Ausgangslage
Als Autor der St. Moritzer Metamorphosen, ein Buch über das Leben von Peter Robert Berry, der als Arzt und Maler von 1864 bis 1942 gelebt hat, werde ich häufig gefragt, inwiefern diese Lebensgeschichte heute noch relevant sein soll, da es sich doch bei Berry um einen wenig bekannten Künstler handle.
Üblicherweise wecken historische Themen besonders dann das Interesse eines breiteren Publikums, wenn sie einen Bogen zur Gegenwart schlagen können. In der Analyse des Blicks zurück wollen wir vielleicht auch etwas über den Blick nach vorn erfahren. Exemplarisch hat dies jüngst Volker Ullrich in seiner Studie zur Weimarer Republik vorgeführt. Im Scheitern der demokratischen Bemühungen in den Zwischenkriegsjahre sieht Ullrich ein «Lehrstück», wie und warum diese Staatsform hochgradig gefährdet ist. Das ist aktuell, denn die jetzige «globale Fragilität der Demokratie» erinnert Ullrich an die Weimarer Republik. Er rückt die politische Geschichte und das Handeln historischer Figuren wie etwa Heinrich Brüning, Franz von Papen und Adolf Hitler ins Zentrum, die den Gang der Geschehnisse entscheidend beeinflussten.
In den Metamorphosen steht nicht das demokratische Weltwohl auf dem Spiel, sondern, anhand einer Biografie, die Mentalitätsgeschichte. Problemlagen werden beleuchtet, die die mentale Robustheit der Menschen periodisch herausfordern – bis heute. Am Wirken des St. Moritzer Kurarztes können beispielhaft zwei Themen beschrieben werden, welche das fiebrige Grundrauschen jener Epoche hörbar werden lassen. Erstens mass Peter Berry als Kurarzt den Puls seiner Patienten und so quasi den Puls seiner Zeit, die mitunter das nervöse Zeitalter genannt wird. Überreizung und Erschöpfung diagnostizierte der Kurazt. Der Neurologe George Miller Beard sprach von der amerikanischen Krankheit oder Neurasthenie. Sie weist Ähnlichkeiten mit dem Burnout unserer Zeit auf.
Und zweitens flüchtete Berry aus Überdruss an Zivilisation in die Natur und die Kunst. Er war ein vehementer Kritiker des Baus des Albulatunnels 1903, der den Touristen das Tor ins Engadin öffnete. Er bangte um die Landschaft und befürchtete eine Zerstörung der Natur durch die ins Hochtal strömenden Touristen.
Beide Themen werfen Fragen auf, die in gewandelten Formen wiederkehren. Hier der Versuch einer Beweisführung von Berrys Aktualität.
Globalisierungen
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts, so der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann, setzte die moderne Globalisierung ein, die bis etwa 1980 dauerte. Der Ausbau der Verkehrswege dank der Eisenbahn und der Schifffahrt, moderne Maschinen in Fabriken, Elektrizität und die Telegrafie haben diese Phase eingeläutet. Mobilität, industrielle Arbeitsprozesse und Informationsfluss sind markant beschleunigt worden und das globale Zusammenrücken hat sich intensiviert. Die jetzige Phase bezeichnet Straumann als Hyperglobalisierung. Heute sind es die Robotik, die Künstliche Intelligenz, die Digitalisierung und das Internet, die vergleichbare Umwälzungen in Gang gesetzt haben.
Zur Gemütslage um 1900
Vor gut 140 Jahren breitete sich aufgrund der Folgen dieser Innovationen bei vielen Menschen das Gefühl einer umfassenden gesellschaftlichen Beschleunigung aus. Die Arbeitsteilung schritt zügig voran, die Bedeutung der anonymen Geldwirtschaft nahm zu, jene der Naturalbelohnung und des Warentausches ab. In den Metropolen entstand eine bürgerliche Schicht, die sich ihr Auskommen im sich ausdehnenden Tertiärsektor verdiente. Sie konnte sich auch etwas leisten: Zerstreuung, Kultur, Luxus, Mode, Reisen. Georg Simmel schrieb in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, der heute noch als Grundlagentext über die Eigenarten urbaner Entwicklungen gilt, zum Charakterwechsel menschlicher Tauschbeziehungen: «Das Entscheidende ist, dass das Stadtleben den Kampf mit der Natur in einen Kampf um die Menschen verwandelt hat, dass der umkämpfte Gewinn hier nicht von der Natur, sondern vom Menschen gewährt wird.» Damit diese Versachlichung die Seele nicht zu arg strapazierte, baute man sich einen Schutzschild, schottete sich ab. Gleichwohl wollte man immer mehr, und das immer schneller. Diese Objektivierung und Beschleunigung belasteten die Nerven. Wurde diese Last zu hoch, führte dies zu Neurasthenie.
Neurasthenie
Ende des 19. Jahrhunderts erschienen vom Beard zwei Untersuchungen zur Neurasthenie. Er begriff die Krankheit als zivilisationsbedingt: «Der erste und wesentlichste Grund der Nervosität liegt in der modernen Civilisation». Betroffen waren häufig Menschen in gehobenen Positionen der Privatwirtschaft, aus Universitäten und aus Staatsdiensten. 75 Symptome listete der Neurologe auf: Unter anderem Geistesschwäche, «Anthropophobia», also Furcht vor den Menschen, «Phobophobia», also Furcht vor der Furcht, Gefühl tiefster Erschöpfung, Inkontinenz, Impotenz, «Irritabilität des prostatischen Theiles und Frauenkrankheiten». Diese Symptomvielfalt erschwerte den genauen Befund, einige Mediziner waren überfordert, andere stuften die Leiden gar nicht als Krankheit ein. Beard schrieb: «Daher ist es gekommen, dass Enthmutigung und Abneigung und ein Geist von Scepticismus […] bei den Ärzten Platz griff und sie verleitete, das Vorhandensein solcher Symptome überhaupt zu leugnen. Neurasthania ist in der That das medicinische Central-Afrika – ein unerforschtes Land, das nur wenige betreten und dessen Schilderungen weder Glauben noch Verständniss gefunden haben.» Menschliche Funktionen waren beeinträchtigt, was viele Ärzte verunsicherte. Beard: «Das Reich der Neurasthenie war den Blicken Tausender begegnet, seine Umrisse waren oft geschaut und sein Gebiet gestreift worden – aber es blieb ein mysteriöses Land. Was enthielt es? Welches waren seine Grenzen? Welches Verhältniss bestand zwischen ihm und den benachbarten Reichen der Hypochondrie, der Hysterie, der Geistesstörung?» Der Verbrauch der Nervensubstanz liege über der Zufuhr neuer Kräfte.
Schwierig gestaltete sich die Suche nach der geeigneten Therapie. Beard schlug gewisse Mittel vor, wie etwa Koffein, Alkohol, Opium, Lebertran, Cannabis. Und dann auch eine Art Bewegungstherapie. Er riet zu Reisen nach Europa. «Die Bergluft ist von besonders günstigem Einfluss auf Nervenschwache. Auf den Höhen ist die Luft dünner und freier von reizenden Bestandtheilen.»
Das Oberengadin richtete ab den 1880er Jahren sein Angebot auf die neue Krankheit aus. Gesundes Essen, Verzicht auf Alkohol, tägliche Bewegung und Ruhe sollten die Nerven stärken. Berrys Vater, ebenfalls Kurarzt, liess ein Netz von Wanderwegen und Promenaden mit genau berechneten und dosierten Distanzen und Steigungen rund um den St. Moritzer-See anlegen – ein Schritt- und Treppenstufenzähler avant la lettre. Die Patientinnen und Patienten absolvierten im Gelände ihre verordneten Spaziergänge. Man nannte dies Terrainkur. Kurarzt Berry schrieb: «Da klagt dem Arzte der deutsche Gelehrte und Geschäftsmann über Nervenschwäche infolge beruflicher Überanstrengung, der französische Salonheld, der Railway-erschöpfte und Börsen-müde Engländer, der abgeschaffte amerikanische Businessman, jeder bedarf einer nervenstärkenden energischen St. Moritzer Kur idyllischer Ruhe und Erholung in reiner Alpenluft. Gesellschafts-müde Damen, abgetanzte bleiche Töchter verspüren leidige Nerven und bedürfen des Eisenbrunnens. Ein Neurastheniker ist ein Kranker, wie jeder andere pathologische Repräsentant auch.» Berry und seine Kollegen praktizierten im Prinzip nach einem naturheilerischen Modell, ohne sich als Naturheiler zu verstehen. Die klassische Medizin hatte gegen die Neurasthenie schlichtweg keine Antwort.
Heute wird nicht mehr Neurasthenie diagnostiziert, sondern Burnout, Fatigue oder ein Erschöpfungssyndrom. Und Simmels Diagnose wird noch einen Zacken zugefügt: Die Tauschbeziehung beim Warenerwerb ist immer weniger eine menschliche, sondern eine algorithmische. Das Versachlichungsrad dreht sich weiter – und die Nerven werden weiterin überstrapaziert. Und noch immer gibt es kein Allerheilsmittel dagegen.
Schrittzähler
Die angewandte Therapie wird durch die Wissenschaft erhärtet. Berühmt ist die Untersuchung von Jeremy Morris 1952. Er fragte, inwiefern bei den Londoner Verkehrsbetrieben sich die Anzahl von Herzkrankheiten zwischen Busfahrern und Kondukteuren unterschieden. Angenommen wurde, dass die körperlich aktivere Betätigung der Kondukteure besser für das Wohlbefinden sein würde. Und siehe da, Kondukteure wiesen tatsächlich eine geringere Rate koronarer Herzkrankheiten auf. Die Studie wird stets zitiert, wenn es darum geht, die Vorteile regelmässiger Bewegung zu preisen. Noch im Jahr 2023 erschien ein Artikel im The Economist mit dem Titel Wie Londoner Busfahrer die Welt veränderten. Das Magazin schreibt: «Die Studie über die Londoner Verkehrsarbeiter veränderte die Epidemiologie, die Medizin und die Art, wie wir heute leben.»
Und noch heute gehört die kontrollierte Bewegung in der Natur zum Katalog bei Burnout-Behandlungen. Und nicht zuletzt Aktivurlaub, Wanderferien, Wellness sowie die lifestyle sciences sind aus den damaligen ersten Erkenntnissen der Terrainkuren und aus Norris Präzisierungen hervorgegangen.
Gefährdete Natur
Die zweite Parallele der damaligen Epoche mit heute betrifft die wachsende Sorge um die Natur. Eine Reformbewegung fasste in den Nuller-Jahren des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas Fuss. Das Credo lautete: an der Zivilisation erkranken wir, an und in der Natur genesen wir. Bewahren wir die äussere Natur so schützen wir die innere. Denn genesen können wir gemäss Berry nur an einer intakten Umgebung. Er setzte sich – vergeblich – für einen Landschaftspark bei St. Moritz ein, und zwar just dort, wo heute die grössten Villen stehen. Sein Kampf gegen die Möblierung der Bergwelt und gegen die Gewinnsucht war erfolglos. Das Gebaren der Hautevolee, die sich in St. Moritz tummelte, schilderte der Ökonom Thorstein Veblen schon 1899 in seiner Theorie der feinen Leute als «demonstrativen Konsum» und «demonstrativen Müßiggang». Berry hatte bald genug von dieser – wie er fand – Scheinwelt. Er zog sich zurück in sein Freiluft-Atelier und malte überwiegend die noch unversehrte Landschaft.
Heute steht das Wohl der Natur wegen menschlicher Sorglosigkeit und der Erwärmung des Klimas auf der Kippe. Die wissenschaftlichen Daten für die üble Lage sind erhärtet. Wir verdrängen gut und leiten die nötigen Schritte zur Verbesserung nur zögerlich ein. Vorsätzliche Post-Faktiker, die um ihren überproportionalen Beitrag zur Erwärmung wissen, verhindern Linderung. Die privatistische Antwort darauf hiesse: Eremitentum. Das ist aber nicht jedermanns Sache. Manche ökologisch Bewegten leiden daher an Land Sickness, wie die neue Zivilisationskrankheit der dänische Soziologe Nikolaj Schultz nennt. Die Zeit schreibt: «Wenn das leibseelische Grundgefühl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nervosität war, so ist es heute die Landkrankheit: It never stops, sie ist permanent, sie steckt alles an.» Landkrank sind Menschen, die einerseits von einer lähmenden Ohnmacht heimgesucht werden, da die politischen Hauptakteurinnen und -akteure gegen die existenzielle Bedrohung des sich erwärmenden Klimas zu wenig unternehmen. Andererseits schränkt diese existenzielle Bedrohung auch den eigenen Aktionsradius ein, denn: Will man bei 40 Grad C im Schatten die – letztlich – unheilbringende Klimaanlage wirklich nicht einschalten? Wir stecken in der Sackgasse. Das Gefühl von Unfreiheit breitet sich aus. Wir sind landkrank, so sagen die Segler, wir torkeln, denn der Boden schwankt. Oder schwanken wir? Das Handeln wird blockiert, wie sich einst die Neurastheniker ihrer angeschlagenen Nerven wegen blockiert sahen.
Vorsicht geboten
Solchen Vergleichen wohnt viel Erklärungskraft inne. Es öffnen sich, wie Dürrenmatt sagen würde, «Möglichkeitsräume», da wir in einer Welt von Hypothesen leben. Aber es kann auch sein, dass diese Parallelsetzungen zu kurz greifen, präsentieren sich die historischen Zusammenhänge doch sehr facettenreich. Daher nochmals der dringende Hinweis bei Ullrich: mit Bedacht verwenden. Oder um es mit dem Historiker Zeev Sternhell zu sagen: «Man steigt nie zweimal in dasselbe Wasser des Flusses.» Aber manchmal fühlt es sich verflixt ähnlich an.