Die Suche nach Patient Null des neuen Virus erweist sich als schwierig. In nicht veröffentlichten Unterlagen der chinesischen Regierung wird der erste Infizierte am 17. November 2019 erwähnt. Epidemiologen schließen nicht aus, dass schon Anfang Oktober 2019 erste Fälle aufgetreten sind. Die erste ernsthafte Lungenerkrankung, die, so vermutet man, auf den neuen Erreger zurückzuführen ist, wird am 1. Dezember in der Stadt Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei protokolliert. Ursprünglich wird die Ursache der Krankheit als »unbekannt« taxiert.
Am 24. Dezember werden Gewebeproben eines 65-jährigen Lieferboten des Huanan Seafood Market, der am 18. Dezember mit Lungenproblemen hospitalisiert wurde, an das Labor Vision Medicals gesendet. Dort entdeckt man, dass das noch unbekannte Virus zu 87 Prozent mit dem bisher bekannten SARS-Virus übereinstimmt. Die Entdeckung bleibt unter Verschluss. Die Leiterin der Lungenabteilung des Spitals, Zhao Su, wird am 27. Dezember per Telefon vom Labor darüber informiert, dass es sich beim Erreger um ein neues Coronavirus handelt. Später wird Vision Medicals sagen, es habe keinen offiziellen Bericht gegeben, da noch weitere Abklärungen hätten getroffen werden müssen. Die chinesische Akademie für medizinische Wissenschaft wurde über das Ergebnis informiert. Gleichentags werden die Stadtregierung von Wuhan und das Zentrum für Seuchenbekämpfung (CDC) von zwei Ärzten zweier Krankenhäuser darüber unterrichtet, dass sie Patienten mit sehr kritischen Lungenentzündungen behandeln.
Die Leiterin der Notfallstation des Wuhan Central Hospitals Ai Fen spricht ebenfalls von solchen Fällen. Sie sagt, dass am 16. Dezember ein Patient, der im Huanan Seafood Market arbeitet, mit Lungenproblemen in ihrer Abteilung aufgenommen worden sei. Am 22. Dezember wird er in die Lungenstation transferiert. Die Symptome und erste, nicht laborgestützte Diagnosen (aufgrund einer Bronchoskopie) deuten auf eine SARS-ähnliche Krankheit hin. Ai Fens Kollege von der Lungenstation teilt ihr mündlich mit, dass es sich um ein Coronavirus handeln könnte. Ein 41-jähriger Mann ohne Verbindung zum Huanan Seafood Market wird mit schweren Lungenproblemen in die Notfallstation geliefert. Ai Fen schickt Gewebeproben ins CapitalBio Medlab in Peking.
Bis zum 30. Dezember senden verschiedene Ärzte aus Wuhan mindestens acht Gewebeproben von anderen Patienten an unterschiedliche Labore in und um Wuhan, unter anderem auch an einen Ableger des BGI (vormals Beijing Genomics Institute), einem der Schwergewichte der genetischen Forschungsindustrie. BGI bestätigt, am 29. Dezember eine Sequenzierung eines Virus vorgenommen zu haben, die eine Übereinstimmung von 80 Prozent mit SARS ergab. Alle Resultate weisen auf einen gefährlichen, SARS-ähnlichen Virus hin.
Am 30. Dezember erhält ein Kollege von Ai Fen der Lungenstation den Diagnose-Bericht des CapitalBio Medlab. Er legt ihn Ai Fen vor. Der Rapport besagt, dass SARS der vermutliche Auslöser der Lungenkrankheit sei. Eigentlich handelt es sich aber um einen Fehler: denn genau genommen wurde der Patient falsch positiv auf SARS getestet, dabei war er positiv auf SARS-CoV-2. Aber das Testverfahren für SARS-CoV-2 gab es ja noch gar nicht. Zudem steht im Bericht: »Der Hauptübertragungsweg des Virus ist die Tröpfchenübertragung aus nächster Nähe oder der Kontakt mit Atemwegssekreten von Patienten, was eine ungewöhnliche Lungenentzündung verursachen kann, die hoch ansteckend ist und mehrere Organsysteme befallen kann«, schreibt Ai Fen in ihrer Erinnerung An unprecedented reprimand. Der Direktor der Abteilung für Atemwegserkrankungen, der zufällig an Ai Fens Büro vorbeikommt, bestätigt der Ärztin, dass dies eine äußerst beunruhigende Diagnose sei. Ai Fen orientiert die Spitalleitung. Sie umkreist das Wort SARS im Bericht mit roter Farbe, fotografiert ihn und schickt ihn an ihren Vorgesetzten und an Berufskollegen weiter. Zudem sendet sie eine Gewebeprobe des Patienten in das Wuhan Institute of Virology (WIV).
Am gleichen Tag berichten auf sozialen Netzwerken (eine WeChat-Gruppe) mehrere Ärzte, darunter der Augenarzt vom Wuhan Central Hospital Li Wenliang, von Fällen, die mit SARS in Verbindung sein könnten, sie stützen sich vorwiegend auf Ai Fens Bericht. Die Ärzte werden von der Polizei verhört und müssen ein Schweigegelübde abgeben sowie ihre Aussagen zurückziehen. Ai Fen lieferte den »whistle«, den Li Wenliang »geblowt« hatte. Li Wenliang stirbt am 6. Februar 2020 an Covid-19. Li Wenliang gilt als einer der ersten, der über die neue Krankheit informiert und versucht hatte, die Vertuschung chinesischer Behörden aufzudecken. Gleichzeitig berichtet ein Labormitarbeiter, der Untersuchungen von Proben von Lungenerkrankten durchgeführt hat, von der Gesundheitskommission der Provinz Hubei aufgefordert worden zu sein, weitere Tests zu unterlassen und die Proben zu vernichten. Gleichwohl beginnen die Gesundheitsbehörden in Wuhan ebenfalls am 30. Dezember, in der Region nach vergleichbaren Fällen zu suchen.
Die Virologin und SARS-Spezialistin Shi Zhengli (Herkunft des Virus) vom Wuhan Institute of Virology (WIV) erhält am 30. Dezember um 19 Uhr einen Anruf ihres Direktors. Sie solle die Proben, die das WIV von Ai Fen zugeschickt bekommen hat, überprüfen. Shi, die an einer Sitzung in Shanghai weilt, macht sich sofort auf den Weg zurück in ihr Institut.
Am 31. Dezember berichten chinesische Behörden zum ersten Mal von einer neuen, mysteriösen Lungenkrankheit, 27 Fälle seien in Wuhan registriert worden. Ein Team des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und -prävention reist in die Provinzhauptstadt Hubeis, die WHO wird über die Vorgänge unterrichtet.
Am gleichen Tag teilen taiwanesische Forscher der WHO mit, dass eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung sehr wahrscheinlich ist, es wird vermutet, dass sie die Informationen von Ai Fen beziehungsweise Li Wenliang zugespielt bekommen haben. Die WHO reagiert nicht.
Am Abend des 31. Dezembers ist Ai Fen (Wo ist Ai Fen?) zudem aufgefordert worden, am Morgen des 1. Januar vor der Disziplinarkommission der Klinik zu erscheinen. In dieser Anhörung wird ihr gesagt, sie gefährde die Stabilität in Wuhan und müsse fortan schweigen, da sie Unwahrheiten verbreite, sie erhält einen Verweis.
Am 1. Januar schließen die chinesischen Behörden den Huanan Seafood Market.
Am 3. Januar sagt die chinesische Gesundheitsbehörde, es dürften fortan keine unautorisierten Informationen über das neue Virus in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Alle Labore wurden dazu aufgefordert, sämtliche Proben umgehend an designierte Institutionen zu übergeben oder zu vernichten. Am gleichen Tag erhält Professor Zhang Youngzhen der Fudan Universität in Shanghai Proben vom Wuhan Central Hospital zugeschickt. Bis am 5. Januar hatte er das Virus sequenziert und als SARS-ähnlich identifiziert. Er warnt verschiedene chinesische Stellen vor dem neuen Virus. Das Chinesische CDC spricht am 6. Januar eine Warnung aus.
Am 5. Januar meldet ebenfalls die WHO eine »Pneumonia of unknown cause« in China.
Bis am 7. Januar hat Shi Zhengli im WIV die Proben untersucht und ist zur Überzeugung gekommen, dass die ihr zugesandten Virenproben die Erkrankung in der Notfallstation von Ai Fen ausgelöst haben, somit ist der Erreger identifiziert. Shi gleicht alle Virenstämme im Archiv des Labors ab, um herauszufinden, ob es Übereinstimmungen gibt. Das ist nicht der Fall. Am nächsten kommt ein SARS-assoziiertes Virus, das sie 2013 in Fledermaus-Proben aus Tongguan (Provinz Yunnan) isolieren konnte (das sie später RaTG13 nennen sollte). Das Genom von SARS-CoV deckt sich nur zu 79% mit dem neuen Virus. Sie schließt daraus, dass es eine neue Art des Coronavirus sein muss.
Am 9. Januar vermeldet das chinesische Staatsfernsehen mit zwei Tagen Verzögerung, dass Untersuchungen gezeigt hätten, dass es sich beim Virus nicht um das bisher bekannte SARS-Virus, sondern um eine neuartige Variante aus der Corona-Familie handelt. Gleichentags stirbt der erste Mensch am neuen Coronavirus.
Professor Zhangs Team publiziert am 11. Januar die Genomsequenz des neuen Virus auf Virological.org und GenBank, der Fingerabdruck des neuen Erregers ist bekannt.
Der erste diagnostische Test für das Virus wird am 16. Januar vom Virologen Christian Drosten von der Charité in Berlin vorgestellt.
Ab dem 20. Januar werden erste positive Befunde außerhalb von China von der WHO gemeldet: aus Thailand, Südkorea und Japan. Offiziell sind am gleichen Datum gemäß der gleichen Quelle insgesamt über 282 Menschen mit dem neuen Virus infiziert.
Eine erste Studie von Neil Ferguson vom Imperial College in London besagt anhand von mathematischen Modellierungen, dass es zu diesem Zeitpunkt in Wuhan bereits 4000 Fälle gegeben haben könnte (Vgl. auch Wuhan-Files).
Der erste Fall in den USA wird für den 21. Januar vermerkt. US-Präsident Trump sagt: »We have it totally under control. It’s one person from China, and we have it under control.«
Der WHO-Epidemiologe Michael Ryan sagt, dass eine Mensch-zu-Mensch-Ansteckung nachgewiesen werden konnte (was die taiwanesischen Forscher schon drei Wochen vorher gemeldet hatten).
Am 23. Januar entscheidet die chinesische Regierung, Wuhan abzuriegeln und eine Ausgangssperre zu verhängen, der sogenannte »Wuhan lockdown« wird Tatsache.
Die WHO berät, ob ein internationaler Gesundheitsnotstand ausgerufen werden soll.
Nur einen Tag später werden zum ersten Mal Coronainfizierungen in Europa diagnostiziert, und zwar in Paris und Bordeaux. Nur wenige Tage später folgen weitere Ansteckungen in Europa, zum Beispiel in Deutschland (27. Januar), in Finnland (29. Januar) und in Italien (30. Januar).
Die WHO stuft am 29. Januar die Ausbreitung des Virus als problematisch ein und spricht von einer »gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite«. Es gibt unterdessen bereits fast 10’000 Positiv-Getestete, die Zahlen steigen auch außerhalb von China schnell an.
Am 30. Januar zählt die USA sechs Fälle und US-Präsident Trump sagt: »We think we have it very well under control.«
Am 31. Januar verfügt die USA einen Einreisestopp für Ausländer, die sich in den letzten zwei Wochen in China aufgehalten haben und direkt aus dem Land herreisen wollen. Dies betrifft also nicht Leute, die etwa aus Hong Kong einreisen. Anthony Fauci vom Nationalen Institut für Allergien und Infektionskrankheiten (NIAID) und Berater von Trump sagt: »Es ist leicht übertragbar, und mit ziemlicher Sicherheit wird es eine Pandemie werden. Aber wird sie katastrophal sein? Das weiß ich nicht.«
Das Virus breitet sich in der Folge weiter aus. Die WHO bezeichnet am 11. Februar die durch das neue Virus verursachte Krankheit als Covid-19 und schlägt vor, das Virus SARS-CoV-2 zu nennen.
Am 17. Februar sagt Michael Ryan von der WHO: »Alle Vorhersagen sind wichtig. Die meisten Vorhersagen sind falsch. Und ich denke, wir müssen damit vorsichtig sein.«
Aus dem Iran werden am 20. Februar die ersten beiden Todesopfer aufgrund des Coronavirus vermerkt, die ersten Ansteckungen wurden nur gerade einen Tag vorher gemeldet. Anhand von Mortalitätsberechnungen mussten zu diesem Zeitpunkt schon etwa 200 Menschen SARS-positiv gewesen sein – und niemand hat davon gewusst. Das heißt, dass schon etwa drei bis vier Wochen vorher der Erreger ins Land geschleppt worden war.
Ein 78-jähriger Italiener überlebt als erster Europäer die Krankheit nicht, er stirbt am 22. Februar. Zu diesem Zeitpunkt sind gerade einmal neun Fälle in Italien registriert. Das Virus musste also auch in Europa vor einiger Zeit angekommen sein. Es ist zu vermuten, dass viele Patienten, die sich im Laufe des Januars oder Februars mit Grippesymptomen bei Ärzten gemeldet haben und nach Hause geschickt wurden, um die Krankheit auszukurieren, das Coronavirus in sich trugen.
Am 23. Februar und mit 35 Ansteckungen sagt US-Präsident Trump: »We have it very much under control in this country.«
Ab dem 24. Februar werden in Italien einschneidende Maßnahmen gegen eine weitere Ausbreitung des Virus ergriffen. Elf Gemeinden in der Lombardei werden unter Quarantäne gestellt, die Wirtschaft und das öffentliche Leben werden stillgelegt. Andere Länder folgen früher oder später und mit weniger oder mehr Drastik.
Einige Regierungen, wie beispielsweise jene des Vereinigten Königreichs und Schwedens, überlegen sich, ob sie – statt einer Eindämmungsstrategie, die bewirken soll, dass die Ansteckungen über einen längeren Zeitraum erfolgen und damit die Kapazitäten im Gesundheitswesen sichern – die Strategie der sogenannten Herdenimmunität verfolgen sollen, die über einen kürzeren Zeitraum höhere Fallzahlen zur Folge hätte, dafür würden auch schneller mehr Leute, die positiv getestet worden sind – und überleben –, immun, wenn sie denn wirklich immun sind. Diese Leute könnten nach der Genesung wieder arbeiten (Chronische Erschöpfung). Einige Staaten im ostasiatischen Raum verfolgen eine Suppressionsstrategie, die die Ausbreitung unterdrücken soll (Blick in den Osten).
Ob dieser verlockenden theoretischen Erwägungen, denen aber viele Unsicherheiten und Unbekannte (Rumsfeld) innewohnen, kommen mehrere Regierungen ins Lavieren oder setzen widersprüchliche Zeichen. Und manche Regierungen verschließen die Augen vor den Realitäten und spielen die Gefahren wissentlich oder unwissentlich herunter.
Am 27. Februar sagt US-Präsident Trump: »It’s going to disappear. One day – it’s like a miracle – it will disappear.«
(Quellen: NZZ, SRF, TA, FAZ, SZ, FT, CNN, The Straits Times)