Im März 2020 traten die Bundespräsidentin, eine Bundesrätin und ein Bundesrat vor die Medien, um eine markante Verschärfung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus zu verkünden.
Kurz zur Erinnerung: In Norditalien geriet die Lage außer Kontrolle. Einzelne Gemeinden wurden abgesperrt. Die Kenntnisse über das Virus waren noch nicht sehr gut. Erste Untersuchungen zur Gefährlichkeit des Wildtyps waren besorgniserregend. Über die Art und Weise, wie das Virus sich ausbreitet, war noch wenig bekannt. Das Thema Aerosole wurde nur am Rande erwähnt. Es gab weder eine Impfung, noch wusste man, mit welchen Medikamenten ein schwerer Verlauf der Krankheit abgeschwächt werden kann. Kurz und gut: Viele unbekannte Bekannte und unbekannte Unbekannte.
Bundesrat Berset sagte an der damaligen Medienkonferenz drei bemerkenswerte Sätze:
Auf die Frage, ob man etwas früher hätte handeln können, antwortete er, es sei nicht einfach, den richtigen Zeitpunkt zu finden, die Maßnahmen müssen wirksam sein und akzeptiert werden: »Ich muss Ihnen sagen: Zu früh! Ich würde fragen: Was macht der Bundesrat da? Spinnt er oder was? (tippt sich mit dem Finger an die Stirn) Und zu spät ist zu spät… Ich glaube, wir sind nicht so weit vom Moment, wo es richtig ist.«
»Was würde man uns sagen, wenn (wir sagten, dass) wir jetzt nur warten müssten, weil man sagt, man wisse nicht genau, wie es jetzt weitergeht.«
»Es ist keine Option, zu sagen, wir machen nichts und wir schauen, was passiert, und am Ende werden wir schauen, wo wir sind. Das können wir nicht verantworten.«
Für diese Statements erhielt er viel Zustimmung.
21 Monate später ist offenbar Ernüchterung eingetreten. Zwar gibt es eine Impfung, die wirkt, Medikamente, die nützen, und über die Gefährlichkeit und die Art der Ausbreitung der dominierenden Deltavariante liegen hilfreiche Erkenntnisse vor. Aber nach wie vor gibt es einige Unbekannten.
Kurz zur Lage Ende November 2021: Die Ansteckungszahlen verdoppeln sich alle zwei Wochen. Das heißt, es findet ein exponentielles Wachstum statt (laut BAG: 8727 Fälle in Kalenderwoche 42; 24’993 in Kalenderwoche 45, mit entsprechend steigenden Hospitalisationszahlen, Einweisungen in Intensivstationen und Anzahl Todesopfern). Unsere Nachbarländer Österreich und Deutschland sehen sich mit sich füllenden Intensivstation konfrontiert (Christian Drosten rechnet bei Delta mit einer Quote von 0,6% Infizierter, die in die Intensivstation müssen; für die Schweiz wären das alleine für die Woche 42 also 150 Patienten, Tendenz steigend). In gewissen Bundesländern (Salzburg und Oberösterreich) werden Triage-Entscheidungen in Erwägung gezogen, aus Bayern werden Intensivpatienten nach Italien und in die nördlichen Bundesländer transferiert. Die in den Medien jeweils dunkelrot eingefärbten Regionen, die hohe Inzidenzen anzeigen, nähern sich von Osten her der Schweiz.
Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut sagte am 18. November 2021 zur Situation in Deutschland, ohne Gegenmaßnahmen gäbe es »schlimme Weihnachten« und sie befänden sich in einer Notlage. Der österreichische Virologe Florian Krammer von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai (NY) bemerkt bezugnehmend auf die Situation in Österreich, Deutschland und der Schweiz: »Die Schweiz und auch Deutschland haben aber einen Vorteil: In Österreich sind die Zahlen früher angestiegen. In der Schweiz sieht man jetzt, was im Nachbarland passiert. Vielleicht erschreckt man sich und setzt früher auf Maßnahmen. Wenn die Politik schnell handelt, kann man das vielleicht noch abfedern. Aber wenn die Welle schon da ist, ist es zu spät.« (NZZaS, 21.11.2021). Die Task-Force-Chefin Tanja Stadler sagt am Point de Presse vom 23. November, die Schweiz sei bezüglich Inzidenz dort, wo Österreich vor drei Wochen stand, bezüglich Hospitalisation sei sie fünf Wochen hinterher. Rechne! Geht die Entwicklung im gleichen Tempo weiter, könnte es tatsächlich eine prekäre Festtagsbescherung geben. Es ist klar, Deutschland, Österreich und die Schweiz sind nicht ein zu eins vergleichbar.
Gleichwohl.
Was sagt Alain Berset am 18. November 2021? In einem merkwürdigen Auftritt, in dem er ungeduldig, gereizt und schon fast düster wirkte, spricht er nicht mehr von es sei »keine Option, zu sagen, wir machen nichts und wir schauen, was passiert, und am Ende werden wir schauen, wo wir sind. Das können wir nicht verantworten.« Sondern er antwortet auf die Frage, welche Maßnahmen geplant seien: »Das müssen wir sehen, wenn die Probleme da sind.« Das ist das Gegenteil vom oben Gesagten.
Das Problem ist, . Das sieht Berset anders. Bei der meistbetroffenen Altersgruppe, die der Jungen, wirke das Virus nicht so verheerend, die Krankheit nehme einen milden Verlauf. Das stimmt, aber er verliert kein Wort zu Long Covid. Darunter können auch mild Erkrankte leiden. Und er verliert kein Wort darüber, dass die Belegung der Intensivstationen durch Covid-Patienten das Bild der Infektionen vor etwa zwei Wochen widerspiegelt. Er sagt: »Wir haben eine gewisse Skepsis gegenüber Verschärfungen.« Krammer dagegen findet: »Das Schlechteste, was man in einer Pandemie tun kann, ist abwarten.«
Bundesrat Berset scheint resigniert zu haben. Manchmal etwas mehr von Samuel Becketts wohl berühmtesten (und zugegebenermaßen auch häufig zitierten) Diktum wäre wünschenswert: »Alles seit je. / Nie was anderes. / Immer versucht. / Immer gescheitert. / Einerlei. / Wieder versuchen. / Wieder scheitern. / Besser scheitern.«