Herdentrieb

Epidemiologen als Herdentreiber

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Die Gesundheitsdirektorin des Kantons Zürich Nathalie Rickli, die in dieser Krise bis jetzt nicht besonders negativ aufgefallen wäre, irritiert mit einer fragwürdigen Aussage.
Die Herde sucht Schutz

Die Gesundheitsdirektorin des Kantons Zürich Nathalie Rickli, die in dieser Krise bis jetzt nicht besonders negativ aufgefallen wäre, irritiert mit der Aussage, dass »das mir besonders wichtig (ist): Die Wissenschaftler und insbesondere die Epidemiologen haben bei dieser Pandemie die Politik und die Medien ziemlich lange regelrecht vor sich hergetrieben, ohne wirklich je Verantwortung übernehmen zu müssen« Koch . Das Zitat steht im Zusammenhang zu Fragen eines noch zu bildenden Expertengremiums im Kanton Zürich. Die Behauptung bleibt ohne Belege.

Weil.

Zu Erinnerung: Als die strengeren Maßnahmen am 16. März ergriffen wurden, hatte sich das Virus in Italien schon stark ausgebreitet (bis 16. März: 27’980 Infizierte, 2158 Todesfälle). Das Tessin grenzt an die Lombardei, jener Region, die am härtesten getroffen wurde (bis 16. März: 16’220 Infizierte, 1640 Todesfälle bei 10,7 Millionen Einwohnern) Zahlen . Die Entwicklung der Fallzahlen verlief anfangs hierzulande – leicht zeitverschoben – gleich wie in Italien. Experten haben deshalb aufgrund von weltweit anerkannten Verfahren (SEIR-Modell) errechnet und modelliert, wie die Ausbreitung unter Berücksichtigung verschiedener Maßnahmen verlaufen könnte (man muss berücksichtigen, dass Modelle immer mit Annahmen operieren und nicht mit Prognosen zu verwechseln sind). Sie sind zum Schluss gekommen, dass ohne Maßnahmen bis Mitte Mai 100’000 Menschen hätten erkrankt sein können. Bei einer angenommenen Hospitalisationsrate von 10 Prozent hätten 10’000 Betten zur Verfügung stehen müssen. Wie viele Intensivbetten mit Beatmungsgeräten es hätten sein müssen, ist nicht eindeutig eruierbar. In der chinesischen Region Hubei waren es 26 Prozent aller Akutbetten. Die Schweiz verfügt über ungefähr 1000 Intensivbetten, die mit Beatmungsgeräten ausgestattet werden können. Diese Anzahl könnte noch aufgestockt werden Betten . Aufgrund dieser Berechnungen hat die Regierung reagiert. Ziel der getroffenen Maßnahmen war, einem positiveren Szenario zu folgen, dem bekannt gewordenen »flatten the curve« oder der Eindämmung, also die zu behandelnden Patienten auf der Zeitachse ausgeglichener zu verteilen. Bis jetzt sind gemäß BAG zirka 30’000 Fälle registriert worden, insgesamt mussten in den letzten drei Monaten zirka 3200 Personen hospitalisiert werden, Tages-Spitzenwerte waren Ende März mit über 2300 Patienten zu verzeichnen, bei Intensivbetten lagen diese in den ersten Aprilwochen bei knapp 400 Hospitalisierungen . Jeder Todesfall ist einer zu viel, dennoch ist die Strategie der Regierung bis jetzt einigermaßen aufgegangen. Die Fallzahlen und die Zahl der Hospitalisationen konnten erheblich gedrückt werden. Die Maßnahmen wurden weitgehend befolgt Präventionsparadox .

Kommentar

Dass da irgendein Epidemiologe mit knallender Peitsche den Bundesrat vor sich hergetrieben haben soll, ist nicht zu erkennen. Dass Wissenschaftler keine politische Verantwortung übernehmen, liegt in der Natur der Sache, sie sind eben Expertinnen und keine gewählten Politiker. Man stelle sich vor, was Rickli sagen würde, wenn die Fachleute auch die politische Verantwortung übernommen hätten. Das Elitenbashing der Regierungsrätin ist unsouverän. Und dass die Medien munter mitgespielt hätten, erinnert an Argumentationsmuster politischer Kreise, die lauthals über Mainstream- und Staatsmedien klagen. Ricklis Aussage entbehrt jeglicher Grundlage. Erstaunlich für eine Politikerin, die sich täglich mit dem Thema befasst, sich darüber informiert und sich damit auseinandersetzt. Es entsteht der Verdacht, dass sie nicht willens ist, dem epidemiologischen Fachwissen zu vertrauen. Oder dass sie Mühe bekundet, eine unerwünschte, aber möglich werdende Wirklichkeit zu akzeptieren. Nach dem Motto: Was nicht sein darf, darf nicht sein. Offenbar ist es schwierig, vom Allgemeinen her das Besondere verstehen zu wollen.

Vielleicht kann Rickli nicht nachvollziehen, dass das Unwahrscheinliche wirklich werden kann, wie das Friedrich Dürrenmatt einmal ausdrückte, als er sich über das Theater Gedanken machte. Seiner Meinung nach läuft der Weg, das Wirkliche zu verstehen, in die andere Richtung: Der Einzelfall muss mit der allgemeinen Erwartung konfrontiert werden, und eben deshalb kann das Unwahrscheinliche oder eben auch das Undenkbare real werden. Dialektisch gewendet, ginge es darum, konkrete Ereignisse in übergeordnete, theoretische Betrachtungen zu integrieren. Das sind zuweilen schmerzhafte Prozesse, erlauben jedoch Erkenntnisgewinn. Erst wenn die einzelnen Fakten in einem Ganzen aufgehoben sind (was nicht zwingend widerspruchsfrei geschehen muss), erhalten sie ihre volle Bedeutung. Sherlock Holmes kann das Verbrechen in Silberstrahl erst dann lösen, als er versteht, warum der Wachhund nicht gebellt hat, obwohl der Täter ins Gebäude eingebrochen ist (Vgl. Sherlock Holmes und die Laborthese). Dieses wichtige Puzzleteil, das die Polizei geflissentlich übersieht, erlaubt ihm, die Aufklärung des Falles vorzulegen. In der wasserdicht bewiesenen Theorie, stören keine unerklärbaren Details das Gesamtbild. Die Integration wirklicher Ereignisse zieht Anpassungen in der Theoriebildung nach sich. Im Coronafall, in dem die allgemeine Ungewissheit zur Zeit enorm ist, dürfte diese Methode vorteilhaft sein. Das Verhalten des Virus muss zuerst am konkreten Fall erforscht werden und kann nicht von einer fixen Vorstellung beziehungsweise einer starren Theorie abgeleitet werden. Erst über die Anerkennung eines Nicht-Sein-Dürfens gelangt die Forschung zu einem neuen und vorläufigen Sein-Können (bei Holmes: Sein-Müssen).

Oder vielleicht denkt Rickli auch: Wissenschaftler verfolgen eine eigene Agenda und lassen sich von ihren eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen leiten.

Nachtrag

Dass die beiden NZZ-Redaktoren nicht nachgehakt haben, worauf Nathalie Rickli diese Aussage stütze und wie sie reagieren würde, käme ein zweite Welle, ist ein journalistische Unterlassung. Man sollte nicht jede Behauptung im Raume stehen lassen, erst recht nicht, wenn sie von einer gewählten Regierungsvertreterin geäußert wird.

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Präventionsparadox

In der Schweiz, Österreich und Deutschland blieb die Lage weitgehend unter Kontrolle. Die Krankenhäuser waren nicht überfordert. Ein Teil der Gesellschaft interpretiert das so, dass die Maßnahmen übertrieben waren, denn die Katastrophe sei ausgeblieben. Die Folge davon ist: Die Motivation und die eingegangene Verpflichtung, die Vorschriften weiter zu befolgen, sinken; die Einsicht, dass die Geschäfte und der Gastrobereich geschlossen bleiben sollen, schwindet; und wieso das öffentliche Leben eingeschränkt bleiben soll, sieht auch keiner mehr ein. Es tritt eine gewisse Müdigkeit ein. Das nennt man das Präventionsparadox, es lautet: »Wenn man Maßnahmen ergreift, um ein Übel abzuwenden, und diese sich dann als geeignet erweisen, weil das Übel ausbleibt, erweckt dies den Anschein, die gewählten Mittel seien unnötig oder übertrieben gewesen.« (WoZ, 5. Mai 2020) Man lässt also die Zügel schleifen, weil ja alles gut gegangen ist und die Verordnungen als übertrieben erachtet werden. Also kann man die Maßnahmen lockern. Logisch. Oder? Allerdings ignoriert man die wesentliche Passage des Paradoxes: »… und diese sich dann als geeignet erweisen«

(® 23. April, Aufheiterung mit Hazel Brugger).

Daten zur Hospitalisierung

Entsprechende Links von

Was auch geschah: Bis Ende April 2020 standen insgesamt 1600 Betten zur Verfügung.

7. Mai 2020: Italien: 215’858 Infizierte, 29’958 Todesfälle; Lombardei: 81’507 Infizierte, 14’986 Todesfälle. Quelle: BAG

Natalie Rickli in der NZZ vom 7. Mai.2020. Bemerkung: Dass die Epidemiologen den zuständigen Beamten vom BAG Daniel Koch vor sich hergetrieben haben sollen, kann man sich nur sehr schwer vorstellen (Siehe hierzu vor allem auch: Berichte aus dem Quarantän: Wissenschaft im Dienst der Gesundheit).
Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)