hrsg.), Paris 1902

Virus

Francis Bacon, Aphorismus 3 in Novum Organon, Hamburg 1990

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

Francis Bacon, Aphorismus 3 in Novum Organon, Hamburg 1990