Warum eine Biografie über Peter Robert Berry (1864–1942) aktuell ist:
In den letzten Jahren wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Parallelen zwischen gewissen gegenwärtigen Tendenzen und Ereignissen mit jenen um die vorletzte Jahrhundertwende zu beobachten seien. Zentrales Argument hierbei ist: der damals hohe Grad an wirtschaftlicher Verflechtung und die vergleichbare gegenwärtige Globalisierung. Wirtschaftshistoriker sprechen von einer modernen Globalisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts, die bis etwa 1980 gedauert hat, nachher spricht man von einer Hyperglobalisierung. Mit der modernen Globalisierung verbunden war eine grosse Arbeitsmigration. Der Prozentsatz der damaligen ausländischen Bevölkerung in der Schweiz ist vergleichbar mit jenem zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Auch das sei eine Parallele. Auslöser dieser Entwicklung waren: Telegraf, Eisenbahn, Dampfschiff. Mit diesen drei technischen Neuerungen rückten in der Wahrnehmung die Orte räumlich, aber auch die Übermittlung von Informationen zeitlich nahe aneinander. Diese Innovationen hätten damals das Leben und den Alltag – so wie die Digitalisierung dies heutzutage tue – revolutioniert, was sich vor allem in einer Beschleunigung und Rastlosigkeit niedergeschlagen habe. Die Folgen seien unter anderem: «Neurasthenie» damals, «Burnout» oder «Fatigue» heute.
Eine weitere vergleichbare Zivilisationskrankheit hat sich in den 2020er-Jahren hinzugesellt: «Land Sickness», wie sie der dänische Soziologe Nikolaj Schultz nennt. Die Zeit schreibt zu Schultz: «Wenn das leibseelische Grundgefühl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nervosität war, so ist es heute die Landkrankheit: It never stops, sie ist permanent, sie steckt alles an.» Landkrank sind Menschen, die einerseits von einer lähmenden Ohnmacht heimgesucht werden, da die gesellschaftlichen Hauptakteurinnen und -akteure gegen die existenzielle Bedrohung des sich erwärmenden Klimas zu wenig unternehmen. Andererseits schränkt diese existenzielle Bedrohung auch den eigenen Aktionsradius ein, denn: Will man bei 40 Grad C im Schatten wirklich die – letztlich – unheilbringende Klimaanlage einschalten? Wir sind gefangen in einer fundamentalen Ausweglosigkeit, das Gefühl von Unfreiheit breitet sich aus. Der Boden unter den Füssen wird schief und die Erde schwankt. Oder schwanken wir? Wir sind landkrank, so sagen die Segler. Das Handeln wird blockiert, wie sich einst die Neurastheniker ihrer schwachen Nerven wegen blockiert sahen.
Weitere Parallelen sehen einige bei der Lebensreformbewegung, die mit der ökologischen Bewegung verglichen werden kann, ihre konservativen beziehungsweise progressiven Ausprägungen ebenfalls; die Tendenz zur Dekadenz der Belle Époque habe heute ein Spiegelbild im Hedonismus der Superreichen mit Superyachten gefunden. In unterschiedlichen Parallelwelten hätten die Menschen den Bezug zu einem gesamtgesellschaftlichen Verantwortungsgefühl verloren; gegenaufklärerische und antimaterialistische Ideologien hätten den Boden vorbereitet, auf dem rechtspopulistische und nationalistische Strömungen gedeihen konnten. Nationen würden wie vor dem Ersten Weltkrieg als Volksgemeinschaft definiert und nicht als Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen.
Solchen Zuschreibungen wohnt einiges an Erklärungsgehalt inne, es kann aber auch sein, dass Parallelisierungen zu kurz greifen, präsentieren sich die historischen Zusammenhänge doch meist sehr facettenreich. Der israelische Historiker Zeev Sternhell, der die intellektuellen Grundlagen des Faschismus erforschte, sieht die historische Entwicklung durch die zwei Pole Aufklärung und Gegenaufklärung angetrieben; also auch er ist auf der Suche nach strukturellen Gemeinsamkeiten in geschichtlichen Epochen. Aber er sagt sehr treffend: «Man steigt nie zweimal in dasselbe Wasser des Flusses.»
Die kreative Auseinandersetzung Berrys mit seiner Zeit scheint relevant zu sein, um jene Epoche besser verstehen zu können. Inwiefern Kenntnisse daraus für die Gegenwart gewonnen werden können, sei den Neugierigen überlassen.
Adrian Stokar: St. Moritzer Metamorphosen. Hier und Jetzt Verlag 2024, S. 15ff