Steiner & Schmid V: Eigenverantwortung? Eigenverantwortung!

Über einen viel gescholtenen Begriff
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Politiker lieben es, mit dem letzten Gassenhauer des Sonntagsliberalismus hausieren zu gehen. Auch in der Coronakrise können sie nicht davon lassen. Steiner & Schmid nähern sich dem Problem via der Ethik.
Wer betätigt den Schalter?

Steiner: Der Schwede sagt, dass die Bürger ein großes Vertrauen gegenüber dem Staat entgegenbringen.

Schmid: Ja, das mag sein. Aber er sagt auch solche Sachen wie Selbstverantwortung. Und das sagt unser Gesundheitsminister auch.

Steiner: Er spricht aber auch von Solidarität – und er muss Selbstverantwortung sagen, wenn er nur von Solidarität sprechen würde, nähmen ihm die Rechten die Botschaft nicht ab, und wenn er nur von Selbstverantwortung reden würde, nähmen es ihm die Linken nicht ab. Prost übrigens.

Schmid: Prost. Klingt doof mit diesen Büchsen.

Steiner: Immer noch besser als Skype.

Schmid: Stimmt. Du glaubst, er muss Selbstverantwortung sagen, meint aber Solidarität und umgekehrt.

Steiner: So ungefähr. Eigentlich hat er’s nicht korrekt gesagt, die Rechten sprechen lieber von Eigenverantwortung. 

Schmid: Was sie mit Eigenverantwortung meinen, kennen wir. Sie meinen Eigennutz. Der Minister müsste also an den Egoismus appellieren.

Steiner: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.« Johannes, glaub ich.

Schmid: Kapitel 8. Respekt. Deine Bibelkenntnisse sind beeindruckend. Aber jetzt mal ehrlich, mein lieber Steiner: Glaubst Du den Schwachsinn, den die Regierung erzählt?

Steiner: Schwachsinn? Ich glaube, ich glaube ihr so, wie sie es gemeint hat. Medienkonferenzen sind Werbeveranstaltungen. 

Schmid: Ein bisschen viel Glaube in Deinen Worten. Wissen wäre besser.

Steiner: Dürrenmatt sagte einmal sinngemäß, es gebe Leute des Glaubens und Leute des Wissens. Ich gestehe, diese Unterscheidung ist in dieser Situation etwas durcheinandergeraten.

Schmid: Wieso?

Steiner: Die Lage des Wissens ist prekär. Der Bund wusste praktisch nichts über das Virus und die Logik der Verbreitung. Die Regierung konnte im März nicht sagen, dass der Staat zu wenig medizinisches Schutzmaterial auf Lager hatte, dass die Medizin nicht ausreichte, dass man nicht einmal wusste, welche Medizin half, dass im schlechtesten Fall zu wenig Spitalbetten bereitstanden, dass wir Schutzmasken tragen müssten. Aber sie musste uns davon überzeugen, dass wir glauben, dass sie die Kontrolle hat und dass sie mit Hochdruck daran arbeitet, um die Defizite zu beheben und die Probleme zu lösen. Medienkonferenzen müssen Vertrauen schaffen und nicht Wahrheit verkünden.

Schmid: Amen. Aber Vertrauen durch Werbung? Ich weiß nicht, mein Lieber. Ich vertraue meiner Ärztin.

Steiner: Wie weißt Du, dass sie alles sagt, was sie weiß, oder sagt sie eben doch nicht nur das, was Du wissen musst?

Schmid: Natürlich müllt sie mich nicht mit all den Fachwörtern zu. Aber…

Steiner: Man nennt das dann vielleicht »Diagnose in leichter Sprache«.

Schmid: Blödmann.

Steiner: Ist doch so.

Schmid: Auf alle Fälle begründet sie ihre Entscheidungen.

Steiner: Wenn Du es noch mitbekommst.

Schmid: Wie meinst Du das?

Steiner: Nehmen wir Bergamo. Triage. Wir konnten es überall lesen und sehen. 

Schmid: Ja, Kriegsmedizin. Ich verstehe die Diskussion nicht. Jedes Leben gilt gleich viel. Steht doch in der Verfassung. Der Staat, also auch das Spitalpersonal darf ein Leben weder bewerten noch abwerten.

Steiner: Klingt schön. Das Bewerten und Berechnen ist das Feld der Gesundheitsökonomen. 

Schmid: Verschon mich mit denen. 

Steiner: Erlaubt aber einen anderen Blick auf die Sache.

Schmid. Na ja. Bleiben wir in der Praxis. Für den Arzt gibt es keine staatlichen Vorgaben zur Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken. Außer dem Gleichheitsprinzip. Alle genießen das gleiche Recht und den gleichen Schutz. Einverstanden?

Steiner: Ja, theoretisch. Aber nehmen wir jetzt den Intensivarzt in Bergamo…

Schmid: Warte, mein Lieber. Stellen wir uns vor, was ein Arzt grundsätzlich tun muss: er schätzt die Überlebenschancen eines Patienten in einer akuten Krisensituation ein (Gebrechlichkeitsskala). Er beurteilt den Gesundheitszustand, die Schwere der Krankheit, die Heilungschancen. Und dann hat er zu entscheiden, welche sinnvollen Maßnahmen zu treffen sind. Ich nehme an, hierfür kann er auf konkrete Regeln und Handlungsanleitungen seines Berufsverbandes zurückgreifen.

Steiner: Meinetwegen. Aber nochmals nach Bergamo. Es gibt drei mögliche Szenarien. Erster Fall: In der Intensivstation sind noch zwei Plätze zu vergeben, der Notfallarzt sagt dem Intensivarzt, er habe fünf Patienten, die an die Geräte müssen. Was macht der Intensivarzt?

Schmid: Ich habe kürzlich nachgeschaut, was der Deutsche Ethikrat sagt. Die Auswahl muss nach wohlüberlegten, begründeten, transparenten und einheitlich angewandten Maßstäben erfolgen. Alter, Status, Herkunft etc. haben also nichts zu suchen. Wie schon vorher gesagt. Ob dort Maurer, Berset, Keller-Suter, Federer, Rigozzi, Steiner oder Schmid liegen, spielt keine Rolle.

Steiner: Also rein medizinische Kriterien.

Schmid: Genau. Theoretisch. 

Steiner: In der Praxis wären es aber Steiner und Schmid.

Schmid: Genau. In einem Interview mit einem Ethiker habe ich gelesen, dass die Ärzte eine Intensivbehandlung ablehnen sollen, wenn der Sterbeprozess bereits begonnen hat, keine Besserung in Aussicht steht oder der Aufenthalt in der Intensivstation von zu langer Dauer sein wird. Es entscheiden rein medizinische Kriterien, bei denen die klinische Erfolgsaussicht im Mittelpunkt steht.

Steiner: Interessant. Wie weiß er, wie lange eine Behandlung dauert?

Schmid: Mit Prognose, wie denn sonst. Mehr hat er nicht. Wir leben im Prognosezeitalter (Kathrin Röggla).

Steiner: Zurück zum Fall. Wem wird geholfen: Wer die höheren Überlebenschancen hat oder wer die Maßnahmen dringender benötigt?

Schmid: Die Erfolgsaussicht kommt zuerst. Aber wer sagt ihm, ob beim »leichteren« Fall nicht auch Komplikationen auftreten können? Verhält sich das SARS-CoV-2 so, wie man es erwartet? Auch hier stehen wir vor der Situation, dass der Arzt nicht weiß, was geschehen wird. Er muss aber einschätzen, wie er Todesfälle verhindern kann. Und, mein Lieber, es gilt das Mehraugenprinzip. Andere Kollegen entscheiden mit.

Steiner: Okay. Zweiter Fall: Alle Intensivplätze sind besetzt. Bei einem der Behandelten stehen die Chancen nicht so gut. Und jetzt wird Federer herangerollt.

Schmid: Es ist unzulässig, einen Patienten, auch wenn seine Überlebenschancen klein sind, von den Geräten abzuhängen, man ging ja davon aus, dass er überleben könnte. Und solange er das kann, darf er nicht abgehängt werden. Außer natürlich der Sterbeprozess hat begonnen oder der Zustand ist hoffnungslos oder eine entsprechende Patientenverfügung liegt vor. Auch wenn Federer in mancherlei Hinsicht, wie soll ich sagen, wertvoller sein mag, gibt’s keine Ausnahme.

Steiner: Ich wusste schon immer, dass Du kein Tennisfan bist.

Schmid: Fürwahr nicht, du Idiot. Tennis ist ein Bonzensport. Federer soll doch mit seinem Privatjet in ein Privatspital in Dubai fliegen.

Steiner: Und wenn die Patientin schwanger ist.

Schmid: Ändert nichts. Sie muss warten. Berechnungen von Lebensjahren und Bewertungen von Leben sind doof. Auch von ungeborenem Leben. Ich glaube nicht, dass das aktive Beenden einer notwendigen Behandlung, bei der es Aussicht auf Erfolg gibt, zur Rettung eines anderen zulässig ist.  

Steiner: Dritter Fall: Die problematischen Erkrankungen nehmen langsam ab. In der Intensivstation gibt es ein freies Bett. Jetzt kommt ein schwieriger Fall. Der Patient hat geringe Überlebenschancen. Darf der Arzt sagen, wir behalten das Bett frei, weil vielleicht am selben Tag noch ein anderer Patient kommt, der gute Chancen hat?

Schmid: Eigentlich müsste die Antwort klar sein. Oder? Aber ich gebe zu, das ist eine heikle Entscheidung. Was ist, wenn kein anderer Patient eingewiesen wird und der Abgewiesene stirbt? 

Steiner: Gut. Es stehen zwei Fälle gleichzeitig vor der Tür: eine junge, schwangere Frau und ein Mann in mittleren Jahren. Was sagt der Intensivarzt?

Schmid: Eine knifflige Ausgangslage. Der Arzt muss nach medizinischen Kriterien beurteilen, wer dringender eine Behandlung braucht und bei wem die Erfolgsaussichten besser stehen. Wenn die medizinische Lage wirklich genau gleich ist, tendiere ich für die junge Frau.

Steiner: Also doch.

Schmid: Was soll das wieder heißen?

Steiner: Es findet eine Bewertung statt. 

Schmid: Meinetwegen.

Steiner: Glaubst Du wirklich, in England hätten die Verantwortlichen Boris Johnson darben lassen, wenn kein Beatmungsgerät zur Verfügung gestanden hätte?

Schmid: Im schlimmsten Fall müsste am Schluss Johnson damit klarkommen, dass er nur überlebt hat, weil jemand anderer gestorben ist. Die Sterbezahlen in den USA wären nicht so hoch, wenn alle Patienten jene Behandlung bekommen hätten, die Trump erhalten hat. 

Steiner: Aber weißt Du was?

Schmid: Nein.

Steiner: Irgendwie haben wir doch auch die Frage der Eigenverantwortung und Solidarität gestreift?

Schmid: Hä?

Steiner: Das ist doch ein schönes Beispiel. Der ideale Modellintensivmediziner muss beides gleichzeitig tun, er muss individuell und gesellschaftlich handeln. Irgendwie dialektisch eben. 

Schmid: Solidarische Eigenverantwortung oder eigenverantwortliche Solidarität? 

Steiner: Irgendwie.

Schmid: Mein Lieber, ich weiß nicht, ob Du das in dieser Art und Weise aufdröseln kannst. Vielleicht trägt er eine kollektive Verantwortung.

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Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)