Immer wieder Schweden

Ein Drama in drei Akten
Schweden versuchte den Weg der Herdenimmunität zu gehen. Man nannte es das Schwedenmodell – ein Begriff mit einer langen Tradition. Der Versuch ist misslungen.
Schwedenflagge in steifem Wind

4. April 2020

Das Schwedenmodell I

Die nordischen Länder Europas sind von der Pandemie (noch?) nicht so stark betroffen wie Mittel- und Südeuropa. Dänemark mit etwas über 91, Norwegen und Finnland mit plusminus 45 und Island mit knapp 30 Todesfällen pro eine Million Einwohner (für Island notabene hochgerechnet) verfolgen eine ähnliche Eindämmungspolitik wie mitteleuropäische Länder. Einzig in Schweden wurde eine weniger strenge Stillstandpolitik ausgerufen. Man versuchte, der Wirtschaft, so gut es ging, weniger Einschränkungen zu gewähren, die Gastronomiebetriebe beispielsweise blieben geöffnet, sofern Social-Distancing-Regeln befolgt wurden. Den Leuten wurde nicht generell auferlegt, zuhause zu bleiben. Allgemein versuchte die Regierung, den Menschen so wenig wie möglich zu verbieten, sondern sie mit Empfehlungen dazu zu ermuntern, sich vernünftig zu verhalten.

Es ist zwar noch etwas früh, um Bilanz dieser Strategie zu ziehen, aber vieles deutet darauf hin, dass sich in Schweden die ökonomischen Auswirkungen in ähnlichem Maße zeigen werden, wie im übrigen Europa. Daniel Binswanger schreibt in der Republik, dass die Schwedische Zentralbank mit einem Einbruch der Wirtschaft von 6,9 bis 9,7 Prozent rechnet und er zitiert die FT: »Der behauptete Trade-off zwischen Maßnahmen gegen das Virus und wirtschaftlicher Gesundheit ist, jedenfalls in mittlerer Frist, eine Illusion.« Auch der IWF rechnet mit einem Einbruch des BIP von 6,8 Prozent. Der Hauptgrund ist simpel: Schwedens Wirtschaft ist mit dem Rest der Welt eng verflochten. Aber auch das Binnengewerbe inklusive der Gastronomie hat gelitten und die Arbeitslosenzahlen dürften laut der Notenbank im schlechtesten Fall auf über 10 Prozent steigen. Und zu welchem Preis?, fragt Binswanger und er begegnet den Vergleichen jener wirtschaftlich argumentierender Politiker und Experten, die Schweden stets als eine Art gelungene ökonomische Antwort auf die Pandemie hochhielten, mit ökonomischen Fakten. Hinsichtlich der Ausbreitung des Virus steht Schweden nicht sehr gut da, dieses Risiko wurde bewusst eingegangen, da man eine möglichst hohe Immunitätsrate erreichen will, um besser auf weitere Wellen vorbereitet zu sein. Gegenüber seinen nördlichen Nachbarn ist aber auch ein Vielfaches an Todesfällen zu beklagen, nämlich bis dato 319 pro eine Million Einwohner, Tendenz nicht fallend (zum Vergleich: die Schweiz zählt bis zum 4. April 2020 211, die USA 244 Opfer). Vor allem in den Pflege- und Altersheimen war die Kontrolle über das Epidemiegeschehen zum Teil entglitten.

Interessant oder schon fast erheiternd ist überdies die Tatsache, dass das von der hiesigen rechtsbürgerlichen Intelligenzija propagierte Pandemie-Vorbild Schweden lange als das Eldorado (sozialliberaler) wohlfahrtstaatlicher Phantasien gegolten hat, man nannte dies das Schwedenmodell. Das Land verfolgte mit einigem Geschick und Erfolg eine vorsorgende Sozialstaatlichkeit (in einem gewissen Sinne eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft). Eine ökonomisch zufrieden stellende Leistung, eine geringe Armutsquote, eine geringe Arbeitslosigkeit, eine geringe Korruption und ein überdurchschnittliches Vertrauen in die Regierung sind Kennzeichen für dieses Modell. Hinzu kommen die überdurchschnittlichen Ausgaben für Sozialleistungen, Bildung, Kinderbetreuung und einen fortschrittlichen Vaterschaftsurlaub. Erkauft wird dies mit einer höheren Staatsquote gemessen am Bruttosozialprodukt als in anderen Ländern. In der Vergangenheit wurde das Schwedenmodell stets von jenen zitiert, die sich für höhere wohlfahrtsstaatliche Leistungen und für mehr Gendergerechtigkeit aussprachen, da die Wirtschaftsleistung nicht sonderlich darunter zu leiden schien. Also von Sozialdemokraten und Grünen. Das Modell hat in der Zwischenzeit etwas an Attraktivität verloren und wurde unter dem Einfluss bürgerlicher Politik in den letzten Jahren modifiziert, die Staatsquote fiel auf knapp unter fünfzig Prozent (in den 1990er Jahren betrug es noch über sechzig Prozent). Aber eigentlich stellt das Schwedenmodell nach wie vor ein Schreckensszenario für jene stramm bürgerlich Gesinnten dar, die in der Schweiz für die schnelle Öffnung plädieren. Verkehrte Welten.

Man muss sich sehr genau überlegen, mit welchen Vorbildern man hausieren geht. Hierzu nur dies: die schwedische Strategie basiert auf der an sich begrüssenswerten These, dass die Bürger dank des Vertrauens, das sie gegenüber dem Staat aufbringen, die vorgeschlagenen Maßnahmen wie beispielsweise das Social Distancing und das Homeoffice eigenverantwortlich (noch so ein delikater Begriff) umsetzen. Die nationalkonservative Rechte in der Schweiz hat in den letzten dreißig Jahren jedoch nichts unversucht gelassen, um staatliche Institutionen und Leistungen schlecht zu reden und in Zweifel zu ziehen. Sie bringen den meisten staatlichen Stellen keinerlei Vertrauen entgegen.

5. April 2020

Das Schwedenmodell II

Anders Tegnell, der verantwortliche Epidemiologe für die eingeschlagene Coronastrategie in Schweden, kommt in der FT zu Wort. Er glaubt, dass bis Ende Mai 2020 vierzig Prozent der Bewohner von Stockholm immun gegen das SARS-CoV-2 sein werden. Damit seien sie gut für die zweite Welle im Herbst vorbereitet und die Fallzahlen würden dannzumal tiefer bleiben. Müsse dagegen zum Beispiel Finnland dann nochmals durch einen kompletten Lockdown gehen?, fragt sich Tegnell. Das wäre verheerend. Die getroffenen Maßnahmen in Schweden beschränken sich auf die freiwillige Einhaltung der Social-Distancing-Regeln, die breite Nutzung des Homeoffice, der Schließung weiterführender Schulen (ab dem 16. Altersjahr) und Universitäten sowie dem Verbot von Zusammenkünften und Veranstaltungen von mehr als fünfzig Personen. Tegnell sagt, es gehe etwa ein bis zwei Jahre, bis man beurteilen könne, welche Strategie besser gewirkt und weniger soziale Kosten verursacht habe. Aber er glaubt, es sei besser, wenn die Leute ein einigermaßen normales Leben führen können.

Tegnell ist sehr populär und sein Konterfei ein beliebtes Sujet zahlreicher Tatoos. Seine Popularität findet er aber eher absurd. Tegnells Argumentation gründet auf der Feststellung, dass man über zu wenig wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse verfüge, um einen Lockdown oder zum Beispiel Schulschließungen zu verordnen (Best of Berset). Kinder seien vermutlich keine Treiber. Tegnell glaubt, viele europäische Länder seien mit einem mangelhaften Gesundheitssystem ausgestattet und man befürchte, dass die Versorgung kollabiere, wenn zu viele Infizierte behandelt werden müssen. Deshalb habe man vielerorts die chinesische Variante des Lockdowns verfügt. Mathematische Modelle hätten errechnet, dass ungefähr ein Viertel der Stockholmer das Virus Anfang Mai schon gehabt hätten. Deshalb seien die Infektionszahlen in der Hauptstadt kürzlich zurückgegangen. In Oslo dagegen habe lediglich zwei Prozent der Einwohner das Virus schon gehabt. Der Epidemiologe räumt ein, er wisse nicht, wie lange der Schutz halte und eine Herdenimmunität von achtzig Prozent werde nicht erreichbar sein, auch in Schweden nicht. Deswegen müsse man weiterhin mit dem Virus leben. Tegnells Kalkül gründet zudem auf der Befürchtung, dass ein Impfstoff noch lange auf sich warten lassen werde, das könne noch Jahre dauern. »Es ist ein großer Fehler, sich hinzusetzen und zu sagen: ‘Wir sollten auf einen Impfstoff warten’…Und am Ende wissen wir nicht, wie gut der Impfstoff sein wird. Das ist ein weiterer Grund, eine nachhaltige Politik zu verfolgen.«

18. Mai 2020

Zitat zum Schwedenmodell

Im TA vergleichen die Autoren Andreas Moor und Patrick Vögeli die Entwicklung in Schweden mit jener der Schweiz. Dies auch, da unter anderem die Covid-Task Force des Bundes eine Untersuchung veröffentlicht hat, die besagt, dass der schwedische Weg das Ziel einer Herdenimmunität bei gleichzeitig kaum abnehmender Wirtschaftskraft verfehlt hat. Jüngst hat sich auch Anders Tegnell in der BBC selbstkritisch geäußert. Dort sagt er: »Die Zahl der Todesfälle hat sich nicht gut entwickelt. Dies liegt zu einem kleinen Teil an unserer Strategie, ist aber hauptsächlich dadurch begründet, dass die Altersheime sich nicht gegen das Virus wehren konnten.«

Die Hoffnung, dass die Immunisierung einen höheren Wert als anderswo erreicht, ist nicht erfüllt worden. Die schwedische Gesundheitsbehörde hat für Stockholm nachgewiesen, dass 7,3 Prozent der Einwohner Antikörper gebildet haben. Auch für Tegnell liegt dieser »Wert etwas niedriger, als wir dachten«. Man erinnere sich an seine Aussage in der FT, dass bis Ende April ein Viertel der Stockholmer Antikörper hätte gebildet haben sollen.

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Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)