Verschwindet der Mensch nun wirklich im Anthropozän?

Über die unfassbare Totalität der Natur
Im Grunde ist der Mensch ein ökologisches Wesen, sagt der Philosoph Timothy Morton in seinem Buch »Ökologisch sein«. Eine kurze Zusammenfassung.
Wandbild in Biel, jetzt wieder zugemauert.

Die Frage nach dem Anthropozän bringt uns zu einem Philosophen, der in Houston lehrt, und mit dem sich nicht nur die Fachkollegen auseinandersetzen, sondern der auch in Künstlerkreisen sehr beliebt ist. Nämlich zu Timothy Morton. Nicht nur Olafur Eliasson bezieht sich auf ihn, auch Julian Charrière erwähnt ihn in seiner Arbeit Future Fossil Spaces als Referenz. Bei diesem Werk von Charrière handelt es sich um Säulen aus Salzziegeln aus der größten Salzwüste der Welt, dem Salar de Uyuni in den bolivianischen Anden. Dort liegt rund ein Drittel der weltweiten Lithiumreserven, die vermutlich in den nächsten Jahrzehnten für die Herstellung von Batterien ausgebeutet werden. Das bolivianische Lithium ist hauptsächlich in Wasser mit einem hohen Salzgehalt zu finden, das sich unter einem oberirdischen Salzbett befindet. Dieses Wasser wird an die Oberfläche gepumpt und in große Becken gespült und gelagert. Diese Becken sind beispielsweise auch auf NASA-Aufnahmen der Erde zu erkennen, die an der XXII Triennale di Milano zum Thema Broken Nature 2019 gezeigt wurden.

Der Fotograf Edward Burtynsky hat ebenfalls solche Lithiumbecken, Lithium Mines #1, aus der Luft aufgenommen, jedoch in Chile. Mitten in der Wüste gelegen, sehen diese rechteckigen Becken wie aneinandergereihte Schwimmbäder aus. Eigentlich ideal, denkt man sich, um sich im kalten Nass abzukühlen. Es wäre aber eine sehr salzige Abkühlung. Je nachdem in welchem Verdunstungsstadium sich die Lithiumbäder befinden, unterscheiden sie sich farblich. Die Palette reicht von hellblau über gelb bis grün. Nach der Verdunstung bleibt Lithiumchlorid übrig, das anschließend in Form von Blöcken gestapelt und in Aufbereitungsanlagen abtransportiert wird. Dort wird das gewünschte Bor oder Magnesium ausgefiltert. Diese Salzblöcke hat Julian Charrière geschnitten, gestapelt und zu Säulen aufgeschichtet. Wenn man diese hellen Salzsäulen betrachtet, erinnert man sich an Tempel der griechischen Antike.

In Charrières Reihen Tropisme, Metamorphismen, Terminal Beach (Der Mensch verschwindet im Anthropozän) und eben in Future Fossil Spaces stehen Objekte im Mittelpunkt, die Timothy Morton als »Hyperobjekte« bezeichnen würde: Entitäten, deren zeitliche oder physische Ausdehnung sich unserem Verständnis und unserer Vorstellungskraft entziehen. In seinem jüngsten Buch Ökologisch sein Ref. differenziert Morton diese Hyperobjekte weiter aus. Um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen: Klimaerwärmung, Artensterben, radioaktiv verseuchte Gebiete. Wir Menschen, so Morton, sind geistig nicht in der Lage, die Natur als etwas Ganzes und Einheitliches zu erfassen, geschweige denn als etwas historisch Gewachsenes. Wir können je nach Brille, die wir aufsetzen, nur jeweils einen bestimmten Teil wahrnehmen. Die Wissenschaft hat einen bestimmten Blick auf diese Entität, ebenfalls die Religionen, die Wirtschaft, die Philosophie, die Kunst, die Politik etc. Wenn wir alle Teilansichten, so Morton, zusammennehmen, können wir dennoch nicht das Ganze erkennen, die Logik gehorcht nicht jener eines Puzzles. Das Ganze ist weniger als die Summe seiner Einzelteile. »Wir stellen… fest, dass wir Teile nicht auf das Ganze reduzieren können. Reduzieren meint hier nicht auf kleinere Teile herunterbrechen. Ein materielles Ganzes ist offensichtlich größer als seine Teile. Mit reduzieren ist gemeint, etwas im Hinblick auf eine Sache, die wir für realer halten, wegerklären.« Ref. Als Beispiel nennt er sinnigerweise seine Steuererklärung, die er zusammen mit seiner Frau einreicht. Zusammen bezahlen sie weniger, als wenn jeder einzeln berechnet würde. (Nebenbemerkung: In der Schweiz ist das Gegenteil der Fall.)

Ähnlich steht es mit der Wirklichkeit: Es ist unmöglich, die totale Realität als solche zu erkennen. Das Ehepaar Morton wäre also weniger als Herr und Frau Morton. Wir können zwar Gesetze formulieren, die dieses Phänomen oder jenes physikalische Faktum erklären oder beschreiben, es sind aber immer nur Ausschnitte aus einem Ganzen. Es gibt diese Wirklichkeit da draußen, wie das übrigens in den Nullerjahren auch die sogenannten »spekulativen Realisten« erläutert haben, aber was wir von ihr erkennen können, ist abhängig von unserem Geist, von unseren Vorstellungen und Berechnungen, wie etwas funktioniert, vom Wissen und nicht zuletzt von der Sprache. Insofern fordert Morton eine Art Wertschätzung oder eine Aufmerksamkeit des Menschen gegenüber dieser unfassbaren Totalität der Natur, denn wir gehören dazu, sind Teil von ihr. Wir müssen uns als wesentlichen Teil dieser Natur verstehen.

Ökologisch sein heißt nicht, sich wie im üblichen Sinne des Wortes umweltfreundlich zu verhalten, indem wir den Müll trennen, die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, nur noch Bioprodukte konsumieren etc., sondern uns als genuines Element der Natur zu begreifen. Auch Umweltverschmutzer und Dreckschleuderer sind ökologisch. Aber jede Schädigung an der Natur schädigt auch den Menschen. Den Beginn des Anthropozäns datiert Morton demzufolge nicht mit der Zündung der Atombombe (Zum 6. August 1945), macht sie also nicht an geowissenschaftlichen Kategorien (Vgl. auch Josef H. Reichholf zum Anthropozän) fest, sondern viel früher. Als vor ungefähr 12’000 Jahren die Menschen die nomadische Lebensweise weitgehend aufgaben und sesshaft wurden, begann laut Morton das neue Erdzeitalter. Dann, und hierfür sprächen ja auch die zoonotisch übertragenen Pandemien oder die Methanemissionen der Tiere, hat der Mensch mit der Nutztierhaltung und dem Ackerbau begonnen, eine Mauer zwischen sich und die Natur aufzubauen, hat begonnen, sich von der Natur abzugrenzen, hat begonnen, die Natur zu beherrschen und sie für ihn nutzbar zu machen. Hat sich der Mensch das biblische Dominium terrae aus der Genesis, »seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!« (Genesis 1,28), zu Herzen genommen. Seit dann dringt er in die Natur ein – und zerstört sie. Vorher war er noch Teil von ihr. Aber jetzt ist sie zu einem Objekt geworden, das nützlich sein kann (Subjekt und Objekt). Oder die Menschheitsgeschichte in Kürzestform zusammengefasst: »Wir haben es an Aufmerksamkeit fehlen lassen, und dieser Mangel an Aufmerksamkeit besteht schon seit 12’000 Jahren, seit dem Beginn der Landwirtschaft, die, um sich am Leben zu erhalten, industrielle Verfahren benötigte, was fossile Brennstoffe erforderte, woraus Erderwärmung und schließlich das Massenaussterben hervorgingen.«Ref. So gesehen erscheint der Mensch für kurze Zeit im Holozän und verschwindet, wenn er sich nicht dagegen wehrt, im Anthropozän. Jedes Erdzeitalter, so Morton, endet mit einem Massenaussterben.

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Ebd., S. 58

Ebd., S. 104

Virus

Timothy Morton, Ökologisch sein, Berlin, 2019

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)

Timothy Morton, Ökologisch sein, Berlin, 2019