Volker Thiel über die dritte Welle

Interviewpassagen mit Volker Thiel, Professor für Virologie und Immunologie an der Universität Bern
Icon Wissenschaft
Icon Zum Gang der Pandemie

Diesen Artikel teilen auf:

»Wir Menschen vergessen ja leider sehr schnell. Ich kann mir vorstellen, dass nach einer gewissen Zeit die Angst vor einer neuen Pandemie wieder sinken wird«, sagt Volker Thiel im TA vom 24. Februar 2021. Zum Stand des Wissens im Winter 2021.
Der Fels in der Brandung – oder ein natürlicher Wellenbrecher (ETH-Bibliothek Zürich, Comet Photo AG)

TA: »Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?«

»… (Bezugnehmend auf den Marathonvergleich von Bundesrat Berset) Ich glaube, wir sind im Moment etwa bei Kilometer 30… Die letzten Kilometer sind bei einem Marathon aber bekanntlich die härtesten… Ich bin mir leider ziemlich sicher, dass wir noch den einen oder anderen Rückschlag erleben werden… Ich befürchte, die dritte Welle wird auf jeden Fall kommen… Die Frage ist, wie heftig sie ausfallen wird (und) wie die Maßnahmen sein müssen, um weitere Hospitalisierungen und Todesfälle zu vermeiden…«

TA: »In Ländern wie Großbritannien und Irland, wo die Mutationen das Infektionsgeschehen bereits dominieren, sinken die Zahlen aber. Wie ist das erklärbar?«

»Die Maßnahmen dort sind heute sehr streng… Es ist nicht so, dass diese Länder ihre Infektionszahlen einfach so mit links runtergebracht haben. Positiv gedacht, heißt das aber auch, dass die neuen Virusvarianten mit strikten Maßnahmen in den Griff zu kriegen sind… (Dank der Impfungen dürften die Hospitalisierungen abnehmen) Man darf aber nicht den Denkfehler machen und glauben, dass Leute, die offiziell keiner Risikogruppe angehören, gar keine Gefährdung haben. Viele Menschen haben dennoch einen Risikofaktor, ohne es zu wissen… Ich denke, die nächsten Monate werden ein Balanceakt sein…«

TA: »Sind die Mutationen typisch?«

»Ja. Zu wie vielen Mutationen (Über Mutanten) es kommt, hängt vom weltweiten Virusgeschehen ab… Da es in den letzten Monaten in einigen Ländern zu sehr vielen Infektionen kam, gab es auch entsprechend viele Mutationen. Theoretisch kann mit jeder neuen Infektion auch eine neue Mutation entstehen…«

TA: »Könnte es auch sein, dass das Virus zu einer weniger übertragbaren Variante mutiert?«

»Klar, solche Varianten gibt es auch. Es sind sogar die meisten Varianten, die neu entstehen, weniger übertragbar. Allerdings setzen sich diese in der Folge nicht durch. Nur das Virus, das sich gut verbreiten kann, überlebt langfristig… Im letzten Jahr gab es die D614G-Variante. Da wurde eine Änderung im Spike-Protein festgestellt, also an der Außenfläche des Virus. Durch diese Mutation konnte das Virus besser an unsere Zelle binden und ließ sich in der Folge auch besser übertragen. Bei der neuen Variante aus Großbritannien (Emma Hodcroft über Mutationen)vermutet man eine ähnliche Wirkung… Sowohl bei der südafrikanischen als auch der brasilianischen Variante geht man davon aus, dass in der dortigen Bevölkerung – zumindest lokal – bereits eine weitgehende Durchseuchung mit der ursprünglichen Virusvariante stattfand. Wenn bereits über 50 Prozent der Leute sich infiziert haben, hat das Virus nicht mehr so leichtes Spiel. Also mutiert es weiter und weiter, bis es eine Eigenschaft entwickelt hat, um die Antikörper-Antwort zu umgehen… Bei der südafrikanischen Variante zeigen Studien, dass die Antikörper-Antwort vier- bis sechsfach reduziert ist. Das heiß aber nicht, dass die verbleibende Antikörper-Antwort nicht ausreicht. Sie ist zwar abgeschwächt, kann aber dennoch vor einem schweren Krankheitsverlauf schützen. Zudem haben wir noch eine sogenannte T-Zell-Antwort, die auch hilft… (Dass sich das SARS-CoV-2 abschwächt) ist ein realistisches Szenario. Das dürfte aber weniger daran liegen, dass das Virus sich abschwächt, sondern daran, dass wir als Population eine Immunität aufbauen… Die gute Nachricht ist, dass eine solche Immunisierung auch mit einer Impfung aufgebaut werden kann. Wenn sich ein Großteil der Bevölkerung sich impfen lässt, kann sich das Virus nur noch in der Bevölkerungsgruppe ausbreiten, die keinen Immunschutz hat…«

TA: »Glauben Sie, wir werden die notwendigen Lehren aus dieser Krise ziehen?«

»Wir Menschen vergessen ja leider sehr schnell. Ich kann mir vorstellen, dass nach einer gewissen Zeit die Angst vor einer neuen Pandemie wieder sinken wird… Es braucht viel Zeit und Ressourcen, um entsprechende Notfallpläne zu machen. Hinzu kommt, dass es die perfekte Vorbereitung nie geben wird. Ich hoffe aber, dass wir dennoch einige Lehren aus dieser Krise ziehen werden…«

TA fragt nach dem neuen Forschungszentrum in Bern.

»Wir erstellen gerade ein detailliertes Konzept. Die Idee ist, dass wir mit unserer Forschung die Voraussetzungen für eine bessere Vorbereitung schaffen. Das gilt nicht nur in Bezug auf die medizinische Forschung, sondern auch auf soziale und ökonomische Aspekte. Die letzten Monate haben gezeigt, dass diese Faktoren in einer Pandemie eine ebenso große Rolle spielen…«

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Virus

Der Pandemieplan Schweiz, in der aktuellen Fassung der Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, ist ein Planungsinstrument, das Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung der Schweiz auf eine (Influenza-)Pandemie dokumentiert. Er wird von der Eidgenössischen Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegeben.

Der erste Pandemieplan für die Schweiz wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert Steffen ausgearbeitet. Die Vorarbeiten wurden 1995 begonnen; der erste schweizerische Influenza-Pandemieplan wurde im Jahr 2004 veröffentlicht. Ein zentrales Anliegen sei laut Steffen dabei gewesen, dem Bund die Führung zu überlassen.

Nach den Erfahrungen in der Bewältigung der Influenza-Pandemie 2009 wurde der Schweizer Pandemieplan vollständig revidiert.

Kristian G. Andersen et al, The proximal origin of SARS-CoV-2, 

(abgerufen am 2.5.2020)